Als Sabine schockiert die Augen aufschlug, starrte sie an die Decke über ihrem Bett und beobachtete für einige Sekunden das Vorbeihuschen der Scheinwerfer von der Straße vor ihrer Wohnung. Sie wagte es kaum zu blinzeln in der irrationalen Panik, dass sie sofort wieder einschliefe und der Traum, aus dem sie sich gerade erst mühselig zurück in die Realität gekämpft hatte, wiederkehren könnte. „Das kann nicht sein. Wie kann das sein?“, murmelte sie leise vor sich hin und kniff schließlich verbissen die Augen zusammen und rieb sich mit frustrierten Fäusten energisch durch das Gesicht. Ein Blick auf den Wecker verriet ihr, dass sie sich die genau schlechteste Zeit zum wach werden ausgesucht hatte. Würde sie jetzt noch einmal einschlafen, könnte kein Wecker der Welt sie in einer Stunde wieder aus dem Bett bekommen. Also seufzte sie ergeben auf, schwang ihre Beine über die Bettkante und schlängelte sich durch das vollgestellte Schlafzimmer hinüber in die Wohnküche. Die Wohnung hatte sie erst vor 2 Wochen bezogen, als sie wegen einer hässlichen Trennung ihre Heimat verlassen hatte und in die Großstadt gezogen war. Dank Sabines erbarmungswürdiger Selbstdisziplin standen noch in jeder Ecke Kartons, die sie am vergangenen Wochenende schuldbewusst mit Bettlaken verhangen hatte. Barfuß stolperte sie zu ihrer Kaffeemaschine und betete stumm, dass sich noch ein letztes Bisschen Kaffeepulver im Schrank verstecken würde. Umsonst. „Na gut, dann schauen wir mal, was die Stadt so zu bieten hat“, raunte sie herausfordernd in Richtung Fenster und warf sich schnell in ein paar bequeme Sachen, schnappte sich die Handtasche vom Haken an der Tür und stand wenige Minuten später auf dem Bürgersteig. Tief sog sie die frische Luft ein, was ihr in derselben Sekunde als ein tiefergelegter BMW mit Sportauspuff an ihr vorbeirauschte schonwieder leid tat. Sie liebte es, dass in der Stadt immer etwas los war, immer die unterschiedlichsten Menschen auf der Straße waren und es nie wirklich ganz dunkel wurde. Und vor allem liebte sie die Möglichkeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit an Kaffee und Muffins zu kommen. Also schlenderte sie, beschwingt durch das ganze Leben um sich herum, in das nächste Cafè mit offensichtlich sehr arbeiterfreundlichen Öffnungszeiten. Schon bald saß sie am Fenster, blickte auf die Straße und fand vor sich einen dampfenden Kaffee und einen riesigen Schoko-Kirsch-Muffin. Für einen kleinen Augenblick lächelte sie selig und dachte daran, dass der Tag doch noch unerwartet gut starten könnte. Doch dann kam ihr wieder ihr Traum in den Sinn, dieser merkwürdige Traum…
Es irritierte sie nicht, was sie geträumt hatte. In der Tat war es sogar ein außergewöhnlich friedlicher Traum gewesen, deutlich friedlicher als sie es aus vielen unruhigen Nächten gewohnt war. Was sie wirklich schockierte, war die Person, von der sie geträumt hatte. Ihre Freundinnen hatten ihr angekündigt, dass Jens, ihr Exfreund und der Grund für ihre Flucht in die Stadt, sie bestimmt in der einen oder anderen Nacht heimsuchen würden. Monica, Sabines beste Freundin und Seelenverwandte, falls es so etwas überhaupt gab, hatte ihr daraufhin – pragmatisch wie sie war – den Rat gegeben die Gelegenheit zu nutzen Jens im Traum den Gar auszumachen. Sie war eine unglaublich kultivierte Karrierefrau, aber wenn sie davon sprach Sabines betrügerischen Exfreund im Traum zu kastrieren, dann loderte in ihren Augen ein derart gefährliches Feuer, dass es sogar ihre beste Freundin gruselte.
Nein, es war nicht Jens gewesen. Der Mann, von dem Sabine tatsächlich geträumt hatte, war etwas älter, wohl Mitte bis Ende der Dreißiger. Er war hoch und schmal gebaut, hatte stoppelige dunkle Haare und dazu eisblaue Augen, was einen interessanten Kontrast bildete. Sein Blick war ruhig, seine Körpersprache bei jeder Bewegung ausgeglichen und zurückhaltend. Eine rundum angenehme Erscheinung für jeden. Außer für Sabine. Denn, das wurde ihr ganz deutlich klar, wie sie dort saß und gedankenverloren an ihrem Schoko-Kirsch-Muffin knabberte, sie kannte den Mann. Und auch wieder nicht. Sie hatte ihn schon hunderte Male gesehen, und hatte dennoch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Sabine hatte als Kind, noch bevor sie in die Pubertät kam, ihr Leben lang Träume, in denen es immer nur um dieselben drei Menschen ging. Es war vergleichbar mit einem Fenster, durch das sie jede Nacht einem dieser Menschen beim Leben zusehen durfte. Und mit den Jahren, in denen Sabine heranwuchs, alterten ihre Traumgefährten mit ihr. Als Kind hatte sie das nie hinterfragt. Wer weiß schon, insbesondere als Kind, was normale Träume sind? Ihre Eltern hatten diese kleine Merkwürdigkeit abgetan, als Sabines persönliche imaginäre Freunde, wie sie offensichtlich jedes Kind haben durfte, ohne als bedenklich zu gelten. Und mit Einsetzen der Pubertät, verschwanden auch die Traumgefährten. Für viele viele Jahre. Bis zur heutigen Nacht. Über 14 Jahre später, war er wieder aufgetaucht. Sabine hatte ihn als Kind Rick genannt, weil er in ihren Träumen so genannt wurde. Sie mochte die Träume über ihn. Sie konnte sich daran erinnern, dass er zu studieren begonnen hatte, Jura im Hauptfach. Viele Nächte verbrachte er in einer wunderschönen alten Bibliothek mit hölzernen, wertvoll aussehenden Schreibtischen und abertausenden Büchern, die sich an Wänden und in Regalen in Ledereinbänden stapelten. Es war beruhigend und wunderschön anzusehen, Sabine liebte diesen Ort, auch wenn sie ihn noch nie wirklich betreten hatte.
In ihrem Traum in der vergangenen Nacht, war Rick nicht in der Bibliothek gewesen. Und er hatte sich auch optisch definitiv verändert. Um die blauen Augen und um die Mundwinkel hatten sich viele feine Fältchen gebildet, in seinem dunklen Haar fanden sich die ersten grauen Strähnchen und sein Blick war deutlich müder, als Sabine ihn in Erinnerung gehabt hatte. Aber sie war sich sicher, absolut sicher, dass es dieselbe Person war, wie in ihrer Kindheit.
Sabine kniff die Augen bestimmt zusammen, rieb sich mit zwei Fingern feste über den Nasenrücken und atmete schließlich entschlossen aus. „Alles klar, es wird definitiv Zeit, für etwas echten Wahnsinn“, murmelte sie und grub irgendwo tief in ihrer Jackentasche ihr Handy aus. Sie war pragmatisch und auch etwas nostalgisch wenn es um Technik ging, deswegen besaß sie noch ein mittlerweile absolut unübliches Tastenhandy und wählte schnell aus dem Kopf die Nummer von Monicas Privathandy. „Verdammt Sabine, ich will schwer hoffen, dass es was wirklich Wichtiges ist“, fauchte es zu ihrer großen Überraschung aus dem Hörer. Sie war sich beim besten Willen keiner Schuld bewusst. „Naja, „wirklich wichtig“ würde ich nicht gerade sagen, was ist denn los?“ – „Süße, es ist 6:30 Uhr morgens und du weißt, ich bin wenn man meinen Schönheitsschlaf zu früh unterbricht kein sehr netter Mensch. Gib mir eine Minute.“ – „Oh klar, entschuldige bitte, darauf hatte ich gar nicht geachtet, das tut mir leid!“, entschuldigte sich Sabine mit einem Anflug von Gewissensbissen. „Schon ok, geht schon wieder. Der Tatsache, dass dir morgens um 6:30 Uhr die Uhrzeit nicht bewusst war, entnehme ich mal, du hast nicht sehr gut geschlafen?“ – „100 Punkte für die verschlafene Unternehmensberaterin, der ich als Entschuldigung bei unserem nächsten Treffen einen Latte Macchiato mit allem drum und dran spendieren werde.“ Sabine hörte Monica förmlich am anderen Ende des Hörers grinsen. „Du weißt, wie man den Tiger zum schnurren bringt. Also, was hat dir so früh den Schlaf geraubt? Wieso rufst du an?“ Sabine stockte für einen Moment und dachte bei sich: „Tja, gute Frage… Was erzähle ich ihr bloß, ohne dass sie mich danach für verrückt hält?“ Eigentlich hatte sie sich letztlich nur nach einer vertrauten Stimme gesehnt, irgendetwas was sie von dem Irrsinn in ihrem Kopf ablenkte – „Ehm, naja, also ich habe von diesen Schuhen geträumt, die du dir neulich gekauft hast, und ich dachte mir, vielleicht, ehm, gehen wir mal wieder shoppen. Oder so.“ Die Reaktion war ein ausgedehntes Schweigen am anderen Ende der Leitung, so dass Sabine gerade fragen wollte, ob Monica schon aufgelegt hatte, als diese ganz ruhig und überdeutlich, als würde sie mit einem schwer zurechnungsfähigen Menschen reden, entgegnete: „Shoppen? Du möchtest gerne, dass ICH mit DIR shoppen gehe?“ – „Ehm, ja, warum nicht?“ – „Vielleicht weil du shoppen hasst?“ – „Naja, man kann seine Meinung ja ändern.“ – „Um 6:30 Uhr morgens?“ – „Ehm, ja….“. Monica seufzte tief, dachte kurz nach und erklärte dann mit einem kaum bemerkbaren bedrohlichen Unterton. „Gut, nimm dir morgen nichts vor, ich komme vorbei und bringe Verstärkung mit. Und Süße?“ – „Ja?“ – „Bitte gewöhn dir das >ehm< wieder ab, so beginnt kein intelligenter Satz.“ Sabine lächelte gegen ihren Willen kurz und verabschiedete sich voller Vorfreude auf das bevorstehende Treffen.
Verstärkung. Das konnte nur bedeuten, dass Katrin mitkam. Katrin war im gleichen Alter wie Sabine und Monica, allerdings in ihrem Leben im konventionellen Sinne schon etwas weiter als die beiden anderen. Während Sabine gerade wieder nach ihrer Trennung mit einem neuen Job und einer neuen Stadt bei null anfing und Monica die Karriereleiter ohne nach rechts und links zu blicken hocheilte, war Katrin etwas bodenständiger. Sie war verheiratet mit Lukas, ihrer großen Liebe, und lebte mit ihm in einer schönen Eigentumswohnung, in der sie bald eine Familie gründen wollten. Sie war herzensgut und absolut lebensfroh. Sie war sozusagen die dritte im Bunde und zusammen bildeten die drei jungen Frauen ein grundsätzlich gegensätzliches und dabei absolut perfektes Trio. Jede von ihnen hatte etwas, was die anderen nicht hatten, und so taten sie einander unglaublich gut.
Im Gedanken an den baldigen Besuch ihrer Freundinnen feuchtete Sabine kurz ihren Zeigefinger mit etwas Spucke an, sammelte mit ihm die letzten Krümelchen ihres Muffins auf und verspeiste sie genießerisch. „Nun gut, it’s showtime.“, motivierte sie sich selbst und machte sich endlich auf den Weg raus aus dem Cafè und ab zur Arbeit.
Sabine war gelernte Hotelfachfrau und hatte in ihren jungen Jahren mal das Ziel verfolgt, dass alle ihre Gäste sich wie Zuhause fühlen sollten. Mittlerweile war sie schon seit über 5 Jahren in verschiedenen Hotels tätig und sich der Tatsache bewusste geworden, dass von ihren romantischen Vorstellungen, wegen derer sie sich zu diesem Beruf entschieden hatte, nicht mehr viel übrig geblieben war. Sie hatte sich immer vorgestellt, wie sie in einer verschlafenen kleinen Pension an der Rezeption steht und gut gelaunte Familien oder frisch verliebte Paare eincheckt, die sie voller Vorfreude auf den Urlaub dankbar anstrahlen und sie nach den schönsten Ausflugszielen oder besten Restaurants ausfragen. Sie wollte dazu beitragen, dass die erholsamste Zeit im Leben vieler Menschen perfekt wurde. Sie wollte Events planen und romantische Suiten herrichten. Als Sabine nun aus der S-Bahn stieg und sich dem riesigen Betonklotz, der ihr Arbeitsplatz war, gegenüber sah, wurde ihr mal wieder klar, wie weit sie sich von allem, was sie beruflich einmal wollte, entfernt hatte. Ihr Arbeitgeber war eine Hotelkette, die deutlich mehr Wert auf Gleichheit als auf Individualität legte, quasi das McDonalds unter den Hotels. Alle Zimmer waren gleich, mit Trockenblumen und unparfumierter Seife ausgestattet und die Rezeption, Sabines Altarraum, wenn man so will, hätte vor 5 Jahren mal wieder einen neuen Anstrich gebraucht. Die Gäste waren überwiegend Geschäftsreisende, denen es nur um ein bequemes Bett, eine warme Mahlzeit und – eigentlich am aller wichtigsten – eine gute Anbindung an die Innenstadt ging. Sabine war nicht der Typ Frau, der sich laut über unbequeme Arbeitszeiten beschwerte oder einen Aufstand startete, wenn sie mal ein Zimmer selbst reinigen musste. Aber sie war der Typ Frau, der immer an einen Sinn glauben wollte. Und diese Arbeit hier, das wurde ihr heute wieder besonders bewusst, während sie resigniert auf die abgewetzte Rezeption starrte, der hatte absolut keinen Sinn. Sie brauchte den Job, denn sie brauchte das Geld. Aber sie würde noch heute Abend damit anfangen, sich neu zu bewerben. Schon alleine dieser Entschluss, kombiniert mit dem Wissen, morgen ihre beiden besten Freundinnen wieder zu sehen, versüßte ihr die Stimmung so sehr, dass der Arbeitstag förmlich an ihr vorbei flog.
Als der Abend und damit auch ihr anstehender freier Tag endlich gekommen war, sprang sie auf dem Heimweg noch kurz im Supermarkt rein, kaufte sich eine Flasche Rotwein und fuhr beschwingt nach Hause. Dort angekommen setzte sie sich mit einem randvollen Glas Wein im Schneidersitz auf ihre Couch, legte etwas Country-Musik ein und platzierte ihren Laptop mitten auf ihren Beinen, um sich auf Jobsuche im Internet zu machen. Der Wein auf den leeren Magen und die gemütliche Couch jedoch ließen sie schläfrig werden und ohne dass sie es verhindern konnte, merkte sie, wie sie langsam wegdriftete und ihre Augen schwer wurden…
„Herr Bishop, ihr Plädoyer bitte!“ – „Sehr gerne, Frau Richterin. Hohes Gericht, Herr Verteidiger. Die Hauptverhandlung in den vergangen Wochen hat zweifelsfrei ergeben, dass der von uns angeklagte Chemiekonzern nach Strafgesetzbuch als schuldig zu befinden ist. Die Anklageschrift ist lang und in den vergangenen Verhandlungstagen bereits hinreichend thematisiert worden, so dass ich hier nur noch einmal auf die besonders schwerwiegenden Vergehen hinweisen möchte. Besonders schwerwiegend deswegen, da sie aus reiner Profitgier und ohne Rücksicht auf die Natur, auf die wir alle angewiesen sind, geschahen. Die Angeklagten haben Chemieabfälle, die bei der Herstellung in ihren Betrieben entstanden sind, um die hohen Kosten einer ordnungsmäßigen Entsorgung zu umgehen, ungefiltert in einen nahegelegenen Bach eingeleitet und damit sowohl den Fluss verseucht, als auch das Grundwasser in diesem Bereich geschädigt und damit sowohl Menschen- als auch Tierleben unmittelbar und wissentlich in Gefahr gebracht. Damit nicht genug, haben sie auf die regelmäßige Wartung ihrer Auffangbecken im Außengelände ebenfalls verzichtet und somit auch hier eine Gefahrenstelle geschaffen. Da in der Verhandlung offenbar wurde, dass besagtes Unternehmen als durchweg uneinsichtig und kriminell zu betrachten ist und eine Gefahr für die gesamte Umwelt darstellt, beantrage ich eine sofortige Schließung des Betriebs, bis alle Gefahrenquellen auf eigene Kosten beseitigt wurden. Desweiteren beantrage ich mindestens 10 regelmäßige Kontrollen im Abstand von 6 Monaten, bei denen von der zuständigen Behörde zu prüfen ist, ob alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden. Die Kosten für diese Kontrollen, so wie die Kosten zur Beseitigung der bisher verursachten Umweltschäden, haben die Angeklagten zu tragen. Vielen Dank.“ Mit einem letzten entschlossenen Blick zur Richterin nahm Rick auf seinem Stuhl Platz. Sabine spürte seine Nervosität, er war unfassbar angespannt und sie konnte seinen Abscheu gegen die Angeklagten, die ihm in teuren Anzügen und mit abfälligen Blicken gegenübersaßen, förmlich spüren. Nach außen sah er durch und durch gelassen und professionell aus, doch im Inneren tobte seine Leidenschaft und forderte verzweifelt nach Gerechtigkeit, das wusste Sabine einfach. „Das Gericht verkündet nun das Urteil. Im Namen des Volkes ergeht in der Strafsache gegen die ChemieGern GmbH folgender Beschluss: Das angeklagte Unternehmen wird gemäß richterlichem Erlass mit sofortiger Wirkung geschlossen, bis die im Anhang aufgeführten Vorkehrungen getroffen und wieder eine sichere Inbetriebnahme gewährleistet wird. Desweiteren wird es zu einer Geldstrafe an die Gemeinde in Höhe von 200.000€ verurteilt. Damit wird der Forderung der Anklage weitestgehend entsprochen. Die Angeklagten haben 14 Tage Zeit über ihren Anwalt Berufung einzulegen, danach ist das Urteil rechtskräftig. Vielen Dank.“ Erleichterung. Rick war unfassbar erleichtert, war sich jedoch der Tatsache bewusst, dass nun viele hasserfüllte Augen auf ihn gerichtet waren, und nickte daher nur diskret in Richtung der Richterin. Er packte seine Unterlagen zusammen, und ging herüber zum Verteidiger, um im Zeichen der Professionalität und des guten Willens ihm abschließend die Hand zu geben. Der war wenig erfreut, war jedoch beherrscht genug sich dies nicht anmerken zu lassen. Endlich vor dem Gerichtssaal angekommen, drehte Rick sein Gesicht in die Sonne, schloss die Augen und lächelte endlich breit. Er stand mitten auf dem Fußweg, aber das war ihm scheinbar egal, und genoss seinen kleinen Sieg für Mutter Natur. Sabine beobachtete ihn aufmerksam und wunderte sich, wie sehr sie zu wissen glaubte, was er dachte und fühlte. Sabine wurde stutzig. „Moment, du träumst schon wieder. Schon wieder so. Wach auf, komm schon, werd wach…“
Als Sabine die Augen aufschlug, merkte sie, dass ihr Laptop ausgegangen und von ihrem Schoß auf die Couch gerutscht war. Auch die Musik war schon von alleine ausgegangen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dort einfach nur saß und ins Leere starrte, die Gedanken fest in ihrem jüngsten Traum gefangen. Irgendwann – waren nur Minuten, oder etwa schon Stunden vergangen? – stand sie entschlossen auf, ging an einen alten Sekretär, den sie jüngst auf einem Flohmarkt erstanden hatte, und räumte einen Stapel Bücher herunter, der seit ihrem Einzug in einem riskant gestapelten Turm darauf thronte. Sie nahm einen Stift und Papier heraus, setzte sich wieder auf die Couch und nahm noch einen großen Schluck Wein. Dann begann sie zu schreiben: „Rick Bishop, Mitte 30, Anwalt für Umweltrecht.“ Verbissen dachte sie an ihre Jugend zurück, versuchte sich auch an die anderen Träume zu erinnern. Es musste ihr doch wieder einfallen… Wie ein Geistesblitz kam ihr wieder ein Gesicht in den Sinn. Dieses Gesicht war jünger, es war in ihrem Träumen ein junges Mädchen gewesen, vielleicht sogar etwas jünger als sie selbst. Sie hatte einen dunklen Teint und Augen in der Farbe wie Vollmilchschokolade. Sabine erinnerte sich an volle Lippen, die viel lachten. Sie schrieb auf, was ihr wieder einfiel, und legte den Zettel dann vor sich auf den Tisch. Lange starrte sie ihn an, während sie gedankenverloren den Stiel ihres Weinglases in den Fingern drehte. Sie wusste, dass das nicht alles war, aber ihr Erinnerungsvermögen ließ sie im Stich. Sie fühlte sich frustriert, und wusste gleichzeitig gar nicht, was sie sich von der ganzen Sache überhaupt erhoffte. Naja, es war vielleicht irgendwie komisch, was ihr da gerade passierte, aber vielleicht war ihr Gehirn auch nur nicht besonders einfallsreich. Die ganze Grübelei hatte ihren Kopf leer und müde gemacht, so dass sie ohne es zu merken langsam in einen unruhigen Schlaf sank…