Das große Bad der Familie Dunkler befand sich seit den Wirren nach dem Tod der weißen Königin in einem Anbau neben dem geräumigen Landhaus. Dort befanden sich mehrere von einander abgetrennte Duschen, Waschbecken und kleine Schränke für Handtücher, Badetücher, Seifen und Gewand. Das Herzstück des Raumes bildete ein Pool, der erst nachträglich angelegt wurde und von den Mädchen und Finn im Sommer zur Abkühlung, im Winter zum Entspannen und Spaß genutzt wurde.
Marilee rieb sich die vom Schlaf noch verquollenen Augen, als sie an eines der Waschbecken trat und einen Blick in den Spiegel warf. Celles, Saphira und Vanessa waren bereits früher aufgestanden und machten sich gerade fertig, um wieder aus dem Badehaus zu verschwinden.
"Haha. Sehr witzig. Wer von euch hat mir die Haare schwarz gefärbt?", knurrte Marilee erbost und fuhr sich durch das weinrote, beinah hüftlange, Haare, "Finde ich nun wirklich nicht witzig."
"Spritz dir Wasser ins Gesicht und werd wach! Du siehst noch lange nicht so gut aus wie ich!", fauchte eine Stimme aus dem Spiegel zurück und Marilee konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen, als eine Hand samt Arm aus dem Spiegel schoss und ihr einen Klaps auf den Hinterkopf verpasste.
Buchstäblich schlagartig war sie wach und starrte auf das, was im Spiegel zu sehen war. Der Arm, behängt mit mehreren Armreifen aus Gold und Silber und Lederbändern, gehörte zu einer jugendlich aussehenden Frau mit tiefblauen funkelnden Augen, hellem Teint und zweifarbigem Haar. Die eine Hälfte rotbraun, die andere schwarz. Rubine steckten in ihren Ohren, die Augen waren nach ägyptischer Manier geschminkt und sie trug einen weißen Chiton mit blauen Meanderlinien am Leib.
"Sessy!", Celles schrie auf und ließ beinah ihre Zahnbürste fallen vor Schreck, "Was tust du denn hier?"
"Was soll ich schon tun? Griechenland ist ja ganz nett, aber die haben hier auch Krieg. Mum und Paps sind weiter nach Italien gezogen, wo momentan so eine kleine Stadt sich einbildet, sie könnte ganz groß werden. Lächerlich. So ein Miniding im Sumpfland.", die Frau im Spiegel lachte hell auf und zupfte den Ärmel ihres Chitons zurecht, "Sassy ist mit ihnen mit, aber Sethos und ich hatten keine Lust mehr. Wir dachten uns: Lass uns doch einfach mal bei unseren lieben Verwandten nachsehen."
Sessy grinste breit während sie sprach und ihre spitzeren Eckzähne kamen dabei zum Vorschein. Neben ihr tauchte nun auch die Gestalt eines jungen Mannes auf mit längerem ebenso braunem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Er trug eine weite Tunika, in der Mitte zusammengehalten von einem breiten Gürtel, und lederne Armschienen.
"Hallo Familie", grinste auch er und schob sich an Sessy vorbei, um durch den Spiegel zu schreiten. Ein sandalenbesetzter Fuß folgte dem Ersten, Beine, Rumpf und schließlich Kopf samt Armen. Sethos kletterte über das Waschbecken heraus und schüttelte sich, als er auf der Stelle trat.
"Was tut sich so bei euch? Gibt es Neuigkeiten?", er musterte Marilee aus rehbraunen Augen und wiegte den Kopf etwas schief, "Dich kenn ich noch nicht. Bist du auch eine Schwester von Cel und Saphi? Eine weitere Tochter des Dunklen?"
"Nein, ich bin Marilee. Ich bin die Schwester von Marishka, auch bekannt als Mari. Wer bist du und was fällt dir eigentlich ein in ein Badezimmer zu gehen, wenn wir uns gerade umziehen?", erbost verschränkte die Rothaarige die Arme vor der Brust.
Celles und Saphira kratzten sich beide verlegen an der Wange. Fakt war, das Marilee die Einzige war, die noch verschlafen wirkte und ihr Nachthemd trug.
Hinter Sethos kletterte Sessy aus dem Spiegel und hüpfte elegant auf den Boden. Ihre Haare waren zu zwei langen Zöpfen geflochten, die sie schwunghaft über die Schulter beförderte und dabei Sethos ins Gesicht schlug: "Ignorier ihn einfach. Das ist mein großer Bruder Sethos. Er ist angeblich der diplomatischere Spross von uns dreien, aber er vergisst ständig, sich vorzustellen."
"Ohhhhhhhhhhhhhhh!"
Fünf Augenpaare wandten sich Vanessa zu, die, ein Handtuch um sich geschlungen, aus der Dusche trat. Ihr blondes Haar tropfte auf den Boden und ihr Gesicht hatte die rote Farbe einer saftigen Tomate angenommen.
Sie hatte keine Augen für ihre drei Ziehschwestern oder Sessy. Ihr Blick galt allein dem jungen Mann, der allein schon durch seinen dunkleren Teint, ein Erbe seiner ägyptischen Mutter, hervorstach.
"Fällst du gleich um?", Celles hob fragend eine Braue, "Ich weiß nicht, ob der Boden dafür so ideal wäre. Fliesen können doch etwas hart sein."
Prompt verengten sich die Augen der Blondine und fixierten die Sprecherin: "Mir geht es gut. Pass besser selbst auf, dass du nicht auf deinem fetten Hinterteil landest, Cel! Entschuldigt mich bitte, ich muss mich noch fertig machen." Damit schnappte sie ihr Kleid aus einem der Schränke und ein weiteres Handtuch und verschwand um die Kurve, zurück zu den Duschen, wo sie in eine unbenützte stürmte und die Tür hinter sich schloss.
"Wer war das?", Sethos richtete sich fragend an Saphira, die das Gesicht in eine Hand stützte und nur den Kopf schüttelte: "Einfach gar nicht beachten. Das ist Vanessa, unser Wirbelwind. Du kennst sie vielleicht noch von früher, als sie noch nicht so lange bei uns war."
"Ah! Die kleine blonde, die immer an Pyroferas Rockzipfel hing?"
"Genau die. Mari hat sie Größentechnisch noch eingeholt, bevor ... ach ihr wisst es doch eh."
"Was wissen wir? Von ihrem Tod? Dass Paps uns vor der Beiseitzung schon nach Ägypten schleifte? Ich hatte gerade mein erstes Date, aber das war ihm ja egal", murrte Sessy und musterte Marilee von Kopf bis Fuß, "So, du bist also auch eine Tochter vom alten Taurnil? Hätte ja nicht gedacht, dass der noch eine hat, wenn ihm die erste entführt wurde und er sich dann, als sie wieder auftauchte, kein Stück drum scherte, außer dem netten Brieflein, dass er sie gern verheiraten möchte mit einem seiner Kollegen. Warum bist du nicht bei ihm?"
Nun war es an Marilee rot anzulaufen. Rasch wandte sie den Blick zu Boden und murmelte: "Wollte zu meiner Schwester. Mutter ist gestorben. Es war so still im Haus."
"Das wissen wir", Saphira sammelte herumliegende Handtücher ein und drückte den Stapel in Celles' Arme, "Aber wenn es still im Haus ist, dann sollte es ja kein Problem sein, wenn wir ... " Sie brach ab und schlug die Augen nieder. Verplappert.
"Wenn ihr was?", Marilee hob den Kopf wieder und starrte sie ungläubig an, "Wollt ihr bei ihm einbrechen?!"
"Einbrechen klingt so hart. Nennen wir es lieber, dass wir ihn besuchen wollen, wenn er zufällig nicht da ist.", Celles zuckte mit den Achseln, "Wir wollen nur ein bisschen Recherche betreiben. Wo Mari so groß geworden ist und ob es bei ihm irgendwo Hinweise gibt auf den Anschlag. Er ist doch Ratsherr, da muss irgendwo was zu finden sein, außer sie kehren die Sache komplett unter den Teppich."
"Sicher gibt es dort etwas. Ich kann euch reinbringen!"
Die Zwillinge tauschten einen überraschten Blick aus. So feurig hatten sie Marilee noch nie gesehen. Normalerweise waberte ihr die Reinheit aus allen Poren und sie triefte nahezu vor Nettigkeit und Süße. Jetzt aber sahen sie ein Mädchen vor sich, das die Fäuste geballt hatte und in deren Blick etwas Hartes, unumwerfbares, lag. "Wartet! Nur damit ich das richtig verstehe: Paps schleppte uns nach Ägypten, Griechenland und jetzt zu dieser kleinen Sumpfstadt." - "Rom" - "Wie auch immer. Er schleppte uns weg. Ihr seid hier geblieben, samt der Prinzessin, was Paps für ein Sicherheitsrisiko hielt, aber warum auch nicht. Man versteckt einen Baum ja am besten im Wald. Verdammt, ich schweife ständig ab", die Vampirin krallte sich selbst übers Gesicht, "Punkt ist: Wir kommen wieder, um euch zu besuchen und ihr habt hier die wildesten Verschwörungstheorien gebastelt, oder wie seh ich das?"
"Richtig.", Vanessa gesellte sich nun, komplett bekleidet in ein dunkelvioletes Kleid und ihre Haare zu wallenden Locken gedreht, zu der kleinen Versammlung, "Wir wollen rausfinden, wer dahinter steckt und wieso."
"Seid wann interessiert es dich?", Saphira beugte sich herausfordernd vor.
"Seid schon immer!", fauchte Vanessa zurück und warf einen schmachtenden Blick zu Sethos, "Ich mache mir ja auch Gedanken um die liebe Mari. Es ist so seltsam anzunehmen, dass es ein purer Zufall sein sollte, wenn davor schon so viel geschehen ist."
"Seid ihr endlich fertig?!", gellte eine Stimme durch die geschlossene Tür des Anbaus, gefolgt von genervtem Klopfen, "Ich warte seit EWIGKEITEN hier draußen!!!"
Celles' Schultern sanken synchron mit Saphiras nach unten: "Finn."
"Der lebt auch noch?", Sessy gab sich einen Ruck und marschierte, die Hüften übertriebend schwingend, zur Tür, um diese aufzureißen und zu schnurren: "Hey kleiner Prinz! Erinnerst du dich noch an mich?"
"Du warst die Verrückte, die mir Honig überleerte", Finn prallte zurück, "Oder war das dein Klon?"
"Ja, das war Sassy. Ich bin die Verrückte gewesen, die die Bienen gebracht hat."
"Oh.", er lachte verlegen auf, "Aber wir sind jetzt ja alle ... Du weißt schon. Älter und so. Du siehst noch immer gut aus! Was führt dich hierher? Urlaub? Hoffentlich keine Langeweile."
"Nur ein kleiner familiärer Besuch, Cousinchen. Wir haben uns sicher so viel zu erzählen. Du bist groß geworden, aber noch immer so niedlich. Ach und deine Augenbrauen sind wieder nachgewachsen? Naja, sie hatten ja ein paar Jahre Zeit."
Marilee legte den Kopf schief, um durch die Tür hinauszusehen, doch erblicken konnte sie nichts. "Scheinen sich ja auch zu kennen."
"Bevor Mari starb kam Tante Sherine mit Ses und Sassy öfter her. Sie sind übrigens Zwillinge, so wie Saphi und ich. Wir hatten jede Menge Spaß."
Celles griff den Haufen Handtücher fester und folgte Sessy hinaus. Ihr hinterher Saphira, Vanessa und Sethos, der noch meinte: "Habt ihr irgendwo Hosen in meiner Größe? Ich vermisse das wirklich, wenn wir in der Außenwelt sind. Im Norden haben sie welche, aber da, wo wir rumhängen."
"Ich dachte immer, die Außenwelt wäre fortgeschrittener?"
"Kommt ganz darauf an, welche du meinst, Cel. Eure Mum war zwar außerhalb von Elensar, aber sie landete nicht am gleichen Ort wie Paps. Du hast doch sicher schon gelernt, dass Elensars Portale nicht nur zu einer einzigen Außenwelt führen."
"Ahja?"
Marilee wartete bis die Stimmen sich entfernen und schloss die Tür. In der eingetretenen Stille des Bades, machte sie sich dran, sich zu waschen und umzuziehen. Bald schon schmiegte sich ein gelbes Sommerkleid an ihren Körper und sie warf einen Blick in den Spiegel.
"Sie suchen. Jeden Tag.", flüsterte sie und schloss die Augen. Ein helles Licht umhüllte sie und schneeweiße Flügel brachen aus ihrem Rücken hervor. Zum Glück hatte das Kleid dort eine Aussparung.
"Jeden Tag.", Tränen traten in ihre Augen, "Dabei haben sie die Antwort doch genau vor der Nase."
Marilee streckte die Hand aus und berührte den Spiegel. Das Bild verschwamm und wurde milchig. Ein Nebel lag darin und verzerrte ihr Spiegelbild.
"Ich werde ihnen helfen in die Villa zu kommen. Vielleicht hilft das."
Ihre Finger streichelten über das Glas und Tränen liefen über ihre Wangen. Verwischten ihr Sichtfeld.
"Sie werden es schon schaffen."
Marilee lachte auf, als sie die Stimme hörte und für einen kurzen Moment zwinkerte ihr ihr Spiegelbild zu. Doch das Bild zeigte ein anderes Gesicht und dunkle Fäden verbanden sie damit.
Dunkle Bänder, wie Schatten, die sie zu umhüllen schienen und stärker aufflackerten, je mehr Tränen über ihre Wangen liefen.
Ihre Knie wurden weich und sie sank auf den Boden, geschüttelt von unterdrückten Schluchzern.
Ihr eigenes helles Licht wurde immer mehr vom Tanz der Schatten unterbrochen und eine gesichtlose Gestalt formte sich aus diesem, der ihr die Hand in einer tröstenden Geste auf die Schulter legte.
"Sie sehen es nicht. Wieso nicht? Wie können sie nur so blind sein? Ist Rache wirklich das Einzige, was in ihren Köpfen existiert? Sogar Shanora scheint es nicht zu sehen. Ich dachte, sie könnte es. Könnte sehen, welchen Schatten ich in mir trage. Wer immer an meiner Seite ist."
Marilee barg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte hemmungslos. Der Schatten tanzte um sie herum.