"Wie lange wollt ihr noch hier Staub ansetzen?", murrte Vanessa und klappte mit einer flinken Handbewegung ihren Spiegel auf, um ihr Gesicht zum hundertsten Mal zu prüfen, "Immer, wenn wir mal ein bisschen Freizeit haben und Mutter uns nicht mit den Studien hinterherläuft, verkriecht ihr euch in die Bibliothek und durchforstet die Bücherregale. Wann seht ihr endlich ein, dass die Bücher aufgehört haben sich zu schreiben? Mari ist tot. Sie kommt nicht wieder zurück."
"Ich glaube nicht daran. Ich will nicht daran glauben", Saphira schob ein dickes in brüchiges Leder gebundenes Buch von sich weg und stützte das Kinn schwer in ihre Hände, "Du hast es doch auch gesehen. Ihr Grab war leer. Der Stein zerbrochen."
"Vermutlich hat irgendein Landstreicher gedacht, dass dort drin Schmuck oder anderes zu finden sei, den er zu Geld machen kann", Vanessa zwinkerte ihrem eigenen Spiegelbild zu und ließ die kleine Puderdose wieder zuschnappen.
Celles näherte sich mit einem neuen Stapel Bücher im Arm. Eines älter als das andere und die Einbände in den Farben der Regale.
Die sogenannte unendliche Bibliothek. Groß und kühl. Die Regale alle aus Stein erbaut. Marmor, Granit, doch auch Steinsorten, die man für gewöhnlich nur eingefasst als Schmuckstücke oder als Beiwerk magischer Zauber kennt wie Obsidian, Rosenquarz, Aventurin. Ladira hatte ihnen den Zutritt gewährt, als ihre Töchter sie anflehten dort studieren zu dürfen.
Zwischen den unzähligen Regalen fanden sich immer wieder kleine gemütliche Sitzgelegenheiten. Kissen, die um runde Steintische verteilt lagen. Woher das sanfte Licht kam, das die Bibliothek erhellte, wussten sie nicht. Saphira war sich sicher, dass es mit den Kristallen an der Decke zu tun haben mochte, aber genau konnte sie es nicht sagen. Sie wussten nur, dass sie ohne den Schlüssel der Bibliothek jämmerlich zugrunde gehen würden, denn der Schlüssel allein führte einen auch wieder hinaus und wer ihn verlor, würde ewig in einer Halle des Wissens wandeln.
Es war eine andere Zone. Eine andere Welt in einer Welt, die angefüllt war mit dem Wissen aller Welten. Jedes Mal, wenn sie länger hier waren, spürten sie die Macht, die in jeder Ecke dieses Ortes ruhte und die ihnen Gänsehaut verschaffte.
Mit einem Ächzen ließ Celles die Bücher auf den Tisch fallen.
"Wenn es ein Landstreicher war, warum hat er dann auch die Leiche mitgenommen? Der Sarg war leer!", fauchte sie Vanessa an, "Du könntest dich ja auch mal nützlich machen, statt nur in dein Spiegelbild zu sehen. Was erhoffst du dir davon überhaupt? Dass du irgendwann wie Sassy und Ses durch den Spiegel steigen kannst, um der Spiegeldimension einen Besuch abzustatten? Oder dass deine Pickel sich in den fünf Sekunden, die du nicht reinglotzt, auflösen?"
"Im Gegensatz zu euch, habe ich mich schon vor fünf Jahren damit abgefunden, dass Mari nicht mehr kommt", schoss Vanessa zurück und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.
"Fünf Jahre schon ... Das heißt, die kleine Prinzessin ist schon dreizehn?", Saphira rieb sich die vom Lesen müden Augen, "Finn ist ja in unserem Alter und das komische Mädchen, das Mum aufgelesen hat? Diese Marilee?"
"So alt wie ich", schnaubte Vanessa, "Aber so rein in der Seele und im Geist, dass ich brechen könnte. Ständig im Garten und hilft wie so ein kleiner Engel."
"Ich glaube, die ist ein Engel", ertönte Finns Stimme. In einen weiten grünen Pullover gekleidet, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte und Ölschmiere im mattblonden Haar, spazierte er auf die drei zu, "Sie hat Flügelchen. So weiß wie Schnee und kann damit rumflattern. Sogar meine Schwester ist dagegen ein Tintenklecks auf einem sauberen Stück Papier."
"Muss schon sagen, mein Pulli steht dir ausgezeichnet.", grinste Celles, "Aber er ist ein wenig zu weit oder? Lass mich dir helfen." Sie hob mit einer Hand ein Glas Wasser hoch, das auf dem Tisch gestanden hatte, mit der anderen formte sie Fingerzeichen und ließ das Wasser aus dem Glas hochschweben, direkt auf ihn zu.
Das Wasser breitete sich fächergleich aus und schoss, als sie mit den Fingern schnippte, direkt in sein Gesicht. Mit einem Platschen landete es auf seiner Haut und seinem Pullover. Angewidert schüttelte Finn das Wasser ab.
"Spinnst du komplett? Seit wann bist du überhaupt so gut darin?", platzte er hervor und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Blinzelnd stellte er fest, dass Celles in der Bewegung erstarrt war und ungläubig auf ihre Finger schaute.
"Ich...", brachte sie leiser hervor, "Ich hab das noch nie geschafft."
"Cel, das ist einfache Wassermagie! Mum hat gesagt, dass du das als Kind brilliant konntest, so wie ich Feuer", Saphira strahlte ihren Zwilling begeistert an, "Vermutlich waren wir einfach gehemmt durch das mit Mari und Mum und all dem anderen, weswegen es uns nicht mehr gelungen ist. Vielleicht kommen unsere Kräfte nun langsam wieder richtig zum Vorschein. Zeit würde es werden..."
Das wäre eine Möglichkeit, aber ich weiß nicht…", Celles ließ sich, noch immer auf ihre Finger starrend, auf eines der Kissen fallen.
Finn schnalzte mit der Zunge: "Vom Temperament her hätte ich gedacht, verbrennt Cel mir die Augenbrauen, aber nicht, dass sie mir eine kalte Dusche spendiert. Das hätte ich eher dir, Blauschopf, zugetraut." Er nickte mit dem Kinn in Saphiras Richtung.
"Pass auf oder ich versuche, ob ich dich nicht doch auch rösten kann, du vorlauter Prinz!", zischte Saphira und hob ein Kissen auf, um es auf Finn zu werfen, der elegant, gewohnt durch jahrelange Erfahrung, zur Seite auswich, "Lasst uns lieber weitersuchen. Ich möchte zumindest ihren Geist beschwören können, um herauszufinden, wo sie steckt und sie nur einmal wiedersehen. Odin sagte, es gibt in der Außenwelt ein Tor in die dortige Unterwelt, das ein gewisser Odysseus mal aufgesucht hat. Vielleicht gibt es sowas auch hier in Elensar."
"Glaubst du wirklich an die ganzen Geschichten?"
"Ich möchte einfach nicht aufgeben. Und wenn ich schon keine Lösung dafür finde, dann will zumindest einen Weg finden endlich herauszufinden, wer hinter dem Anschlag steckte und diesen Wurm zu Brei zertreten", Saphiras Augen funkelten von Ehrgeiz erfüllt und sie griff nach einem neuen Buch, um es aufzuschlagen.
Vanessa bewegte sich mit einem tiefen Seufzen und einem weiteren Blick in ihr Spiegelbild, zu den beiden Schwestern und zeigte größte Überwindung, als sie ebenfalls ein Buch vom neuen Stapel fischte.
Entfernt von der kleinen Gruppe im Landhaus der Familie Dunkler, lag Shanora in ihrem Zimmer auf dem Bett und blätterte gedankenverloren durch ein Buch. Ihre schwarzen Katzenohren ragten zwischen den Haaren hervor, die, aufgrund des schiefen Haarschnitts vor fünf Jahren, ungleichmäßig nachgewachsen waren. Sie zuckten, als sie das nächste Kapitel aufschlug und darin zu lesen begann. Im Unterschied zu ihren Ziehschwestern, hegte sie keinerlei Rachegelüste, jedoch hatte sie sich, nachdem eine Woche nach der Beerdigung, der Sarg leer war, in ihrem Zimmer eingesperrt und sich geweigert herauszukommen.
"Lunachildren...", las sie die Überschrift des Kapitels. Eine feine Gänsehaut überzog ihre nackten Arme und plötzlich kam ihr der Raum kühler vor. Mit zitternden Fingern fuhr sie die Zeilen nach und ihre Augen huschten über die pergamentartige Buchseiten.
Kinder ... Ja, das sind wir.
Verdammt ... Das wurden wir.
Verflucht ... So ist unser Ruf.
Lebend ... Ja.
Tot ... Ja, das sind wir auch.
In die Schatten gefallen ... So nennt man es wie Lunachildren entstehen.
Verhasst ... Durch Geschichten und Mythen.
Parasiten ... Wir wollen es nicht sein, doch sind wir es.
Lebensräuber ... So holen wir uns Energie.
Liebe ... Es ist ein Gefühl, das man uns selten gewährt.
Hoffnung ... Unsere Hoffnung stirbt nicht.
Lebenswille ... Er erlischt nicht.
Lebenskraft ... Eigene haben wir nicht.
Einsamkeit ... Unser ständiger Begleiter.
Trauer ... Unser häufigstes Gefühl.
Lunachildren, ein schöner Name, den man uns gab, aber wenn wir den Grund nicht kennen. Vielleicht, weil wir dazu verdammt sind mit Laternen, in denen schwach weiße Lichter brennen, im weißen langen Hemd und mit bleicher Haut durch die mondlosen Nächte zu gehen. Man sagt uns Unheil nach. Man sagt, wenn man uns sieht, ist man verflucht und kann sich die Tage ausrechnen, die man noch zu leben hat.
Alles Gerüchte. Alles Hirngespinste.
Wir sind doch nur Schatten. Kleine Geister, im Grunde.
Wir müssen uns an jemanden binden, wollen wir >lebenrichtig zu lebenSchatten fallen< wie ihr es nennt.
Wir sind zu stark um zu sterben, doch zu schwach, um zu leben. Einen Körper haben wir nicht mehr. Wir brauchen einen. Müssen einen erschaffen oder uns nehmen.
Wir hängen fest. Auf der Grenze des Lebens und der Grenze des Todes.
Wir wollen leben. Wir wollen sterben.
Wir sind die Lunachildren. Verfluchte kleine Seelen. Wie wir entstehen, ist auch nicht ganz klar. Ich weiß es nur für mich allein, denn ich war einst ein Lunachild und ich habe es geschafft aus den Schatten zu entkommen.
Einst wurde ich verflucht von meinem Vater. Er sagte mir, ich dürfe niemals sterben. Aber ich bin gestorben. Mein Körper ist tot. Ich dachte, meine Seele würde entfliehen und ich würde nichts werden. Doch ich lag da und wartete Tag ein, Tag aus. Lag in meinem dunklen Käfig, während das Fleisch zerfiel. Wisst ihr wie viel Gewürm da kommt? Es ist wiederlich! Ich war gefangen und konnte mich nicht bewegen.
Doch dann hörte ich eine Stimme. Ein Wort, das mich rief und plötzlich hatte ich das Gefühl zu fliegen. Ich dachte, vielleicht ist das der Tod, der mich endlich abholt, aber ich irrte mich. Nicht der Tod rief mich, sondern ein Junge. Mein bester Freund. Er rief mich und plötzlich sah ich die Welt durch seine Augen. Ich folgte ihm wie ein Schatten. Er hat mich gerufen und ich bin zu ihm gekommen. Ich glaube, er hat einen Zauber gewirkt. Ich weiß es nicht. Ich konnte mich nicht bemerkbar machen, denn ich war zu schwach. Viel später, als er bereits alt und grau wurde, habe ich bemerkt, dass mich noch jemand anderes sieht. Das jemand sieht, dass zwei Seelen in seiner Brust leben und dieser jemand schenkte mir etwas von seiner Lebenskraft und half mir hinaus. Zurück in die Welt. Er machte mir einen Körper. Keinen guten, aber tut es.
Endlich konnte ich wieder atmen und laufen. Ich werde nie vergessen, was passiert ist. Kein lebendes Wesen kann sich vorstellen, welche Hölle es ist. Zu denken, zu sehen, zu existieren, aber nichts tun zu können. Allein in mondlosen Nächten war ich frei. Frei, ein seltsames Wort davon, aber es ist das einzige, wie ich es beschreiben kann. Ich war in diesen Nächten nicht an ihn gebunden. Nein. Ich war plötzlich umringt von gleichen. Alles Kinder, alle mit leeren Blicken. Geister. Beim ersten Mal wollte ich schreien, aber ich hatte keine Stimme und als ich an mir heruntersah, sah ich: Ich war einer von ihnen und als sie sich in Bewegung setzten, lief ich mit. Ein Licht haltend bis die Sonne aufging.
Ich bin nun alt geworden. Doch bevor ich nun - hoffentlich tatsächlich - sterbe, möchte ich dies zu Papier bringen. Vielleicht gibt es einen Weg, uns zu erlösen. Vielleicht einen Weg, uns zu finden ...