„Meine liebe Tochter,
Als die Ärzte mir an meinem einundzwanzigsten Geburtstag sagten, dass ich zu einer sehr großen Wahrscheinlichkeit keine Kinder bekommen könnte, brach für mich eine Welt zusammen. Schon immer wollte ich eigene Kinder haben, am besten ein Mädchen und einen Jungen. Dein Papa war ebenso ein Familienmensch wie ich. Ich liebte ihn abgöttisch. Doch würde er mich auch dann noch lieben, wo doch unsere gemeinsame Zukunft, die wir uns in rosaroten Bildern ausgemalt hatten, nun in tausend Scherben zerbrach?
Du solltest mich verlassen, sagte ich deinem Papa immer wieder, während die Tränen heiß über mein Gesicht liefen. Unwirsch wischte ich sie mir weg und starrte auf die vorbeiziehende Umgebung. Millionen Schneeflocken färbten die Umgebung in kaltes Weiß. Kein neues Leben würde unter diesen Umständen erwachen. Ich fühlte mich wie dieses kalte, tote Feld da draußen, unfähig die Knospen des Lebens wachsen zu lassen.
„Rede nicht so einen Müll. Warum sollte ich dich verlassen? Du kannst keine Kinder bekommen? Na und! Ich habe dich geheiratet und nicht das Versprechen an Nachwuchs."
Dein Papa fand immer die richtigen Worte, doch diesmal konnten sie mich nicht trösten. Ich würde niemals Mutter werden ...
Zwei Jahre später, ich hatte schon angefangen mit dem Studium, war ich erneut Scheinschwanger. Mein Körper wollte einfach nicht die Tatsache akzeptieren, dass mein Kinderwunsch nur ein Traum war. Mittlerweile hatte ich aufgehört Schwangerschaftstests zu kaufen, die ja eh wieder negativ sein würden. Wie immer stieg bei meiner vermeintlichen Gravidität Übelkeit in mir auf, als dein Papa Kaffee kochte und der Zigarettenrauch der anderen ließ mir das Blut aus dem Gesicht weichen. Meine Brüste spannten und wieder war ich fast 3 Wochen überfällig. Als dein Vater letzteres bemerkte, kaufte ich doch einen Test. Ich sagte ihm nicht, dass ich diesen gemacht hatte, während er früh den Tisch deckte. Dementsprechend überfordert hatte er mich angesehen, nachdem ich weinend aus dem Bad kam. Kein Wort brachte ich über die Lippen. Mit zitternden Händen reichte ich ihm den kleinen Stab, auf dem nach so langer Zeit plötzlich zwei Striche erschienen waren. Zwei Striche. Schwanger. Ich war tatsächlich schwanger. Fast ehrfürchtig streichelte er meinen Bauch, in dem gerade ein Wunder – unser Wunder – heran wuchs.
Wir gingen gemeinsam zu der Gynäkologin. Erneut musste ich einen Schwangerschaftstest machen. Mit klopfenden Herzen saßen wir im Warteraum. Was wäre, wenn es nur ein fehlerhaftes Ergebnis gewesen wäre? Doch als uns die nette Praxiskraft lächelnd zunickte, fiel uns ein Stein von der Seele. Wir wurden zu der Frauenärztin herein gerufen. Meine Hände waren feucht und erneut stieg in mir die Übelkeit. Wie oft hatte ich schon hier gesessen, weil ich felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass ich doch ein Kind in mir trug. Ich war nie schwanger gewesen ...
Jetzt saß ich nun wieder hier. Meine Beine gespreizt, während die Ärztin den vaginalen Ultraschallstab einführte. Dein Papa hielt meine Hand und gebannt schauten wir auf den kleinen Monitor. Zuerst erkannten wir nur einen Wirrwarr von grau-weiß-schwarzem Rauschen. Bis die Ärztin mit ihrem Finger auf einen kleinen Punkt zeigte. Da! Ein winziger Fleck, der rhythmisch pulsierte.
„Darf ich vorstellen: Ihr Kind."
Instinktiv fasste ich mir auf meinen Bauch und begann ihn zärtlich zu streicheln. Mein Kind. Mein Kind! Ich merkte erst, dass ich weinte, als dein Papa mir, selbst tränenverhangen, meine salzigen Zähren wegwischte. Eine unglaubliche innere Wärme durchflutete mich, erfasste mein Sein und strukturierte alles in mir um. Ich hatte nur noch dich im Kopf. Du mein Kind, mein Baby – mein Wunder. Was konntest du weniger sein als ein Wunder? Ich liebte dich. Schon als ich dein winziges Herz zum ersten Mal schlagen sah.
Wir posaunten es in die Welt. Jeder sollte es wissen, dass in mir nun zwei Herzen schlugen. Pünktchen nannten wir dich, weil du noch ein kleiner Punkt in meinem Körper warst. Mein Baby. Mein Kind. Mein Pünktchen.
Ich kaufte mir 15 Bücher, die mir helfen sollten eine perfekte Mutter zu werden. Deine Oma lächelte, denn sie wusste, dass ich als Mama nie perfekt werden würde.
„Liebe. Das ist das Wichtigste. Solange du dein Kind liebst und es immer zeigst, kannst du keine schlechte Mutter werden."
Und Gott ... Wie sehr liebte ich dich!
Drei Wochen nachdem uns die Ärztin von dir erzählt hatte, erwachte ich mit Bauchschmerzen. Es zog so stark in meinem Unterbauch, dass ich stöhnend in die Laken griff. Ich rief deinen Papa, der mich sofort in die Klinik fahren wollte. Als ich die Decke beiseiteschob, schrie ich auf. Das ganze Bett war voller Blut. Geschockt starrten wir beide auf das Farbspiel zwischen meinem roten Lebenssaft und dem weißen Laken. Panik stieg in mir auf und ich umfasste schützend meinen Bauch. Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte bleib bei mir. Bitte mein Baby. Bleib bei mir. Pünktchen! Bitte bleib ...
Zweieinhalb Stunden saßen wir im Warteraum der gynäkologischen Station des Krankenhauses. Die Pflegekräfte hatten mir eine große Einlage gegeben, die das Blut auffangen sollten, welches immer noch an meinen Beinen hinunter lief. Immer wieder vertrösteten die Mitarbeiter uns. Der Arzt sei noch nicht da oder immer noch im OP. Dein Papa versuchte mich derweil mit Lappalien aus den Warteraumzeitschriften abzulenken. Ich lächelte gequält und hoffte, dass er mir nicht den Schmerz und die nackte Angst ansah, die mich erfasst hatte.
Als ich dann endlich untersucht worden war und ich dein kleines, winziges Herz immer noch schlagen sah, fiel mir kein Stein sondern der ganze Ural vom Herzen. Dein Papa sah nicht minder erleichtert aus und während die Sorgenfalten in seinem Gesicht sich glätteten, bemerkte ich erst, welch Angst auch er hatte. Doch alles würde gut werden, denn du warst noch da. Unser Baby, unser Kind, unser Pünktchen.
Zwei Wochen blieb ich im Krankenhaus. Zwei Wochen zwischen Hoffen und Bangen. Die Sendungen im Fernsehen flimmerten sinnentleert vor sich hin. Ich fühlte mich erschöpft, ängstlich und allein. Nur du kleines Etwas schafftest es, mich zum Lächeln zu bringen, wenn ich dein kleines Herz beim Ultraschall schlagen sah und wusste, du bist noch da.
Die Blutungen wurden zwar geringer, hörten aber nicht auf. Und weißt du ... Ärzte können manchmal sehr unsensibel sein. An meinem letzten Krankenhaustag hatte ich eine Abschlussuntersuchung. Ich saß vor einem jungen Gynäkologen, der meine Patientenakte überflog und meinte: „Na ja, richten Sie sich mal besser darauf ein, dass das Kind abgeht. Zu 90% werden Sie das Kind verlieren." Ich nickte fassungslos, während ich meinen Bauch mit den Händen bedeckte, hoffend, dass du das nicht mitgehört hattest.
Ich musste fast ein halbes Jahr liegen. Ein halbes Jahr, welches eine emotionale Achterbahn für mich und deinem Papa war. Jeder Frauenarztbesuch ging mit Panik einher, denn immer schallte der Spruch des Arztes in meinem Kopf. Ich könnte dich verlieren.
In der Zeit des Liegens, las ich die Märchen vor, legte die Spieluhr auf meine, sich langsam wölbende Kugel und immer wieder streichelte ich meinen Bauch, um dir noch näher zu sein. Du warst bei mir. Ich war bei dir. Wir waren beisammen.
Manchmal, wenn ich allein in der Stube lag, die Fernsehsendungen sich zu wiederholen begannen und ein weiteres Buch zu Ende gelesen war, kreisten meine Gedanken und ich begann zu zweifeln. War ich jetzt schon eine schlechte Mutter? Du kleiner Zwerg warst noch gar nicht geboren und schon jetzt schaffte ich es nicht, dir ein sicheres Heim zu sein. Wie sollte es dann erst werden, wenn du geboren wärst. Doch ich versuchte den Gedanken abzuschütteln, schrieb sie in mein Tagebuch auf Papier oder verbannte sie in den hintersten Schubladen meines Gehirns. Ich durfte nicht zweifeln, nicht negativ sein. Meine Gefühle spürtest auch du – und du solltest nur Glück spüren. Das Glück, welches du mir jeden Tag beschertest.
Irgendwann war die Bettruhe vorbei und ich konnte die Schwangerschaft in vollen Zügen genießen. Ich bummelte in Kindergeschäften, schwärmte von mini-kleinen Bodys und fiel in pures Entzücken, als ich die kleinen, winzig kleinen Söckchen in meinen Händen begutachtete. Mein Baby.
Dein erstes Trampeln werde ich nie vergessen. Es fühlte sich an wie Schmetterlingsflügel, die mich von innen streiften, so sanft und fein, dass ich fast an dem Erlebten zweifelte. Doch du bewegtest dich erneut und eine Welle von Glückshormonen erfüllte mich. Ich hörte in mich hinein und jedes erneute Strampeln verknüpfte mein Band zu dir immer stärker. Immer wieder erwischte ich mich, wie ich dümmlich vor mich hin grinste und jeden Tag meinen Bauch vor dem Spiegel betrachtete. Mit der Zeit merkte ich, was dir gefiel und was nicht. Bei Klaviermusik bliebst du ganz ruhig, wohingegen Rockmusik dich wild strampeln ließ.
Besonders dein Papa war unglaublich lieb zu uns. Wenn er nach Hause kam, kniete er sich hin und küsste meinen Bauch und begrüßte dich. Erst danach war ich dran. Wenn ich nicht laufen konnte, weil das Wasser in meinen Füßen versackte, knetete er sie. Schmerzte mein Rücken schenkte er mir eine Massage. Ich glaube, dass er sich genauso auf dich freute wie ich, obwohl er es nicht mit Worten ausdrückte. Seine Liebe, meine Liebe, unsere Liebe vollbrachte dieses Wunder. Dich Wunder. Du warst unser Wunder.
Die Schwangerschaft kam voran und es wurde schwerer dich in mir zu tragen. Das Schlafen funktionierte nicht richtig. Nach jedem Schritt begann ich zu schnaufen und erst die Symphysenschmerzen! Doch dachte ich nur daran, dass jede neue Strapaze dazu führte, dass ich dich bald in den Armen hielt, nahm ich diese gerne in Kauf.
Und dann war es so weit. Ich muss immer noch lächeln, wenn ich an das Gesicht deines Papas denke, als ich ihn mitten in der Nacht aufweckte und sagte, dass meine Fruchtblase geplatzt war. Er sprang aus dem Bett, lief gegen den Schrank, fluchte und schnappte sich die Kliniktasche, während ich seelenruhig aufstand und mich zurecht machte. Sein Gesicht war erhitzt und ich sah ihm an, dass er nervös war. Letztendlich auch deshalb, weil er nur in Unterhose, mit den Koffern in der Hand, vor der Tür stand. Es war so süß - die Geburt eher nicht.
Eine Geburt tut weh. Wirklich. Ich hatte Schmerzen gespürt, die ich noch nie erlebt hatte. Es war, als wäre jemand mit einem Messer in meinem Bauch zu Gange. Doch ich hielt durch. Für dich! Und dann warst du da.
Dieser Moment, wenn plötzlich alles perfekt ist. Dies geschah, als die Hebamme dich in meine Arme legte. Du kleines blutverschmiertes, wunderbar duftendes, perfektes, kleines Mädchen. Wie soll ich beschreiben, was in diesem Augenblick in mir passierte? Es war, als wäre plötzlich das fehlende Puzzleteil da, welches dazu führte, dass das Bild komplett war. Ein Bild, wo ich nicht mal wusste, dass ein Teil gefehlt hatte. Ein perfekter Moment, voller Glück. Ein perfekter Moment, der nur kurz andauerte.
Ich weiß nicht, was passiert war. Doch so schnell du in meinen Armen lagst, so schnell wurdest du mir auch entrissen. Qualvolle Minuten lag ich da, die Hand deines Papas haltend, eh ein Arzt, mit besorgtem Blick zu uns kam.
Jetzt liege ich hier. Meine Tränen laufen mein Gesicht hinab. Meine Hände zittern und ich sehe kaum das, was ich gerade schreibe. Ich könnte schreien. Könnte irgendwas zerschlagen. Doch ich kann es nicht. Dein Papa tigert auf den Fluren hin und her, während ich das Bett hüten muss. Deswegen schreibe ich diesen Brief, weil ich sonst verrückt werde. Ich muss es schreiben, damit ich nicht vor Sorge sterbe, während du um dein Leben kämpfst. Mein Baby. Mein Kind. Mein Pünktchen.
Ich will nicht weiter in der Vergangenheitsform schreiben, denn du warst nicht – du bist. Du bist bei mir geblieben, als die Ärzte sagten, dass du gehst. Und auch jetzt wirst du nicht gehen. Du darfst nicht gehen, denn ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, wie ein Mensch einen anderen Menschen nur lieben kann. Ich habe dich so unendlich lieb. Ich liebe dich mein Baby. Mein Kind. Mein Pünktchen.
Für immer
Deine Mami"
Ich faltete die zerfledderten und geflickten Zettel zusammen. Warme Tränen laufen mein Gesicht hinab, die ich seufzend weg wische. Sanft streichele ich über den Grabstein, den ich sooft besucht hatte. Plötzlich umfassen mich zwei Arme von hinten. Ich drehe meinen Kopf und sehe in große, liebevolle Augen.
„Warum weinst du Papa?"
Das kleine Mädchen, meine Tochter, geht um ihn herum und umarmt mich, was ich mit ihr auch mache.
„Weil ich deine Mama so lieb gehabt habe."
Nachdem wir den ganzen Mist überstanden hatten, unser kleines Mäuschen diese OP und die Nächste und Übernächste, gut überstanden hatte, wurde bei meiner Frau Krebs diagnostiziert. Eine ganz aggressive Form, die innerhalb weniger Monate dazu führte, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Sie war von der Krankheit gezeichnet und als mein Liebling dann im Krankenhaus starb, zerbrach ein Stück meiner Welt.
Doch da war dieses kleine, wunderbare Kind. Unser Wunder. Ein Wunder mit den Augen meiner Frau. Dieses kleine Wesen half mir, jeden Tag zu überleben und weiter zu leben. Und auch jetzt ist sie bei mir, als mich die Trauer wieder zu übermannen droht und hält meine Hand.
Mein Baby. Mein Kind. Mein Pünktchen.
Ende