ALEX
Noch immer, kann ich nicht glauben, dass er sich erlaubt hat, Anna so nahe zu kommen. Meine Wut ist unkontrollierbar. Ich weiß, sie hat ihn gesehen. Ich weiß, sie hatte Angst. Ich konnte es spüren. Doch ich wusste auch, er würde ihr nichts antun. Sie ist Mein und er hat es gewusst. Denn auch, wenn er meine Mutter getötet hat, so würde ein Wolf niemals eines anderen Besitz angreifen.
Anna hat mich erneut durchschaut. Sie spürt, dass ich nicht ohne Grund wieder zurück ins Haus gehe. Doch ich bin so wütend. Wütend, dass er sich in diese Hütte wagt. Er hat meinem Mädchen Angst gemacht und ich könnte ihn dafür umbringen. Doch ich kann sie nicht hier stehen lassen, ohne ihr eine Antwort zu geben.
Als ich mich umdrehe, erwartet mich ein besorgter Ausdruck in ihren Augen. Sie sieht mich an, als würde sie spüren was in mir vorgeht. Als würde sie mich durchschauen. Aber ich kann ihr auf keinen Fall sagen, wer ihr Angst gemacht hat. Nicht, bevor ich mir hundertprozentig sicher bin, dass er sich unter Kontrolle hat. Nicht bevor ich weiß, was er wirklich hier sucht. Und auf keinen Fall werde ich zulassen, dass Anna ihn nochmals in dieser Gestalt sehen muss. Ich versuche mich zu beruhigen, bevor ich ihr antworte. Sie muss diese Antwort verstehen. Ich kann ihr nur diese Informationen geben.
„Bitte Anna, bring Lexa zurück. Ich kümmere mich darum. Ich verspreche dir, dass ich bald bei euch sein werde. Aber vertrau mir in dieser Sache. Ich werde dir alles erklären, wenn wir mehr Zeit haben.“
Ich spüre die Enttäuschung über meine Worte in ihr. Aber ich kann auch sehen, dass sie mich irgendwie zu verstehen scheint. Sie nickt und ihre Augen glänzen, als würde sich bald eine Träne aus ihren leuchtend grünen Augen verabschieden. Sie flüstert und ihre Worte, versetzen mir einen Stich in mein Herz. Denn sie triefen vor Liebe, die ich nicht verdient habe.
„Ich warte auf dich.“
Sie sagt es mit einer Sanftheit in ihrer Stimme, die kaum zu ertragen ist. Ein letztes Mal blicke ich in ihre Augen und wende mich dann wieder dem Haus zu. Vorsichtig nähere ich mich der Tür und kann hören, wie die Tür des Wagens geschlossen wird und Anna den Motor startet.
Nur ein paar Sekunden später höre ich das Knistern der Steine, als sie losfährt. Ich hoffe so sehr, dass Lexa heilen wird, denn auch, wenn ich sie verbannt habe, so war sie vor dem Tag andem ich mein Urteil gefällt habe, meine Schwester. Ich hätte alles für sie getan. Hätte sie vor all diesen Sachen beschützt. Aber ich habe versagt. Ich konnte sie nicht beschützen. Konnte sie nicht zur Vernunft bringen. Immer wenn ich daran denke, muss ich gegen mein Gewissen ankämpfen. Ich fühle mich schuldig. Ich hätte dafür sorgen sollen, dass sie wieder zu sich selbst findet. Aber ich war so mit mir selbst beschäftigt, dass ich sie einfach weggeschickt habe. Ich konnte ihren Anblick nicht länger ertragen. Vor allem weil sie mich immer wieder an unsere Mutter erinnert hat. Dieser Anblick schmerzte. Etwas zu sehen, aber es ist dennoch nicht real und man kann nichts dagegen tun. Aber dieses Mal werde ich es nicht zulassen. Ich werde nicht zulassen, dass sie jetzt auf sich alleine gestellt ist. Ich brauche sie. Wir brauchen sie und ich denke, dass sie insgeheim auch uns braucht. Sie braucht ihre Familie. Ich hoffe es. Auch, wenn ich noch immer Wut in mir fühle, nach all dem was sie mir angetan hat.
Ich weiß, er ist noch in diesem Haus und ich weiß auch, dass er mich spüren kann. Ich kann nicht glauben, dass er sich nach dieser ganzen Zeit hier blicken lässt. Vor allem in dieser Gestalt. Ich öffne die angelehnte Tür erneut und mache mich für einen Angriff bereit. Ich weiß, er wird mich angreifen. Ich kann seine Wut auf mich riechen. Doch ich werde es nicht zulassen, dass er mich besiegt. Ich habe ihn schon einmal unterworfen und ich werde es nochmals tun. Mein Fuß gleitet über die Schwelle und kommt mit einem leisen Knarren auf dem Holzboden auf.
Meine Sinne sind geschärft. Meine Augen suchen jeden Winkel ab und meine Ohren versuchen jedes Geräusch aufzufangen. Schon kann ich einen schnellen kräftigen Herzschlag hören. Er ist im Wohnzimmer und ich halte kurz an, um nochmals meine Kräfte zu sammeln, die ich mit Sicherheit brauchen werde. Ich werde ihn besiegen. Ich muss ihn besiegen.
Ich trete in den Türrahmen und suche den dunklen Raum nach ihm ab. Mit meinen menschlichen Augen kann ich rein gar nichts erkennen und so verwandle ich meine Augen. Ich trete weiter in das Zimmer und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Und dann sehe ich ihn. Die feuerroten Augen in der Dunkelheit, die mich durchdringend anstarren. Diese furchteinflößende Gestalt. Ich hatte gehört, dass er sich dem Bösen zugewandt hat, aber ich wusste nicht, wie sehr dies seinen Wolf verändern würde. Es scheint, als würde er sich nicht mehr vollkommen verwandeln können. Er steht aufrecht und trotz allem ist sein Maul weit geöffnet und die langen Reißzähne stehen über sein Kinn.
Die Klauen an seinen Händen sind vollkommen ausgefahren. Es sieht aus, als würde ihm das Böse die vollkommene Verwandlung als Wolf verwehren. Oder auch, der Wolf verbietet dem Bösen die Verwandlung. Ein Wolf sollte rein und Gut sein. Sicherlich ist er auch ein Raubtier und sicherlich haben wir, so wie alle, etwas Böses in uns. Aber keine dunkle Macht die uns besitzen sollte. Denn ein Wolf sollte Frei sein. Doch der Wolf vor mir wird definitiv von einer dunklen Macht kontrolliert. Anders kann ich es mir nicht erklären. Dennoch habe ich nicht vor, ihn umzubringen. Ich will, dass er sich verwandelt. Ich will, dass er sich in seine ursprüngliche Gestalt verwandelt. Ich habe Fragen, auf die ich eine Antwort will. Diese Fragen kann er mir aber nur in Menschengestalt beantworten. Also versuche ich meine Wut und Enttäuschung im Zaum zu halten und so ruhig wie nur möglich auf ihn einzureden.
„Joseph, verwandle dich und ich werde dir nichts tun. Verwandelst du dich nicht, dann gehe ich davon aus, dass du einen Kampf willst.“
Ich nenne ihn seit Jahren nicht mehr Vater. Denn mein Vater ist mit dem Tag gestorben, als auch meine Mutter gestorben ist. Meine Muskeln spannen sich an und je länger es dauert, desto überzeugter bin ich, dass er überlegt. Er zieht es in Erwägung, sich zu verwandeln. Doch als er seine Zähne fletscht und mir ein Knurren entgegnet, bin ich überzeugt, dass es einen Kampf geben wird. Wenn er es so will, dann soll er es haben. Ich weiß, dass ich stärker bin.
Meine Knochen brechen und ich fühle mich zu Hause. Es ist meine Welt. Der Wolf ist meine Welt. Denn nur so kann ich ihn besiegen. Und schon sehe ich, wie sich seine Krallen in seine Handfläche bohren und Blut daraus hervorschießt. Ich kann seine Aggression spüren. Ich kann spüren, dass er sich nach einem Kampf sehnt und den soll er bekommen. Denn auch ich, sehne mich nach einem Kampf. Auch, wenn mein menschlicher Verstand dagegen war, der Wolf in mir braucht diesen Kampf. Er will kämpfen.
Schon sehe ich, wie sich Joseph auf mich zubewegt. Seine Bewegungen sind langsam und ich ahne bereits, dass es nicht gerade ein anstrengender Kampf werden wird. Es wird nicht lange dauern, dann wird er aufgeben. Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, werde ich ihn töten müssen. So oder so, bin ich davon überzeugt, dass ich gewinnen werde.
Ich stehe vor ihm, meine Augen auf seine langsamen Bewegungen gerichtet und meine Gedanken sind bereits bei meinem Sieg. Doch so langsam wie er noch war, scheint er jetzt nicht mehr zu sein, als er mir den ersten Hieb in meine Schnauze verpasst. Seine Krallen bohren sich in mein Fleisch und zerfetzen meine Haut. Aber genau das wollte ich. Gib deinen Gegnern die Sicherheit einer Chance, dann kannst du sie überraschen.
Ich spüre den bitteren Geschmack bei diesen Worten, denn diese Weisheit hat mir ER beigebracht. Mein Erzeuger.
Die Verletzung schmerzt und ich kann die metallische Note in meinem Blut schmecken. Als er erneut zuschlagen will, nutze ich jedoch meine Chance und setze zum Gegenschlag an. Gekonnt weiche ich seinen Krallen aus und fasse ihn an seinem Unterarm. Ich lasse meine Zähne mit einer geballten Kraft langsam und schmerzhaft in sein Fleisch gleiten. Ich schmecke sein Blut in meinem Mund. Doch er hat mehr Kraft und Reaktionsfähigkeit, als ich geglaubt habe. Denn er schlägt mit seinem anderen Arm die Krallen in meinen Rücken. Ich zucke kurz zusammen, aber ich wäre nicht ich, wenn ich den Schmerz nicht verdrängen könnte. Also löse ich meinen Biss und fasse nach seinem anderen Arm, in den ich jetzt ebenfalls meine langen Reißzähne in sein Fleisch bohre. Er will seine Hand befreien, doch dadurch verletzt er sich nr noch mehr.
Daraufhin holt er mit der anderen Hand aus und schlägt auf meine Schnauze. Ich will durchhalten, doch ich höre und spüre, wie ein Knochen in meiner Schnauze bricht. Also lasse ich los und weiche einen Schritt zurück bevor ich erneut angreife. Dieses Mal werde ich ihn nicht laufen lassen. Meine Wut ist nicht mehr kontrollierbar. Ich werde endgültig mit diesem Abschaum abschließen. Ich werde ihn töten. Ich werde ihn dorthin schicken, wo er hingehört. In die Hölle, zu all dem anderen Bösen.
Ich umkreise ihn angriffsbereit. Versuche ihn zu provozieren. Ich will, dass er zuerst angreift. Er soll auf mich zukommen. Er soll mit dem Gewissen sterben, dass er selbst für alles verantwortlich ist. Er soll endlich spüren, was er mir angetan hat. Was er Mutter und Lexa angetan hat. Er hat unser Leben zerstört.
Dann endlich, so wie ich es erhofft habe, kommt er auf mich zu. Ich kann das Zucken seiner Muskeln sehen und weiß mit welcher Hand er gleich auf mich losgehen wird. Ich bereite mich vor und innerlich sehe ich schon meine Zähne in seiner Kehle und ich höre seinen letzten Atemzug. Ich werde dieses Arschloch töten. Das hätte ich schon viel früher tun sollen. In dem Moment, in dem er ausholen will, springe ich hoch. Er landet mit einem dumpfen Knall auf seinem Rücken und mit meinen Pfoten fixiere ich ihn, bis er sich nicht mehr bewegen kann. Ich bin bereit ihn zu töten. Ihm die Kehle herauszureißen. Ich bin so wütend und die Wut scheint mich vollkommen einzunehmen.
Ich sehe seine Augen vor mir und doch scheint es, als würde sich der Ausdruck in seinem Gesicht verändern. Es ist plötzlich etwas Menschliches darin zu erkennen und ich zögere ohne es zu wollen.
Plötzlich spüre ich einen Schmerz in meinem Rücken. Es brennt höllisch und ich kann mir diesen Schmerz nicht erklären. Doch als ich an mir hinunter blicke, sehe ich einen langen spitzen Gegenstand der sich durch meine Brust bohrt. Ich kann nicht mehr atmen und dennoch schaffe ich es, mich umzudrehen und den Verursacher dieser Verletzung zu sehen. Meine Augen scheinen mich nicht zu täuschen, als ich dieses Gesicht vor mir erblicke. Und schon spüre ich, wie sich mein Körper wieder in Menschengestalt verwandelt. Ich spüre, wie sich meine Energie und meine Kräfte verabschieden. Ich spüre, wie das Leben aus mir weicht und ich sehe nur noch eine Sache, als ich meine Augen schließe. Anna. Sie formt die Worte mit ihren Lippen und es klingt wie ein Abschied für lange Zeit.
„ICH WARTE AUF DICH“