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Irgendwo im hintersten Teil meines Kopfes kann ich leise das beruhigende Gezwitscher der Vögel wahrnehmen. Meine Augenlider sind schwer und ich muss mich echt bemühen, sie zu öffnen. Die Nachwirkungen des Whiskey’s lassen nicht lange auf sich warten, als sich der stechende Schmerz in meiner Stirn breitmacht. Kurz überlege ich, ob ich geträumt habe. Nach einer weiteren Sekunde wird mir jedoch klar, dass es wirklich passiert ist. Ich habe ihn wiedergesehen. Überglücklich setze ich mich auf und meine Mundwinkel wandern automatisch nach oben. Mein Kopf dröhnt zwar noch immer, jedoch lässt es sich mit dieser Erinnerung leichter aushalten.
Als ich die türkisfarbenen Vorhänge zur Seite schiebe, strahlt mir die Sonne ins Gesicht und ich muss kurz meine Augen zusammenkneifen. Zuviel Licht für meine Augen. Ich weiß, ich sollte mir nichts darauf einbilden, dass er mich begleitet hat. Aber mein Verstand ist heute nicht so stark wie mein Herz und so lasse ich mich auf dieses Gefühl ein. Das Gefühl, dass man glücklich nennt.
Sandra. Ich muss sie anrufen. Ich gehe wieder zurück zu meinem Nachttisch und will nach meinem Telefon greifen, als ich sehe, dass es nicht mehr dort ist, wo ich es gestern abgelegt habe. Stattdessen liegt es auf dem alten Holzboden. Ich war wohl echt durch den Wind gestern Abend. Vom Alkohol und auch von Alex. Vielleicht hab ich es einfach nicht mehr mitbekommen. Ich bücke mich, um es aufzuheben. Bei einem Blick auf das Display, entdecke ich zu meiner Erleichterung eine Nachricht von Sandra.
„Hi Anna. Sorry für Gestern. Aber ich war noch mit Lucas unterwegs, wenn du weißt was ich meine. ;-) Bitte sei nicht böse. Liebe und scharfe Biergrüße. Könnte heute sterben. Einfach zu viel getrunken. Bäh.“
Sie schafft es immer wieder, dass ich ihr nicht böse sein kann. Ich bin erleichtert, dass es ihr gut geht. Nicht das sie nicht auf sie aufpassen könnte, aber nach dem Vorfall gestern, bin ich irgendwie geschädigt.
Die Glücklichkeit und der Sonnenschein bestärken meinen Drang, etwas zu unternehmen. Also gehe ich zu meinem Schrank und nehme meine Laufsachen heraus. Auch wenn ich dabei wahrscheinlich fast sterben werde, habe ich Lust laufen zu gehen. Auch wenn ich schon viel zu lange nicht mehr gelaufen bin.
Als ich schon nach unten gehen will, fällt mir ein, dass ich meinen I-Pod vergessen habe. Ich gehe nochmal in mein Zimmer, mache ihn an meinem Shirt fest und bringe die Kopfhörer in Position. Zum Glück habe ich noch vorgestern ein paar Neue Lieder rauf geladen. Eine frische Brise, die ich dankend in meine Lungen atme, weht mir um meine Nase, als ich die Tür öffne und nach draußen gehe. Ich liebe diesen Geruch. Es riecht nach Frühling. Es ist, als würde alles wieder einen Neustart wagen. Die Blumen fangen an zu blühen und alles erwacht wieder zum Leben. Genauso wie ich gerade. In diesem Moment habe ich das Gefühl, dass mir niemand etwas antun könnte. Ich fühle mich so stark wie schon lange nicht mehr und ich glaube zu wissen, woher dieses Gefühl kommt.
Als ich loslaufe, höre ich lautstark Your Girl von Tourist. Es ist einfach eines der Lieder, die ich gerne beim laufen höre. Fürs Erste habe ich vor eine kleine Runde zu laufen. Zum See und wieder zurück. Das sind um die fünf Kilometer und ich hoffe wirklich, dass ich noch nicht so dermaßen außer Form bin wie ich denke und es schaffe.
Nach etwa zwanzig Minuten komme ich am See an. Ich bin wirklich aus der Übung, früher habe ich nur um die zehn Minuten bis hierhin gebraucht. Mein Puls rast und ich ringe nach Luft. Ich fühle mich wie achtzig. Ich muss unbedingt wieder mehr für meine Ausdauer machen. Zu meinem Glück ist der alte riesige Baumstumpf noch immer da und ich lasse mich erschöpft darauf nieder. Das Wasser ist so klar, dass ich am liebsten hinein springen möchte, wenn es nicht so kalt wäre. Das hier ist mein Lieblingsplatz. Dieser Platz ist im Sommer so dicht bewachsen, dass man das Gefühl hat alleine in einer eigenen Welt zu sein. Ich bin früher, als ich noch mit Jaimie befreundet war, jeden Tag im Sommer hier gewesen. Es war unser Treffpunkt und gerade als diese Erinnerungen durch meinen Kopf schießen und ich über den See blicke, erkenne ich ein Stück weit weg eine Gruppe von Leuten. Ihr lachen schlägt sich über die Wasseroberfläche als wären sie ganz nahe. Sie sitzen auf den Ladeflächen der Pick Up's, die sie vor dem Ufer geparkt haben. Als ich genauer hinsehe, kann ich Jaimie's Wagen erkennen. Es war ja klar, dass bei diesem traumhaften Tag nicht nur ich an den See komme. Die Zeit vergeht und ich komme wieder zu Atem. Jedoch kann ich meinen Blick nicht von den Leuten lösen. Einerseits sind es die Erinnerungen an ein unbeschwertes Partyleben und andererseits ist es dieser eine Typ, der mich nicht wegsehen lässt. Er hat eine sehr große Ähnlichkeit mit Jemandem, den ich nicht aus meinen Kopf bekomme und als er sich umdreht, bin ich mir zu meinem Ärger sicher. Es ist dieser Typ. Dieser eine verdammte Typ, der mir gegen meinen Willen den Kopf verdreht hat. Alex.
Er steht neben Jaimie und lässt seine Hand locker auf ihre Schultern gleiten. Mein Magen dreht sich bei diesem Anblick und ich spüre ein Stechen in meiner Bauchgegend. Es verletzt mich. Dieses Bild vor meinen Augen, bereitet mir Schmerzen, die ich eigentlich nie wieder spüren wollte und doch bin ich schwach. Ich weiß ich habe kein Recht darauf, zu urteilen mit wem er sich abgibt und mit wem nicht. Aber ausgerechnet Jaimie? Ich bin gerade sauer auf mich selbst. Wieder einmal spüre ich die Wut, die ich noch immer auf Jamie habe. Um diesen Anblick nicht noch länger ertragen zu müssen, stehe ich auf und gehe bis ans Ende des kleinen Stegs um mich etwas abzulenken.
Die Holzbalken des Steges knarren, als ich darauf trete. Als ich am Ende des Stegs, der mitten in den See führt, angekommen bin, setze ich mich auf die alten rauen Holzbretter. Um mir weitere Schmerzen zu ersparen, setze ich mich so, dass mein Rücken ihnen zugewendet ist. Meine Füße baumeln über der Wasseroberfläche und ich schaffe es wirklich mich ein wenig zu beruhigen und das Ganze aus der sachlichen Ebene zu betrachten. Bis sich mein Blick auf das Wasser richtet und dabei etwas entdeckt. Ein dunkler Schatten im Wasser. Doch so schnell wie ich ihn gesehen habe. Ist er wieder weg. Vielleicht war es nur ein großer Fisch? Da meine Neugier nicht nachlässt, beuge ich mich nach vorne und sehe nochmals genauer hin, als ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Ich erschrecke so dermaßen, dass ich fast in das Wasser falle. Hätte er mich nicht mit seiner zweiten Hand festgehalten, wäre ich vor seinen Augen im See gelandet. Es sind diese Verdammten blauen Augen, die mir den Verstand rauben, als ich ihn erblicke.
Obwohl ich lieber weiter der Musik lauschen möchte, um nicht von seiner tiefen Stimme hypnotisiert zu werden, nehme ich meine Kopfhörer ab.
„Hätte ich gewusst, dass du so auf mich reagierst, hätte ich das schon früher gemacht.“
Ein breites Grinsen legt über seine Züge und er betrachtet mich, als würde er sich über mich lustig machen. Das hat mir gerade noch gefehlt. Zuerst hängt er mit Jaimie ab und dann macht er sich zu allem Überfluss auch noch lustig über mich. Ich würde ja wirklich gerne freundlich zu ihm sein. Würde ihn gerne wie einen guten Bekannten behandeln. Aber meine Verärgerung macht mir einen Strich durch die Rechnung. Es ist einfach schmerzhaft, wieder einmal einen Menschen, den ich gerne habe an Jaimie zu verlieren. Aber ich kann ihm ja auch nicht böse sein. Es ist seine Entscheidung und es ist ja nicht so als wären wir zusammen. Auch wenn ich mir in meinem kranken Hirn schon so einige Sachen zusammen gereimt habe. „Verdammt Anna. Hör endlich auf, daran zu denken. Er ist genauso ein Arschloch wie alle anderen.“ Meine innere Stimme verflucht mich gerade. Verflucht meinen Körper, dass er so auf ihn reagiert.
„Du hast mich fast zu Tode erschreckt. Was machst du hier?“
Ich weiß zwar was er hier macht, aber ich will es trotzdem von ihm hören. Fast so als würde ich mich gerne selbst verletzen. Als würde ich nochmals einen Stich in mein Herz brauchen um die Gefühle in mir abzutöten. Damit ich nicht noch mehr von seinem Blick eingenommen werde, wende ich meinen Blick dem Wasser unter meinen Füßen zu. Alleine schon seine Berührung durchfährt mich immer wieder wie ein Elektroschock. Ein angenehmer elektrischer Schock. Als er sich niederlässt und sich neben mich setzt berühren seine Finger die meinen. Doch ich kann es nicht zulassen. Alleine mit dieser Berührung könnte er alles von mir verlangen und ich würde wahrscheinlich auch noch ja sagen. Also ziehe ich meine Hand wieder zurück.
„Bin mit einem Freund hier. Was machst du hier?“
„Ich war laufen.“
Mit einem Freund also? Ich weiß nicht, ob Jaimie ein Freund ist. Aber ich zwinge mich, nicht darüber nachzudenken. Ich will einfach, dass er wieder geht und mich alleine lässt. Also mein Verstand will das. Mein Körper und mein Herz wollen natürlich wieder einmal das Gegenteil. Wollen dass er bleibt.
Als ich plötzlich wieder etwas im Wasser sehe, springe ich auf. Ich bin mir sicher, da war etwas und es ist kein Fisch. Ich will es nicht glauben, aber es hat ausgesehen wie ein Mensch? Wie ein Körper? Verdammt, jetzt bringt er mich schon vollkommen durcheinander und lässt mich wirklich verrückte Dinge sehen. Langsam steht auch Alex auf und sieht mich an, als würde ich sie nicht mehr Alle haben. Als würde ich jetzt komplett abdrehen.
„Was ist los?“
Ich kann es ihm nicht erklären, denn es ist wieder weg und ich glaube es ja selbst kaum. Aber ich habe doch etwas gesehen? Um mir sicher zu sein, gehe ich nach vorne, zum Rand des Stegs. Um es besser erkennen zu können, beuge ich mich wieder nach vorne und richte meinen Blick wieder auf das Wasser unter mir.
Ich erschrecke. Mein Herz setzt aus. Scharf ziehe ich den Atem ein und versuche dieser Sache unter der Oberfläche aus dem Weg zu gehen, indem ich vor Schreck zur Seite hüpfen will. Da ich genau am Ende des Stegs stehe, passiert es. Ich falle ins Wasser, dass mich sofort einhüllt in eine Kälte, die mich noch mehr erschrickt als diese Augen. Die Panik überkommt mich. Ich will mich nach oben bewegen. Will weg von diesem eiskalten Wasser. Doch ich kann nicht. Es ist, als würde mich irgendetwas festhalten. Als würde mich Etwas nicht gehen lassen wollen und dann erhalte ich einen Anblick, der mich erstarren lässt. Ein menschlicher Körper. Direkt vor meinen Augen. Der Anblick ist grausamer als die Kälte. Aufgedunsen vom Wasser, die Augen weit geöffnet. Sie starren mich an, leer und ohne Leben. Aber dennoch starren sie mich an. Keine Hände. Der Oberkörper völlig zerfetzt. Man kann die noch übrigen Innereien sehen. Dass was davon übrig ist. Die langen Haare, die wie kleine friedliche Wellen im Wasser schweben, lassen darauf schließen, dass es sich um eine Frau handelt. Ich bin wie gelähmt. Bekomme keine Luft und kann mich nicht bewegen. Ich spüre, wie ich plötzlich ruhig werde. Wie mich nicht's mehr zu verletzen scheint. Dann schließe ich meine Augen und eine Dunkelheit umgibt mich.
„Anna, verdammt nochmal. Bitte atme, komm schon.“
Die Stimme wiederholt sich immer und immer wieder. Stört mich in meiner Ruhe. Langsam aber sicher kehre ich jedoch wieder zurück zu meinem Körper und versuche mit all meiner verbliebenen Kraft meine Lider zu öffnen, die sogleich in besorgte blaue Augen blicken. Spüre wie sich weiche Lippen auf meine legen und warmer Atem in meine Kehle dringt. Warme Hände legen sich auf meinen Brustkorb und ich beginne die Flüssigkeit wieder hoch zu würgen. Ich muss husten und drehe meinen Kopf zur Seite. Ich kann spüren, wie das warme Wasser aus meinen Mund fließt. Ich bekomme fast keine Luft und mir ist eiskalt. Alex’s warme Handfläche legt sich auf meine Wange und ich erkenne einen Funken Erleichterung in seinem Blick. Meine Zähne klappern mit einem zu lautem Geräusch aufeinander und vollkommen außer Atem versuche ich die einzigen Worte über die Lippen zu bringen, die mit gerade so wichtig erscheinen.
„Alex, eine Frau. Da ist eine Frau im Wasser.“
Mein ganzer Körper zittert und ich bin mir nicht sicher ob es von der Kälte oder von dem Schock, über das, was ich gesehen habe kommt. Meine Klamotten und meine Haare sind komplett durchnässt. Langsam lässt er seine warmen Handflächen unter meine Arme gleiten, um mir dabei zu helfen, mich aufzurichten. Dann lässt er seine fast schon heißen Finger unter meine Jacke gleiten, die förmlich auf meiner Haut klebt, um sie mir auszuziehen. Er lässt mich los und reicht mir seinen grauen Pullover, den er vorhin am Steg abgelegt hat. Er hilft mir dabei, ihn mir anzuziehen. Er ist warm und weich als ich ihn auf meinem ausgekühlten Körper spüre. Seine Finger streichen zärtlich eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Dann nimmt er das Telefon, dass ebenfalls auf dem Steg liegt. Er muss die Sachen blitzschnell abgelegt haben, bevor er mich aus dem Wasser gezogen hat, denn der Rest von seinen Klamotten ist ebenfalls vollkommen durchnässt.
„Ja. Hallo. Hier spricht Alex Bethlen. Meine Freundin hat hier im See etwas entdeckt. Es könnte eine Leiche sein. Könnten Sie bitte jemanden vorbeischicken?“
Nach diesem Gespräch, wirft er sein Telefon unachtsam auf den Boden, als er sich neben mich setzt und sich dabei unsere Schultern berühren und mich wieder einmal dieses Gefühl überkommt. Dieses Mal fühle ich jedoch etwas anderes. Etwas dass mich beruhigt. Langsam und erschöpft lasse ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken, als er seinen Arm um mich legt, um mich damit näher an ihn zu ziehen. Sein Kinn legt sich sanft auf meinen Kopf und der warme Atem auf meinen nassen Haaren, lässt mich erneut erschaudern.
Doch plötzlich schleicht sich in dieses angenehme Gefühl wieder dieses Bild in meine Gedanken. Das Bild dieser leblosen, trüben Augen, die mich anstarren und mir Angst einjagen.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause.“
Er flüstert in mein Ohr und drückt mich dabei noch fester an sich. Auch wenn ich völlig durchnässt bin und mir eiskalt ist. Ich will hierbleiben. Ich muss wissen ob das, was ich gesehen habe, Real ist.
„Ich will bleiben. Ich muss es wissen.“
Ich schüttle meinen Kopf und sein Ausdruck lässt erahnen, dass er nicht wirklich von meiner Entscheidung erfreut ist. Doch er scheint es zu akzeptieren und drückt mich mit einem Nicken wieder an sich.
Nach einer halben Stunde in den Armen von Alex, kommen die ersten Taucher an, um nach der Frau zu suchen. Die Polizei ist schon nach einigen Minuten vor Ort gewesen und hat mich gefragt, was ich gesehen habe. Sie sind meinem Hinweis nachgegangen, haben aber nichts gefunden. Darum haben sie die Taucher angefordert, auch wenn der kleine untersetzte Beamte mich nicht wirklich ernst genommen hat.
Alex sitzt noch immer neben mir und streichelt sanft über meinen Rücken. Wenn ich das jetzt nur genießen könnte. Aber der Gedanke über diese Leiche behält Überhand. Ich weiß jetzt schon, dass sich dieses Bild auf ewig in meinem Kopf eingebrannt hat und ich es immer und immer wieder sehen werde. Mittlerweile haben meine Zähne aufgehört zu klappern. Ein netter Polizeibeamter hat mir vorhin eine Wärmedecke um die Schulter gelegt. Aber ich zittere immer noch, da ich völlig ausgekühlt bin. Einige Schaulustige haben sich schon angesammelt und obwohl die Beamten versuchen, die Leute wegzuschicken, bleiben sie weiterhin hartnäckig stehen. Irgendwie bin ich drauf und dran, an dem zu zweifeln, was ich gesehen habe. Es fühlt sich an, als würde ich einen verrückten, kranken Traum durchleben.
Doch nach etwa einer Stunde ist jeder Zweifel vernichtet. Die Taucher kommen ans Ufer und geben den Beamten ein Zeichen. Sie haben sie. Es ist diese Leiche. Um niemandem diesen schrecklichen Anblick aufzuzwingen, legen sie sofort ein großes Tuch darüber. Bei diesem Anblick, drücke ich mein Gesicht an Alex’s Brust und schließe meine Augen. Ich will es nicht sehen. Nicht noch einmal.
„Ich werde dich jetzt nach Hause bringen.“
Seine Hände wandern unter meinen Körper und er hebt mich mit seinen starken Armen nach oben. Mit der Decke um mich gewickelt und meinem Kopf an seinem Hals, trägt er mich zu einem Wagen. Seinem Wagen. Er hält mich an meiner Taille fest, als er mich sanft vor dem Wagen wieder absetzt. Dabei streift mein Gesicht an seinem und für einen kleinen Moment spüre ich seinen Atem auf meinen Lippen und sein Griff an meiner Hüfte wird fester. Er ist so nahe, dass ich ihn überall fühlen kann. Doch meine Neugier scheint stärker zu sein und so blicke ich nochmals zurück, nur um mich zu vergewissern, dass ich nicht alles geträumt habe. Aber der Anblick lässt mich nicht wieder los, als ich plötzlich wieder diese leeren Augen vor mir sehe. Sie haben sich in mein Gedächtnis gebrannt.
Doch auch wenn ich diesen Anblick nicht ungeschehen machen kann, lassen mich die warmen Finger an meinem Kinn den Blick abwenden und in diese wahnsinnig blauen Augen blicken, die es schaffen, dieses Bild für eine Sekunde zu verdrängen. Sie scheinen voller Reue und Trauer zu sein. Als würde er fühlen, was ich fühle.
Der Pullover riecht so gut, am liebsten würde ich meinen Kopf darin vergraben. Es ist der Geruch von Alex. Eine Mischung aus lauen Sommernächten und klarer Waldluft.
Endlich sitze ich im Wagen und das Geräusch der Lüftung, die auf höchster Stufe läuft, lässt mich auf etwas Wärme hoffen. Aber auch trotz seines flauschigem und gut riechenden Pullovers, ist mir noch immer kalt. Der schwarze GTO startet mit einem lauten Brummen und mit ernstem Gesichtsausdruck fährt er los.
„Ist dir warm genug?“
Seine Stimme klingt besorgt und auch beruhigend. Meine Schultern heben sich zu einem Zucken, da ich gerade kein Wort über meine Lippen bringe. Besser gesagt ich will einfach gerade nicht sprechen. Am liebsten würde ich mich in der hintersten Ecke meines Zimmers verkriechen und darauf warten, dass alles wieder gut wird. Genauso wie ich es nach dem Tod meiner Mutter gemacht habe. Aber nun muss Alex’s Pullover dafür sorgen, dass ich mich verkriechen kann. Also stecke ich mein Gesicht noch weiter in den Kragen des Pullovers und lege den Kopf an die kalte Scheibe um meinen Blick über die Landschaft schweifen zu lassen.
Die plötzliche und dennoch sanfte Wärme seiner Handflächen auf meinem Oberschenkel lassen mich wieder etwas von diesen Bildern in meinem Kopf abschweifen und das darauffolgende Gefühl, dass mich durchfährt, als ich seine Blicke auf mir spüre, lässt mich wieder etwas Wärme in meinem Herzen empfinden. Noch immer frage ich mich, wieso er das für mich macht. Wieso er mich nicht einfach den Händen der Polizei überlassen hat.
Durch das plötzliche verstummen des monotonen Motorgeräusches werde ich wieder ein wenig in die Realität zurückgeholt und bei einem Blick auf das weiße Haus, wird mir klar, dass die Nähe zu ihm nun vorüber ist und ich mich wieder alleine meinen Gedanken stellen muss.
„Anna, wir sind da.“
Er winkt mit seinen Händen vor meinem Gesicht herum, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Doch ich bin in meinen Gedanken verloren. Mein Körper hat sich noch immer nicht erholt und mein Geist noch weniger. Wenn ich daran denke, jetzt wieder alleine zu sein müssen, sperrt sich jeder Muskel in meinem Körper.
Das dumpfe Geräusch als er die Fahrertür schließt, lässt mich aufschrecken. Schon spüre ich die Einsamkeit. Doch diese hält nicht lange an, denn einige Sekunden später, öffnet sich die Tür an meiner Seite und weiche Fingerkuppen streichen über meine Wange. Sein Atem legt sich auf meine Wange und seine Hand wandert an meiner Hüfte zu dem Verschluss des Gurtes, denn er daraufhin öffnet. Noch immer bin ich unfähig mich zu bewegen. Langsam und vorsichtig schieben sich seine Hände unter meinen Körper und als würde ich nichts wiegen, hebt er mich aus den Wagen.
Vor der Eingangstür angekommen, stellt er mich vorsichtig wieder ab und seine Hände legen sich auf meine Hüften. Seine Lippen sind nun so nahe, dass sich der Minzige Geruch seines Atems in meine Nase schleicht.
Schnell bemerke ich, dass er nur nach meinem Schlüssel sucht, den ich in meiner rechten Jackentasche eingesteckt habe. Auf eine gewisse Art und Weise bin ich nicht anwesend. Doch durch seine Nähe fühle ich mich wieder ein Stück weit in die Realität zurückgeholt. Es ist, als wäre mein Geist irgendwo auf der Strecke geblieben und mein Körper ist jetzt hier und nur seine Nähe könnte meinen Geist wieder zu meinem Körper führen.
Wie ferngesteuert folge ich seiner Gestalt, als wer die Tür öffnet und meine Hand mit seiner umgreift. Noch immer blitzen die Erinnerungen an diesen Anblick durch meine Gedanken und lassen mich jedes Mal erschauern.
In der Wohnung angekommen, legt Alex den Schlüssel am Küchentisch ab und zieht seine Schuhe aus. Als er bemerkt dass ich noch immer wie angewurzelt auf dem Fleck stehe, wo er meine Hand losgelassen hat, kommt er wieder auf mich zu. Er nimmt meine Hand und mit einem zielstrebigen Blick sucht er die Wohnung ab um mich langsam nach sich zu ziehen. Noch immer scheint mich die Kälte zu überwältigen und erst nach einigen Sekunden wird mir klar, dass wir uns jetzt im Badezimmer befinden. Sein Blick richtet sich wieder auf mich und seine mittlerweile wieder trockenen Haare habe sich in ein wildes Durcheinander verwandelt, dass ihn nur noch geheimnisvoller aussehen lässt.
„Du musst die nassen Sachen ausziehen. Komm schon.“
Unter anderen Umständen hätte sich dieser Satz sicher komisch angehört, aber unter diesen nicht wirklich. Ich nicke nur mit dem Kopf, aber ich schaffe es nicht, mir etwas auszuziehen. Schaffe es nicht, meinen Körper zu einer Bewegung zu zwingen. Ein leiser Seufzer kommt über seine Lippen und seine warmen Handflächen schieben sich langsam unter den Pulli, den ich trage, um ihn mir auszuziehen und ihn an dem Haken der Tür zu hängen. Dann folgen meine Schuhe und meine Socken. Ohne mich auch nur einmal zu wiedersetzen, lasse ich alles über mich ergehen. Irgendwie fühle ich mich so taub. Abgestumpft. Dann stoppt er und sieht mich mit fragendem Blick an. Auch wenn ich unter anderen Umständen Scham empfunden hätte, empfinde ich nichts dergleichen, als ich jetzt nur noch in meiner Laufhose und einem Shirt vor ihm stehe.
Er geht zu der Dusche und ich kann hören, wie er das Wasser aufdreht, dann kommt wieder zu mir und nimmt meine Hand. Mein Blick ist leer und ich habe keine Lust auf irgendetwas. Ich will einfach nur vergessen, was passiert ist. Ich würde diesen Moment sicherlich genießen, wäre es ein anderer Tag, eine andere Situation. Sein Blick wirkt wieder dunkler als vorhin und sanft legen sich seine Hände wieder an meine Hüfte. Seine Finger wandern sanft unter mein Shirt und berühren die nackte Haut darunter. Die Berührung fühlt sich an, als würde ich mit seiner Wärme aufgefüllt werden und ohne es aufhalten zu können, legt sich eine Gänsehaut auf meinen Körper. Langsam und sanft zieht er mir das Shirt über den Kopf, sodass ich jetzt nur noch mit meinem schwarzen Sport-BH vor ihm stehe. Noch immer muss mein Blick leer sein. Noch immer muss ich an dieses Bild denken und noch immer ist mein Geist irgendwie abwesend. Dann ergreift er meine Hand und schließt seine langen Finger darum. Vor der Dusche bleibt er kurz stehen und zieht sich mit seiner freien Hand sein schwarzes durchnässtes Shirt über den Kopf. Bevor ich nachdenken kann, bewegen sich meine Augen auf seinen wohlgeformten, von schwarzer Tinte bedecktem Oberkörper. Dann hinunter zu der tiefsitzenden Jeans. Es ist krank, dass ich von so etwas abgelenkt werde. Denn jetzt scheint mein Geist plötzlich wieder da zu sein. Wieder zurück von diesem schrecklichen Ausflug.
Er stellt sich vor mich und sucht nach meinen Augen. Mit diesem Blick holt er mich wieder zurück. Zurück in die Realität. Es fühlt sich so ähnlich an, wie unsere erste Berührung. Als würde ich mich wieder mit Energie füllen. Ich weiß nicht wie er das macht oder ob es einfach nur ER ist, der mich so durcheinanderbringt. Aber er macht definitiv irgendetwas mit mir. Seine Augen fesseln mich, als er sich ein paar Schritte zurückbewegt und das dampfende Wasser über seinen Kopf und anschließend seinem Oberkörper hinunterfließt. Seine Hand vollführt eine leichte Bewegung um mich zu ihm zu ziehen und meinen Körper dicht an seinen zu drängen. Sofort spüre ich eine Wärme, die mich umhüllt. Spüre Schutz. Spüre wie das Wasser, dieses grausame Bild von aus meinen Gedanken wäscht.