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Da es Alex wieder einmal geschafft hat sich nicht zu melden, ist meine Traurigkeit darüber in vollste Verzweiflung umgeschlagen. Kein einziges Lebenszeichen von ihm. Keine Antwort auf meine Nachrichten und Anrufe. Die Woche ist vergangen und nun habe ich nicht einmal mehr meine Arbeit, die mich ein wenig von meinen Gedanken ablenkt, da es schon wieder Wochenende ist. Ich weiß, eigentlich müsste ich mich ja freuen. Aber ich kann einfach nicht, weil ich mich gerade so verloren fühle. Die Neugier, die anfangs nur eine kleine Flamme war, ist jetzt ein riesiges Feuer und ich kann es ohne Informationen niemals löschen.
Zu groß ist das Verlangen die Wahrheit zu erfahren. Die Wahrheit darüber ob Alex oder dieser Nathan für den Tod dieses unschuldigen Mädchens verantwortlich sind.
Was mich noch wütender macht, ist, dass er nicht mal auf meine verzweifelten Nachrichten reagiert hat. Was wird er sich wohl bei diesen Nachrichten denken? Die Antwort auf diese Frage ist wohl eindeutig, denn er wird sich denken, dass ich eine kranke Stalkerin bin. Dabei kann ich es nicht einmal abstreiten. Es ist, als würde die Grenze zwischen richtig und falsch, langsam in meinem Kopf verschwimmen. Jede Nacht quälen mich jetzt diese Träume. Träume von Samantha. Und in jedem, dieser verdammtem Träume, sieht sie mich an und bittet mich um Hilfe. Der Schlafmangel und diese Träume treiben mich noch in den Wahnsinn. Darum habe ich vor ein paar Tagen angefangen einen kranken Plan in meinem Kopf zu schmieden. Zuerst war es nur eine verzweifelte Lösung die Zeit zu überbrücken, aber jetzt wo ich immer verzweifelter nach einer Antwort suche, wird er immer realistischer. Ja es ist gefährlich und verrückt. Aber ich muss es herausfinden. Ich muss meine Gedanken beruhigen, um wieder ruhig schlafen zu können.
Der Anblick beim Inneren meines Schranks komme ich zu dem Entschluss dass ich bei Gelegenheit, wieder einmal mit Sandra einkaufen fahren sollte. Alles in diesem Schrank scheint nur schwarz zu sein und aus normalen Shirt's und Jeans zu bestehen. Mein erbärmliches Verlangen heute in eine andere Rolle zu schlüpfen, lässt mich nach einem alten Stück greifen. Ein Stück Erinnerung, an die Zeiten in denen ich noch mit Jaimie befreundet war. Nach einigen Sekunden in denen ich das schwarze kurze Kleid begutachte, ziehe ich es vom Kleiderbügel und zwänge mich in das enge Teil. Entweder ich bin nicht mehr so fit wie früher oder ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, so etwas Enges zu tragen. Um nicht ganz zu übertreiben, greife ich nach meinen schwarzen Boots, die zu meiner Freude keinen hohen Absatz haben. Denn damit sehe ich immer aus, als hätte ich Koordinations-Schwierigkeiten.
Heute parke ich meinen Wagen etwas weiter weg als sonst, da ich das Gefühl habe, ein kleiner Spaziergang würde meinen Gedanken für die Vorbereitung nicht schaden. Das Geräusch meiner Boots auf dem dunklen Asphalt übertönt anfangs noch die Musik die aus der Scheune dringt. Aber je näher ich komme, desto mehr bin ich von den Geräuschen eingenommen. Das Adrenalin verteilt sich immer mehr in meinem Blut und treibt mich somit noch weiter von der Realität weg. Die Hitze in der Scheune peitscht in mein Gesicht. Um mich daran zu gewöhnen, halte ich für einen Moment den Atem an und verharre auf der Stelle. Versuche mich, mit allem hier anzufreunden. Der tanzenden Menschenmenge. Dem Rauch, der mir dieses Mal nicht so angenehm erscheint wie sonst. Die Hektik der Barkeeper hinter den Tresen. Die Betrunkenen, die kaum noch stehen können. Die Mädchen, die sich an die Gruppe von gutaussehenden Jungs ran machen und dabei fast zu sabbern beginnen. Bei diesen Bildern kommt mir der Gedanke, dass keiner von ihnen wirklich weiß, welche Gefahren hier auf sie lauern. Dass unsere Welt nicht die Einzige ist. Sie alle sind so geblendet von ihrer Umgebung, dass sie die Wahrheit nicht mal erkennen würden, wenn sie vor ihnen steht. Aber vielleicht ist es ja das, was diese Welt verlangt. Ich selbst hätte diese Welt niemals wahrgenommen, wäre ich nicht einfach hinein geschubst worden. Okey, vielleicht eher hinein geschlagen. Genauso wie ich jetzt plötzlich aus meinen Gedanken gerissen werde, als mich Jemand unvorsichtig anrempelt. Ich blicke mich um und erkenne einen Mann, der vollkommen betrunken, von seinen Freunden hinausgeführt wird. Einer seiner Kumpels versucht sich bei mir zu entschuldigen und kommt mir dabei so nahe, dass ich kurzerhand einen Schritt zurückmache um seiner Berührung aus dem Weg zu gehen. Aber die Alkoholfahne schafft es sogar noch in dieser Entfernung, mir in die Nase zu kriechen. So viel zum Thema Alkohol. Ich nicke ihm nur verständlich zu und bin froh, als er aufgibt, mir noch näher zu kommen.
Dann versuche ich mich auf dem Weg zur Bar zu machen, der sich etwas schwieriger gestaltet als gedacht, da heute die Männer nicht versuchen mir aus dem Weg zu gehen, sondern sich einfach blöd grinsend vor mich stellen. Trotz allem schaffe ich es, mich an allen vorbei zu drängen. Erleichtert und vollkommen fertig lehne ich mich mit dem Rücken an die Bar, um kurz Luft zu holen. Das alles hat mich jetzt noch nervöser gemacht, als ich ohnehin schon war. Eine Berührung auf meiner Schulter reißt mich wieder aus den Gedanken und ich höre eine freundliche männliche Stimme hinter mir.
„Hey Süße. Du siehst aus, als könntest du etwas Starkes brauchen.“
Der blonde Barkeeper beäugt mich lächelnd und ich kann nicht anders, als zu nicken. Ich mag es nicht, wenn mich Jemand Süße nennt, aber bei ihm hörte sich das so verständnisvoll an. Auch wenn es sich vielleicht auch als billige Anmache herausstellen könnte. Aber ich habe das Gefühl, als würde er wissen, wie ich mich gerade fühle. Keine Minute später steht er mit einem vollen Glas vor mir.
„Geht auf's Haus. Süße.“
Wieder lächelt er mich an und rückt das Glas näher zu mir, bevor er sich zum Gehen wendet und ich ihm ein leises „Danke“ hinterher rufe. Ich dachte zwar, dass er es nicht gehört hat, aber ein leichtes Grinsen huscht über sein Gesicht, als er sich noch einmal zu mir umdreht.
Gut. Wirklich Gut. Jetzt habe ich zwei Dinge, die ich brauche und habe nicht einmal darum fragen müssen. Zum einen Alkohol, damit meine Nervosität sich vielleicht doch noch legt und zum anderen das Glas. Noch einmal blicke ich zur Tanzfläche und dann wieder zu dem Glas. „Komm Anna. Jetzt oder nie.“ Ich greife nach dem Glas und lege es an meine Lippen um noch eine Sekunde zu zögern bevor sich die brennende Flüssigkeit, die sich als Whiskey herausstellt, den Weg in meine Kehle bahnt. Kurz kneife ich die Augen zusammen und mache mich dann auf dem Weg zur Tanzfläche. Dort angekommen, spüre ich die verschwitzten, tanzenden Körper um mich herum. Der Bass der Musik reibt sich an meinem Trommelfell und ich atme noch einmal kurz tief ein, schließe meine Augen und versuche mich einigermaßen zu beruhigen. Versuche, mich auf das vorzubereiten was ich schon die ganze Woche in meinem Kopf durchgegangen bin. Langsam lasse ich das Glas zu Boden gleiten und höre nur dumpf, wie es am Boden zerbricht.
Jede freie Minute habe ich über alles Mögliche im Internet recherchiert, mit Bücher reingezogen und ich weiß jetzt, dass Nathan Blut braucht, um bei Kräften zu bleiben. Ich hoffe, dass diese Information auch wirklich der Wahrheit entspricht. Der traurigen, kranken Wahrheit über diese Welt. Daher bin ich mir auch sicher ihn hier zu finden. Denn wo sonst könnte er so viel Beute auf einmal haben? Und wie Alex schon sagte, mein Blut ist zu verlockend für ihn.
Meine einzige Hoffnung ist, dass er mir unter dieser Menschenmenge nichts antun wird. Alex sagte, dass sie sich den Menschen nicht zeigen. Ich hoffe, dies gilt auch für Nathan. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto verrückter kommt mir der Plan vor. Aber ich muss ihn finden. Der Drang die Wahrheit zu erfahren lässt mich das Risiko vergessen.
Die Menschen um mich herum scheinen so sorglos zu sein. So glücklich und in deren eigenen Welt. Wenn die doch nur wüssten, was eigentlich hier abgeht? Die Tanzfläche habe ich deswegen gewählt, weil ich hier am wenigsten auffalle.
Langsam gehe ich in die Knie, greife nach einer Scherbe vom Boden und atme tief ein. Kalt und spitz liegt die Scherbe in meiner Handfläche und bevor ich meine Finger darum schließe, lasse ich meine Lider zufallen. So als würde ich dadurch den kommenden Schmerz unterdrücken. Ohne nochmals zu zögern, schließe ich meine Finger noch fester um die Scherbe. Ich spüre, wie sie sich in meine Haut bohrt und auf mein Fleisch trifft. Spüre, wie sich langsam das warme Blut in meiner Handfläche sammelt. Ein Brennen zieht sich durch meinen Körper und ich versuche den Schmerz zu unterdrücken.
Es ist so surreal. Alle um mich herum tanzen, feiern, küssen sich, haben Spaß. Keine Seele bemerkt mich hier. Vielleicht werden sie dann auch nicht bemerken, wenn ich blutleer zu Boden falle. Erst jetzt versucht sich, mein Verstand wieder einzuschalten und mir diesen Plan zu vermiesen. Was wenn er mich einfach umbringen wird? Vielleicht ist es ihm ja scheißegal, ob er unter Menschen ist oder nicht. Er ist kalt. Er ist böse und er könnte mich mit einer einzigen Bewegung umbringen. Könnte mir meine Kehle herausreißen. Könnte mir mein Genick brechen. Könnte weiß Gott was tun. Was mache ich hier? Jetzt überkommt mich ein beklemmendes Gefühl. Dass Gefühl etwas wirklich Naives getan zu haben, es aber nicht mehr rückgängig machen zu können. Einen kleinen Moment lang sieht alles um mich aus, als würde die Zeit still stehen. Alles wirkt so friedlich.
Dann schließe ich nochmals meine Augen und versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Es war einfach eine Scheiß Idee und ich muss hier weg. Wahrscheinlich findet er mich sowieso nicht. Wieso sollte er hier sein? Das ist in etwas so, als würde ich das Wetter für das kommende Jahr prophezeien. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Als sich mein Verstand endlich dazu entschieden hat zu gehen, kann ich meinen Körper nicht mehr bewegen. Zwei starke Arme umschlingen meinen Oberkörper und lassen mir keinen Zentimeter, um mich zu bewegen. Als ich die Kälte spüre, die sich jetzt an meinen Rücken schmiegt, will ich mich wehren. Will weglaufen. Doch nichts davon ist nur im Geringsten möglich. Ich kann nicht. Und es sind nicht nur seine Hände, die mich zwingen zu bleiben. Es ist irgendetwas anderes, dass ich nicht erklären kann. Diese Berührung. Keine Menschenseele um uns herum scheint zu bemerken, dass dies keine Berührung unter Verliebten ist. Es ist ein Käfig, in dem ich mich befinde und ich habe dieses kranke Gefühl, dass es mir keine Angst macht, obwohl ich am ganzen Körper zittere und mein Verstand schon längst geflüchtet ist.
Die Berührung wird noch fester und die Hände legen sich sanft auf meinen Bauch. Verdammt. Warum bringt er mich nicht einfach um? Dann spüre ich, wie er seine Hüften an mir reibt und sich im Takt zur Musik bewegt. Langsam aber sicher kann ich seinen kalten Atem an meinem Ohr spüren. Es dauert auch nicht lange bis seine Lippen mein Ohrläppchen berühren und mich, ohne es zu wollen, ein Schauer überkommt. Das Kranke daran ist, dass ich nicht weiß ob dieser Schauer davon kommt, dass ich Angst habe oder dass mein Körper so unter seiner Berührung reagiert. Was ist nur los mit mir? Mit seinen Lippen direkt neben meinem Ohr spüre ich den Luftzug den er durch seine Worte verursacht und es lässt mich erneut am ganzen Körper ein Kribbeln fühlen.
„Entweder du bist selbstmordgefährdet oder du geilst dich an der Gefahr auf. Komm schon. Sag mir. Wirst du davon feucht da unten? Kleine Anna.“
Seine Hand wandert bei diesen Worten langsam zu dem Bund meiner Hose. Seine Stimme macht irgendetwas mit mir, dass ich mir nicht erklären kann. Einerseits schüchtert sie mich ein und andererseits kann ich davon nicht genug bekommen. „Anna. Jetzt reiß dich doch mal zusammen. Der Typ wollte dich umbringen und ist das reine Böse. Hast du vielleicht dieses Stockholm-Syndrom.“ Ich werde echt verrückt. Vielleicht bin ich es ja schon. Ich erkenne diese Stimme, es ist Nathan. Mein Herz springt mir fast aus der Brust. Ja jetzt habe ich Angst. Angst vor ihm und vor mir selbst. Wie kann ich das Ganze auch nur zulassen. Wieso schaffe ich es nicht, mich zu wehren?
„Du kannst jetzt aufhören zu zittern. Ich werde dich hier nicht umbringen. Auch wenn ich zu gerne all dein Blut, bis auf den letzten Tropfen, aus dir saugen möchte.“
Ich kann das Böse in seiner Stimme hören. Kann hören, dass er es ernst meint. Er würde mich wirklich umbringen. Es hämmert richtig in mein Ohr, als er es über seine Lippen bringt. Dann fährt er langsam mit einer seiner Handfläche zu meiner Schulter und von dieser dann sanft, zu sanft, über meinen Oberarm bis hin zu meiner blutenden Hand. Vor lauter Aufregung habe ich die Faust noch fester geschlossen und dafür gesorgt, dass sich die Scherbe noch weiter in mein Fleisch gebohrt hat. Erst jetzt spüre ich wieder diesen Schmerz. Gut. Denn er lässt mich langsam wieder zur Realität zurückkehren. Doch sein nächster Zug bringt mich wieder aus der Fassung. Denn er nimmt meine Handfläche und führt sie zu seinem Mund. Wider erwarten spüre ich nur ein leichtes Brennen und keinen Biss. Doch dann spüre ich, wie er das Blut aus meiner Wunde saugt. Ich versuche mich zu wehren, aber ich schaffe es nicht. -Anna konzentriere dich.- Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Also nehme ich all meinen Mut zusammen und stelle die eine Frage. Die Frage, auf deren Antwort ich schon eine gefühlte Ewigkeit warte.
„Hast du diese Frau im See umgebracht?“
Meine Stimme zittert vor Angst. Plötzlich löst er seinen Griff und dreht mich ruckartig um, sodass ich vor ihm stehe. Um in sein Gesicht zu blicken, muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Er hält jetzt meine Handgelenke fest, damit ich mich nicht wehren kann. Er sieht mir in die Augen und ich weiß nicht, was der Grund dafür ist, aber ich habe keine Angst mehr. Seine Augen verwirren mich einfach nur. Dieses blau und dieses grün, es ist so faszinierend. Und wieder ist es, als würde die Welt um uns still stehen. Mich überkommt eine Trauer, kaum auszuhalten. Was ist bloß los mit mir? Vor mir steht der Mensch, oder besser gesagt der Vampir, vor dem ich solche ungeheure Angst hatte. Und jetzt stehe ich vor ihm und Tränen fließen über meine Wangen.
Dann macht er etwas, dass mich überrascht. Er nimmt seine Unterlippe zwischen seine Zähne und schon sehe ich, wie sie sich hineinbohren und rote Flüssigkeit auf seinen Lippen erscheint. Langsam und ohne seinen Blick von mir zu lösen, zieht er meine verletzte Hand zu seinem Mund und küsst sie. Und küsst sie? Was soll das den jetzt schon wieder? Dann zieht er mich langsam an den Handgelenken zu sich, sein Mund berührt fast den meinen, als er an meiner Wange mit seinem Gesicht streift. Ich bin noch immer vollkommen perplex. Und dann macht er noch Etwas, dass mich vollkommen verwirrt. Mit einer fast schon liebevollen Bewegung streicht er mir meine Haare hinter das Ohr um mit seinem Mund wieder ganz nah zu meinem Ohr zu kommen. Ich kann mich nicht bewegen, ich bin ihm völlig ausgeliefert. Ich fühle mich zu ihm hingezogen, als würde mein ganzer Körper nur ihm gehören. Ich verstehe es nicht. Er berührt mit den Lippen sanft meinen Nacken, als er mir etwas ins Ohr flüstert und mich durchfährt wieder ein Schauer. Und auch wenn die Musik vorhin so laut war, höre ich ihn laut und deutlich. Wie ist das nur möglich? Es ist, als wäre alles um uns herum verschwommen. Es ist irgendwie, als wären wir in einer anderen Welt und keiner würde uns wahrnehmen.
„Also Anna. Eines kann ich dir versichern. Wenn ich Jemanden umbringe, dann wird man von der leblosen Hülle sicherlich nichts mehr finden. Kein. Einziges. Stück.“
Meine Gesichtszüge verändern sich mit einem Schlag und ich kann die Brutalität in seiner Stimme, förmlich spüren. Er weicht wieder zurück und seine Augen bedenken mich mit einem zu intensiven Blick, dass durch das Grinsen auf seinen Lippen nur noch unterstrichen wird.
„An deiner Stelle würde ich mal deinen Werwolf fragen.“
Und dann. Mit einem Mal, lässt er mich los, dreht sich um und verschwindet in der Menschenmenge. Ich stehe wie versteinert auf der Tanzfläche. Ich verstehe nicht, was diese Situation gerade, zu bedeuten hatte. Wie kann ich mich zu Jemandem hingezogen fühlen, von dem ich fast getötet worden wäre? Was war da gerade mit mir los? Und wieso fühle ich mich jetzt plötzlich so alleine?
Was hat er damit gemeint, dass ich Alex fragen soll? Ich kann und will nicht glauben, dass Alex diese Frau getötet hat. Ich weiß gerade gar nichts. Ich bin völlig durcheinander. Ich spüre wieder einen brennenden Schmerz in meiner Hand. Ach ja, ich habe meine blutende Hand vergessen. Ich suche in meiner Tasche nach einem Taschentuch. Aber als ich es auf die Wunde legen will, sehe ich keine mehr. Auch der brennende Schmerz ist verschwunden. Was zum Teufel? Ich wische das restliche Blut weg und suche vergeblich nach einer Wunde. Aber da ist rein gar nichts mehr. Nichts.
Nach einigen Sekunden, die ich stillschweigend auf meine -nicht mehr vorhandene- Wunde gestarrt habe, richte ich meinen Blick wieder auf meine Umgebung. Und diese schlägt zu, wie eine Faust mitten ins Gesicht. Denn es hat alles seinen normalen Lauf genommen. Niemand. Wirklich niemand ist sich dessen bewusst, was hier gerade abgegangen ist. Kopfschüttelnd dränge ich mich durch die Menschenmasse. Ich muss hier raus. Das Einzige was ich jetzt will, ist nach Hause zu fahren. Es war echt eine bescheuerte Idee und ich bin kein bisschen schlauer als vorhin.
Ich atme die kühle frische Luft tief ein, als ich vor der Scheune angekommen bin, dann mache ich mich auf dem Weg zu meinem Wagen. Plötzlich packt mich eine Hand fest an meinem Oberarm. Ich erschrecke, und rechne damit, dass es Nathan ist. Doch als ich mich umdrehe, werde ich eines Besseren belehrt.
Es ist Alex. Er steht vor mir, mit einem panischen Gesichtsausdruck.
„Anna, bist du lebensmüde? Was ist passiert? Geht es dir gut?“
Irgendwie freue ich mich, ihn zu sehen. Aber ich bin auch besorgt, über das, was Nathan zu mir gesagt hat. Alex könnte diese Frau umgebracht haben.
„Mir geht es gut. Danke der Nachfrage.“
Und obwohl ich mich ja insgeheim freue, ihn zu sehen, bin ich trotz allem wütend. Wütend, dass er mich schon wieder im Stich gelassen hat. Er hat sich nicht gemeldet. Er war nicht da, als ich ihn gebraucht hätte. Aber ich muss ihn fragen, ansonsten würde ich mir weiter den Kopf darüber zerbrechen.
„Wo warst du? Und was machst du hier?“
„Anna. Scheiße. Bitte sei jetzt nicht sauer. Versteh doch einfach, dass ich mich von dir fernhalten wollte. Ich wollte dich damit aus der Gefahrenzone bringen und dennoch bringst du dich selbst in Gefahr.“
Langsam schieben sich seine langen Finger durch seine dunklen Haare und in seinem Blick liegt Verärgerung.
„Du hast immer noch mein Blut in deinem Körper, somit kann ich spüren, wenn du in Gefahr bist. Das heißt, ich hätte dich auch so gespürt, nur nicht so intensiv.“
Das ist neu für mich, dass er spüren kann, wenn ich in Gefahr bin. Es klingt zu unrealistisch, aber nach den Vorkommnissen der letzten Wochen hat für mich alles eine andere Bedeutung. Was ist schon real und was nicht?
„Ich sollte selbst entscheiden können, ob du eine Gefahr für mich bist. Ich hasse es, wenn jemand für mich Entscheidungen trifft.“
„Ja. Verdammt. Ich hasse das auch. Aber dass heißt nicht, dass du dich in Gefahr bringen sollst. Was ist mit deiner Hand.?“
Erst jetzt blicke ich wieder nach unten zu meiner, noch immer mit Blut bedeckten, Handfläche. Alex umfasst meine Hand panisch und zieht sie näher an sich.
„Alex. Es ist Nichts.“
Er sieht mir tief in meine Augen, als er meine Hand sorgfältig begutachtet. Bei diesem unglaublich fürsorglichen Alex kann ich mir nicht vorstellen, dass er diese Frau getötet haben soll. Doch ich muss diesen Zeitpunkt nutzen. Ich muss ihn fragen. Muss es wissen. Weshalb sonst hat Nathan gesagt, ich sollte ihn fragen? Ja gut. Nathan ist nicht gerade eine vertrauenswürdige Quelle. Aber trotzdem hat er mit seinen Worten meine Gefühle für Alex vergiftet.
„Warst du es? Hast du diese Frau getötet?“
Die Worte kommen so plötzlich über meine Lippen, dass ich selbst erschrocken darüber bin. Aber ich brauche die Wahrheit. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck tritt er einen Schritt zurück. Es macht mir Angst, dieser Gesichtsausdruck, diese plötzliche Kälte in seinen Augen.
„Anna, wieso stellst du mir diese Frage. Wie kommst du auf die Idee, ich könnte die Frau getötet haben?“
„Nathan sagte, ich sollte dich fragen?“
Er packt mich an den Schultern, und sieht wütend aus. So habe ich ihn noch nie gesehen. Seine Augenfarbe verändert sich in ein so Dunkles blau, dass es fast schon aussieht wie ein dunkles – blutunterlaufenes Schwarz. Ich erschrecke und weiche zurück.
„Scheiße Anna. Warum sprichst du mit diesem verdammten Vampir? Das war es also, was ich gespürt habe. Du musst verrückt sein. Dich in solche Gefahr zu bringen. Hast du den völlig den Verstand verloren?“
Er klingt richtig wütend und auch sein Kiefer zuckt und passt sich seinem noch wütenderen Gesichtsausdruck an. Er macht mir Angst. Die Art von Angst, dass die Antwort auf meine Frage ein Ja sein könnte.
„Ich... Ich weiß. Aber du warst nicht da. Ich dachte, Nathan kann mir eine Antwort auf meine Fragen geben. Du hast nicht auf meine Nachrichten reagiert. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich muss herausfinden, was mit ihr passiert ist. Also warst du es oder nicht?“
„Hat er dich verletzt? Verdammt. Glaubst du, mir ist das leicht gefallen? Ich wollte dich einfach durch meine Nähe nicht in Gefahr bringen. Aber Nein. Anstatt dessen bringst du dich selber in Gefahr. Scheiße Anna. Ich verstehe dich nicht.“
Er läuft vor mir auf und ab. Es ist nicht zu übersehen, dass er stinksauer ist. Aber er hat mir auch noch keine Antwort auf meine Frage gegeben.
„Nein, ich habe mich selbst verletzt, um ihn anzulocken. Es hat funktioniert und er hat es komischerweise irgendwie verheilen lassen. Alex, hast du sie getötet?“
„Reicht, es dir nicht, was du alles durchgemacht hast, nachdem er dich verletzt hat? Musst du dir auch noch selbst wehtun? Ich bin so scheiß wütend auf dich. Wie kannst du nur so naiv sein?“
Er steht wieder vor mir, und sieht mich mit, seinen inzwischen wieder blauen Augen an. Aber noch immer habe ich keine Antwort auf meine Frage. Er scheint meinen verzweifelten Blick zu bemerken und kommt wieder auf mich zu.
„Und. Nein. Anna. Ich habe sie nicht getötet. Aber wenn du unbedingt wissen willst, wer es war, kann ich dir helfen es herauszufinden. Aber nur unter einer Bedingung.“
Er legt die Handflächen auf meine Wangen und sieht mich eindringlich an.
„Du wirst dich nie wieder in solch eine Gefahr bringen. Ist das klar?“
Ein kleines Nicken meinerseits scheint ihm als Antwort zu reichen, als er mich sogleich kurz an sich zieht und mir einen Kuss auf meine Stirn drückt. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Er war es nicht und ein kleines Lächeln huscht über meine Lippen. Aber er bleibt bei seiner eisernen Miene. Ich bin überrascht. Er macht sich ja doch Sorgen um mich.
„Wie willst du es herausfinden?“
„Ich habe Kontakte, die mir dabei helfen können. Ich werde für dich ein wenig recherchieren. Aber du darfst dich nie wieder in solch eine Gefahr bringen.“
Meine Augen sind noch immer auf seine gerichtet und zum Glück haben sich seine Mundwinkel etwas entspannt. Ich bin erleichtert darüber, dass er nichts damit zu tun hat und er mir helfen will.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause.“
Ich merke, dass Alex noch immer ein bisschen sauer auf mich ist. Aber ich weiß er wird sich beruhigen. Aber es löst ein ungewolltes Gutes Gefühl aus, wenn er so besorgt um mich ist. Und ich kann mir ein kleines, erleichtertes Grinsen, nicht verkneifen.
„Ich muss dich leider enttäuschen, ich bin mit meinem Wagen hier.“
Er kommt auf mich zu und und sieht mich mit seinem finsteren Gesichtsausdruck an. Ich werde nervös. Ich kann ihn nicht einschätzen. Er steht vor mir und ich kann seinen Atem auf meinen Lippen spüren. Er packt mich fest, mit beiden Händen an meiner Hüfte und zieht mich mit einem Ruck zu sich, sodass seine Hüfte auf meine trifft. Unsere Lippen sind nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt und seine tiefe Stimme dringt in meine Ohren..
„Mach so etwas nie wieder. Hast du mich verstanden? Ich wäre fast gestorben, vor Sorge um dich.“
Diese Worte, auch wenn sie noch so ernst und besorgt klingen, bringen mich zum Lächeln. Er sorgt sich um mich. Ich muss ihm etwas bedeuten. Seine Lippen berühren vorsichtig und zärtlich die meinen. Und doch bleibt es nur ein kurzer Kuss. Er tritt einen Schritt zurück und blickt jetzt mit einem, etwas sanfterem Gesichtsausdruck auf mich herab.
„Ich fahre. Du wirst heute nicht mehr fahren. Nicht nachdem was passiert ist. Ich bin sowieso ohne Wagen hierher gekommen.“
Er will wohl sagen, er ist auf allen vieren hierher gekommen. Bei diesem Gedanken wird mir wieder etwas unwohl und ich muss mich erst mit dem Anfreunden, dass er sich in einen Wolf verwandeln kann.
Vor meinem zu Hause angekommen, stellt er den Wagen ab und steigt aus. Keine Ahnung was er vor hat, aber ich bin definitiv nicht zu schwach um mir selbst die Tür zu öffnen und auszusteigen. Doch als ich die schwere Tür hinter mir schließe, spüre ich schon diesen dunklen Blick auf mir und seinen Körper, der sich an mich drängt. Sein Blick lässt mich zögerlich zurückweichen, bis mein Rücken das kalte Metall des Wagens berührt. Langsam drängt er mich mit dem Rücken zu meinem Wagen und ich spüre das kalte Metall hinter mir. Seine Hände sind plötzlich so dicht neben mir und seine Handflächen legen sich jeweils zu meiner Seite auf das Dach des Wagens, so dass ich ihm nun vollkommen ausgeliefert bin.
Sein Gesicht ist nun so nahe vor mir, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spüren kann. Ebenso dieser Blick, mit dem er mich bedenkt. Dunkel und verführerisch. Ich bin gefangen. Gefangen durch seinen Körper und durch seinen Blick. Alleine schon seine Anwesenheit lässt meine Körpertemperatur steigen. Ich kann das Knistern zwischen uns schon fast hören und bin mir nicht mehr so sicher, ob ich ihm nicht sofort um den Hals falle, wenn er mich jetzt nicht gleich küsst. Ich denke er weiß, was ich fühle. Den ein selbstgefälliges Grinsen legt sich auf seine Lippen und seine Augen beginnen mit mir zu spielen. Er beginnt mit mir zu spielen. Es ist fast so, als würde er nur darauf warten, dass ich zuerst meine Lippen auf seinen lege. Verdammt. Er ist echt gut. Fast schon gebe ich nach, als er mich plötzlich mit den Händen zu sich zieht und seine Lippen leidenschaftlich auf meine presst. Seine Lippen sind so warm. Fast schon heiß. Seine Zunge bahnt sich den Weg in meinen Mund und spielt mit meiner. Jetzt steigt meine Körpertemperatur um weitere Grade an und ich versuche, mich wirklich im Zaum zu halten. Jedoch kann ich meine Hände nicht kontrollieren und lasse sie ohne nachzudenken unter sein Shirt wandern. Unter meinen Fingern spüre ich, wie sich seine Bauchmuskeln bewegen und seine straffe glatte Haut darüber. Gar nicht gut Anna. Gar nicht gut. Er ist einfach viel zu verführerisch. Und gerade als ich mich wie eine Schlampe an ihn schmeißen will, löst er, ebenfalls außer Atem die Lippen von meinen. Seine Stirn lässt er jedoch noch angelehnt an meine und meine Hände wandern automatisch wieder unter seinem Shirt hervor. Auch wenn es mir wirklich schwerfällt diese Haut nicht mehr unter meinen Fingerkuppen zu spüren.
Unser heißer Atem begegnet sich auf halben Weg und ich spüre, wie auch er mit sich kämpft. Leise raunt er mir ins Ohr, als er mich wieder näher zieht.
„Anna. Ich muss jetzt gehen. Ich melde mich, wenn ich etwas herausgefunden habe.“
Mein Körper brüllt geradezu ein „Nein“. Doch mein Verstand sagt mir, dass es möglicherweise das Beste ist. Sonst wären wir hier noch mitten in der Einfahrt übereinander hergefallen.
„Ich hoffe es.“
Ich kann es mir nicht verkneifen. Ich habe Angst, dass er mich wieder im Stich lässt. Ich habe jedes Mal Angst, jedes Mal wenn er sich verabschiedet, habe ich Angst, dass ich ihn nie wieder sehe. Er umgreift mein Handgelenk und legt meinen Autoschlüssel in meine Handfläche. Danach dreht er sich um und verschwindet hinter der Gartenmauer unseres Nachbarn.
In meinem Zimmer angekommen, muss ich erst einmal die Ereignisse des heutigen Tages verarbeiten. Muss die Hitze von meinem Körper schütteln, die Alex's Kuss über mich gebracht hat. Dabei muss ich, ohne es zu wollen plötzlich an Nathan denken. Diese Gefühle, die über mich kamen. Ich kann es mir nicht erklären. Das Gefühl, ihn mehr als alles andere zu wollen, es ist einfach unverständlich für mich. Wenn ich jetzt gerade darüber nachdenke, fühle ich rein Garnichts. Aber in seiner Nähe waren die Gefühle und die Reaktion meines Körpers eindeutig. Genau dass ist es, was mich nachdenklich einschlafen lässt.