ANNA
Ich fühle mich noch immer, als hätte ich Drogen eingeworfen. Obwohl ich nicht einmal weiß, wie sich das anfühlt. Es ist einfach atemberaubend, faszinierend, einfach überwältigend. Es ist der reine Wahnsinn und ich erlebe diesen gerade. Diesen Blick auf die Dinge zu haben. Diese Geschwindigkeit laufen zu können. Alles ist so neu und außergewöhnlich. Ich will gar nicht mehr aufhören zu laufen. Ich bin in meiner eigenen Welt. Ich laufe, ohne auf die anderen zu achten und versuche diese ganze Energie, die in mir aufgestaut ist, loszuwerden.
Die Luft ist kühl und der Wind lässt die Äste der Bäume leicht hin und her schwingen. Wenn ich mich selbst kneifen könnte, würde ich es tun. Doch ich denke, mit diesen Pfoten wäre es ohnehin unmöglich. Ich bin so aufgeregt, dass sich meine Energie immer weiter nach oben schaukelt, anstatt sich zu verflüchtigen.
Als ich jedoch an einer kleinen Lichtung ankomme, sehe ich nach oben. Sofort halte ich an. Es ist traumhafte Anblick des Mondes, der mich zum Anhalten bringt. Mit den Augen eines Wolfes sieht er so anders aus. Das Licht spiegelt sich darin, als wäre er aus reinem Gold und das Gefühl, dass dieser Anblick in mir hervorruft, lässt mich Geborgenheit und Frieden spüren. Es ist, als könnte ich ihn berühren, so nahe fühle ich mich diesem Mond. Diesem alltäglichen Ding. Dass ich noch niemals so fasziniert betrachtet habe, wie in diesem Moment. Es ist, als würde alles um mich herum zum Stillstand kommen. Als würden meine Probleme und Sorgen einfach verschwinden. Ich fühle mich so frei. Frei von meinen Gefühlen, frei von diesen ganzen Fragen in meinem Kopf. Ich genieße dieses Gefühl, endlich durchatmen zu können. Nicht immer diese Angst, wer mich als Nächstes umbringen möchte. Nicht diese Angst, dass ich versagen könnte. Es ist weg. Alles. Zum ersten Mal, seit dem Tod meiner Mutter geht es mir wieder gut. Gut in dem Sinne, dass ich mich wohlfühle. Dass ich gerade glücklich bin, auch wenn es vielleicht meine Umstände nicht erlauben dürften. In diesem Moment bin ich ein freier Mensch. Besser gesagt, bin ich gerade ein freier Mensch in einer Wolfsgestalt. Ich grinse bei diesem Gedanken und so schwer es mir auch fällt, wende ich meinen Blick wieder von diesem unglaublichen, faszinierenden goldenen Ding ab. Ich will wieder weiter laufen, dieses Gefühl noch einen Moment lang genießen und einfach nur loslassen.
Als ich jedoch loslaufen möchte, stolpere ich. „Nein...warum...nein...bitte nicht...“ Ich spreche diese Worte laut aus, um damit meinen Ärger loszuwerden. „Lass das jetzt bitte nicht wahr sein.“ Ich blicke nach unten, zu meinen Füßen. Und, ja genau, es sind wieder meine Füße mit den alten schwarzen Chucks. Wieso ist das Schicksal so gegen mich und lässt mich immer nach solchen Momenten so tief fallen?
Nichts ist es mehr mit diesem Gefühl, dass meine Probleme wie ausgelöscht sind. Denn sie sind wieder da. Genau in diesem Moment.
Ich halte Ausschau nach den Jungs. Meiner letzten Rettung. Doch nichts. Ich kann nichts hören und ich kann auch nichts sehen. Keine Wölfe die wild umherlaufen und Spaß haben. Bis auf den Wind, der Bäume und Blätter bewegt, höre ich rein gar nichts. Außer vielleicht meinen Atem, der mit jeder Sekunde, die ich hier alleine bin, schneller wird. Jetzt kann ich den ganzen Weg mit meinen Menschenfüßen zurücklaufen? Als ich mich auf den Weg machen will, fällt mir nicht einmal mehr ein, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Verdammt Anna, du bist so ein Chaot. Meine innere Stimme verflucht gerade meinen Orientierungssinn.
Gerade als ich noch mehr verzweifle, höre ich ein leises Knacken hinter mir. Es ist das Geräusch eines Astes, der unter einer Last zerbricht. Erschrocken und mit offenen Mund, drehe ich mich schnell in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Doch es ist zu dunkel um etwas erkennen zu können. Ohne großartig darüber nachzudenken, gehe ich einen Schritt zurück. Was, wenn wieder irgendjemand hinter mir her ist? Was, wenn es Nathan ist? Jemand, der mich umbringen möchte?
Mein Atem wird immer schneller und meine Augen weiten sich, als ich etwas zwischen den Bäumen erkennen kann. Es sind leuchtend blaue Augen. Bei diesem Anblick verflüchtigt sich die Panik und mein Herzschlag beruhigt sich wieder. Langsam und elegant bewegt er sich auf mich zu. Sein rabenschwarzes Fell schimmert im Mondlicht und seine Augen haften auf mir, als würde ich gleich seine Beute sein. Doch ich fühle keine Angst. Ich bin froh darüber, dass er jetzt hier ist. Auch, wenn er mein Herz gebrochen hat.
Er verändert wenige Meter vor mir seine Gestalt und vor mir steht wieder dieser gutaussehende Alex. Mit seinen langen Fingern fährt er sich durch die braunen Haare. Seine Muskeln an den Armen, kommen bei dieser Bewegung noch mehr zum Vorschein, als sonst. Eine Strähne fällt wieder nach vorne in seine Stirn. Er sieht damit noch besser aus und das macht mich verrückt. Er macht mich noch immer verrückt. Ich weiß nicht, wieso er immer wieder so eine Wirkung auf mich hat. Es ist schmerzhaft zu wissen, dass man für Jemanden so viel mehr empfindet, als dieser Jemand für dich jemals empfinden wird. Seine raue Stimme reißt mich aus diesen Gedanken und sofort richtet sich mein Blick auf diese weichen Lippen, die sich dabei bewegen.
„Ich wusste, du bringst dich wieder in Gefahr.“
Sein Blick ist dunkel und seine raue Stimme klingt verärgert. Er ist verärgert. Aber ich kann seine Stimmungsschwankungen einfach nicht nachvollziehen. Er verletzt mich und dann macht er sich Sorgen um mich. Ich versuche, mich nicht aufzuregen. Es würde sowieso nichts bringen. Also versuche ich ruhig zu bleiben und froh darüber zu sein, dass er jetzt hier ist und ich hoffentlich wieder sicher nach Hause komme.
„Ist gut Alex, ich habe es verstanden. Ich habe schon wieder Scheiße gebaut und am Besten wäre es, ich würde mich einsperren.“
Mein Sarkasmus ist kaum zu überhören, als ich versuche in irgendeine Richtung zu gehen. Ich muss mich von seinem Blick lösen, denn sonst kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich denke, dass er jetzt mehr als nur verärgert ist, als er sich mit einem aggressiven Gesichtsausdruck vor mich stellt und mich daran hindert weiter zu gehen.
„Du kannst es einfach nicht lassen. Hör einfach, verdammt noch mal, damit auf dich in Gefahr zu bringen.“
„Ich kann machen, was ich will. Das habe ich dir bereits gesagt und wenn du es genau wissen willst, war das Gefühl zu laufen, dass Ganze hier Wert.“ Ich fuchtle wild mit meiner Hand hin und her um es ihm begreifbar zu machen. Denn jetzt bin ich, trotz allem, doch verärgert.
„Es würde es sogar Wert sein, wenn mich hier wieder Jemand umbringen wollte. Du kannst es ebenfalls nicht lassen mir weh zu tun. Also heuchle mir nicht vor, du würdest dir Sorgen um mich machen.“
Ich versuche mir wieder einen Weg an ihm vorbei zu bahnen. Doch seine starken Arme packen mich an meiner Schulter. Ich versuche mich von der Berührung loszureißen, doch ich schaffe es nicht. Denn nicht seine Hände halten mich fest, sondern die unerwartete Berührung seiner Lippen auf meiner. Diese Lippen auf meinen, vernebeln meinen Verstand. Er küsst mit solcher Leidenschaft und ich kann nicht anders, als diesen Kuss zu erwidern.
Verdammt Anna, du wolltest doch stark bleiben. Meine innere Stimme versucht mich doch noch irgendwie aufzuhalten und auch, wenn ich diese weichen Lippen noch länger auf meinen haben möchte, lasse ich meine innere Stimme gewinnen. Ich muss. Das habe ich mir fest geschworen. Ich muss mich auf meinen Verstand konzentrieren. Also versuche ich mich, schweren Herzens von diesem Kuss und seiner Berührung zu lösen. Etwas widerwillig lässt er mich los und mustert mich mit diesen traurigen blauen Augen. Wieso macht er das immer wieder? Immer wenn ich diesen Blick sehe, kann ich ihm noch weniger widerstehen. Doch ich muss stark bleiben. So wende ich meinen Blick von ihm ab und gehe langsam an ihm vorbei. Es vergehen nur wenige Sekunden und ich bin noch nicht weit gekommen, als ich Worte in meinem Ohr höre, die meinen Körper, auf der Stelle anhalten lassen.
„Verdammt Anna, kapierst du nicht? Ich liebe dich.“
Das hat er jetzt nicht gesagt? Oder doch? Ich kann es nicht glauben. Das ist einer seiner Scherze. Er macht das nur, um mir noch mehr weh zu tun. Ich versuche diese Worte in mich aufzusaugen. Doch ich will mich nicht noch einmal verletzten lassen. Also versuche ich seinem Blick zu entkommen und gehe weiter. Doch wieder packt mich eine Hand an meinem Handgelenk. Er dreht mich mit einem Ruck zu sich und durch diesen Schwung stoße ich an seine harte Brust. Seine Hände bahnen sich einen Weg zu meinem Nacken und bei dieser Berührung bekomme ich sofort wieder eine Gänsehaut. Ohne es zu beabsichtigen, starre ich in diese stahlblauen Augen die auf mich zurückstarren.
„Verdammt Anna, verstehst du nicht? Ich liebe dich, seit dem ersten Tag als ich dich gesehen habe. Du machst mich verrückt und ich wollte mich von dir fernhalten. Von den Gefühlen für dich, fliehen. Deswegen habe ich immer wieder versucht, dich von mir zu stoßen. Doch ich kann es nicht länger. Ich brauche dich. Verdammt, es tut mir alles so leid. Ich wusste nicht, was ich machen sollte.“
Seine Worte klingen, wie aus einem schnulzigen Liebesfilm. Was hat er eben gesagt? Ich kann es nicht glauben, besser gesagt will ich es nicht wahrhaben. Er hat mich so verletzt und jetzt steht er vor mir und gesteht mir seine Liebe. Ich weiß mein Herz macht gerade Luftsprünge und würde ihm am liebsten nicht mehr aus den Augen lassen. Doch mein Verstand spielt noch immer die Vertrauenskarte aus. Ich kann ihm nicht vertrauen? Oder doch? Hat er das wirklich nur getan, um mich von ihm wegzustoßen? Ich kann ihm keine Antwort geben. Muss ich ihm überhaupt antworten? Ich denke, mein Mund ist noch immer leicht geöffnet und meine Lippen noch immer leicht geschwollen von diesem leidenschaftlichen Kuss. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der ich in seine Augen starre, verabschiedet sich mein Verstand zur Gänze und mein Herz übernimmt jetzt die Führung.
Langsam zieht er mich mit seinen Händen in meinem Nacken zu sich. Näher zu seinen weichen rosafarbenen Lippen und seinem warmen frischen Atem. Seine Finger bewegen sich weiter in meine Haare und ein leichtes Ziehen daran, lässt meinen Kopf weiter nach hinten wandern. Seine Augen sind noch immer geöffnet und blicken in meine. Ich kann ihm nicht widerstehen. So sehr ich es auch will. Ich kann nicht. Und mit einem Augenblick ändert sich alles. Es ist Alex. Von diesem ersten Moment an, als ich in diese Augen gestarrt habe.
Seine Lippen berühren die meinen und diese wunderschönen blauen Augen verschwinden, als er sie schließt und mich küsst, als würde er nie wieder damit aufhören wollen.