Des Fleißes Lohn
Mit einem wohligen Seufzen lässt er sich ins weiche Polster der cremefarbenen Couch sinken. Wie hat er sie vermisst, die zwei Geräusche, die für ihn „Ruhe“ definieren: Das Ticken der großen Pendeluhr und das leise Knistern des Feuers im Kamin. Ein Schmunzeln spielt um seine Lippen, als er wieder einmal feststellt, wie wichtig ihm dieser Kaminofen ist. Nicht nur der Wärme wegen, nein. Es sind auch das beruhigende Knistern des Holzes, das flackernde Farbenspiels der Flammen, die er stundenlang genießen kann.
Nicht grundlos hat er sich in den Wochen vor Weihnachten Urlaub genommen, denn so bekommt er Gelegenheit, sich seelisch auf die stressigen, besinnlichen Weihnachtstage vorzubereiten.
Auch seine Frau hat frei, versinkt allerdings bis zur letzten Minute im üblichen Vorbereitungswahn. So, wie er seine perfektionistische Gattin kennt, wird sie täglich mehrmals durch die Wohnung tigern, Staub wischen und Dekorationen zurecht rücken, die einen Zehntelmillimeter verrutscht sind.
Während der Hausherr die Zeitschrift studiert und die beiden Kinder an der schulischen Weihnachtsfeier teilnehmen, beginnt die Hausherrin in einer Schublade der Wohnwand zu wühlen.
Ihr Gatte fühlt sich seiner kostbaren Ruhe beraubt und blickt missmutig auf die Kehrseite seiner Frau. „Bist du nicht bald am Boden angekommen? So viel kann doch da gar nicht drin sein“, meint er brummend und macht ihr damit unmissverständlich klar, dass sie seine morgendliche Ruhe stört.
Das Rascheln verstummt und die Augen der Angesprochenen linsen auf das Ziffernblatt der Uhr. „Es ist kurz nach zehn. Der Morgen ist somit um“, kontert sie wissend, bevor sie endlich fündig wird. Ohne ein weiteres Wort verlauten zu lassen, verschwindet sie erst im Flur und kurze Zeit später im Keller.
Endliche wieder selige Stille!
Gerade hat er die Augen geschlossen, als seine Frau hereingerannt kommt - und er ahnt, dass der ruhige Vormittag nun ein jähes Ende findet. Schwer atmend lehnt sie sich an den Türrahmen. „Was hast du getan?“, fragt sie vorwurfsvoll.
Verwundert über diese Wortwahl, zuckt er die Schultern: „Was ist so schlimm daran, dass ich den Keller ausgemistet habe?“
„Den Keller ausgemistet?“ Mit einem Mal klingt sie ärgerlich. Aus der Ruhe bringen lässt er sich davon nicht, warum auch? Sie ist bestimmt nur über etwas gestolpert, das nicht ihren Vorstellungen entspricht. Sollte dies der Fall sein, kann sie sich in Zukunft um das Ausmisten des Kellers selbst kümmern.
„Frühjahrsputz, mein Schatz“, ergänzt er und fügt schmunzelnd hinzu: „Etwas vorgezogen natürlich.“
„Ist es beim Frühjahrsputz üblich, dass die vorbereiteten Weihnachtsgeschenke mit entsorgt werden?“
„Ja“, kommentiert er gelassen, da er diese Unterhaltung am liebsten beenden würde. Nur einen Atemzug später ist er hellwach und ruft erschrocken: „Was?!“
Die Augen seiner Frau verengen sich bedrohlich. Die Arme verschränkt sie vor ihrer Brust und klärt ihn über eine wichtige Tatsache auf: „Der Koffer mit dem auffälligen Blumenmuster ist weg. Darin waren die Geschenke, du … du …!“
Nein, sie würde nicht anfangen mit Beleidigungen um sich zu werfen. Nicht nach zwölf Jahren Ehe. Stattdessen atmet sie tief durch und versucht es im ruhigeren Ton: „Wo sind die Sachen, die du ausgemistet hast gelandet?“
„Auf dem Wertstoffhof“, gibt er zögerlich zu. Er hat ein schlechtes Gewissen - und das zu Recht.
Dass sie sauer ist, kann er erkennen, dazu braucht es nicht ihre sarkastische Antwort: „Toll, die Leute des Abfallwirtschaftsbetriebes werden sich freuen.“
Die gesprochenen Worte verklingen. Gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Die große Pendeluhr tickt ungeachtet der Vorkommnisse vor sich hin. Auch dem Knistern des Feuers tut es keinen Abbruch. Ratlos wandert der Blick des Hausherren durch den Raum. Die Fenster sind mit weihnachtlichen Lichtbildern dekoriert. Gebastelte Stroh- und Papiersterne in allen Formen und Farben hängen von der Decke, während unterhalb der heimischen Fotogalerie die zwei Adventskalender darauf warten, dass jemand ihre letzten Türchen öffnet.
Als sein Blick auf die Nordmanntanne auf der Terrasse fällt, seufzt er betroffen. Heute Abend wird der Baum ins Wohnzimmer kommen, um morgen von der Familie in ein festliches Gewand gekleidet zu werden. Aber was bringt das, wenn es nichts mehr gibt, dass sie unter die Tanne legen können?
Die drei Frauen des Haushalts gaben und geben sich so viel Mühe und er … zerstört das bevorstehende Fest mit einer unbedachten Aktion. Von innerer Unzufriedenheit gequält, fährt er sich mit den Händen durchs Gesicht und seufzt abermals leise.
„Was nun?“
„Was nun? Was nun?!“, äfft sie ihn nach und rollt die Augen. „Geldbeutel schnappen, warm anziehen und ab ins Auto. Morgen ist Heiligabend, Mensch!“, befiehlt sie und lässt ihrer Verstimmung freien Lauf.
„Der Tag ist gelaufen“, schlussfolgert ihr Gatte, als er sich von der Couch erhebt.
Der Aufbruch zieht sich hin, weil die Frau des Hauses in den Tiefen ihrer Handtasche wühlt. „Die Suche nach dem Portemonnaie war auch mal einfacher“, zischt sie gereizt. Sekunden vergehen in angespannter Stille, dann taucht der gesuchte Gegenstand zwischen Lippenstift, Sonnenbrille, Taschentüchern und sonstigen Kleinkram endlich auf.
Das Ritsch des widerspenstigen Reißverschlusses verklingt und sie blickt ihren Mann ungeduldig an. „Bist du fertig?“
Er spart es sich, ihr zu sagen, dass sie es ist, die noch in Hausschlappen und Bluse dasteht. Es fällt ihr ohnehin nach wenigen Augenblicken selbst auf. Gerade als sie nach ihrem warmen Wintermantel greifen will, läutet es an der Haustür. Heute scheint sich die ganze Welt gegen sie verschworen zu haben, der durchdachte Tagesablauf seiner Frau und ihre Laune dürften nun endgültig im Eimer sein. Dass er Recht hat, bestätigt ihr Knurren, als sie die Tür öffnet.
Im allerletzten Moment fällt ihr ihre gute Kinderstube ein. Immer lächeln und freundlich sein, die Nachbarn müssen nicht wissen, was sich hinter der verschlossenen Tür abspielt. Somit holt sie tief Luft und versucht ihren Ärger herunterzuschlucken. Mit einer aufgesetzten, freundlich wirkenden Maske tritt sie in den Türrahmen.
„Guten Tag, Frau Sassmannshausen. Tut mir leid, falls ich stören sollte. Aber ich denke, ich habe hier eine Kleinigkeit, die Sie freuen dürfte“, kommt ihr die freudige Stimme ihrer Nachbarin entgegen. Diese steht in der Hofeinfahrt und wirkt in ihrem Wintermantel wie ein dicklicher Schneemann, obwohl sie weiß, dass dem nicht so ist. Die Kapuze des Mantels hat sie über den Kopf gezogen, um ihr blondes Haar vor den tanzenden Schneeflocken zu schützen.
Als seine Frau nicht gleich antwortet, tritt er ebenfalls in die Türöffnung. „Hallo, Frau Sogmann! Jetzt haben Sie uns aber überrascht! Was könnte es denn sein, das sie haben?“, hilft er nach, die Situation zu entspannen.
Die Fünfzigjährige setzt ein charmantes Grinsen auf und deutet über ihre Schulter. „Ich denke, das da sollte nicht weggegeben werden. Zumindest noch nicht.“
„Wie bitte?“, kommt es von seiner Frau, die nicht begreift, worum es geht. „Bitte entschuldigen Sie, wir sind etwas in Eile. Also machen wir es kurz ...“
„Gut“, gibt ihre Nachbarin zurück und macht einen Schritt zur Seite, wodurch sie den Blick freigibt auf etwas, das hinter ihr gestanden hat. Einen hellblauen Koffer mit auffälligem Blumenmuster.
Wacht oder träumt sie gerade? Noch während seine Frau verwirrt von Koffer zu Nachbarin und zurück blickt, beginnt er zu lachen. Natürlich, wie konnte er das nur vergessen!
Schließlich findet seine Frau ihre Sprache wieder. „Darf ich fragen, wie Sie an den Koffer gekommen sind?“
Frau Sogmann lächelt immer noch. „Ihr Mann hat ihn mir gestern auf dem Wertstoffhof überlassen. Schon immer mochte ich dieses kunterbunte Blumenmuster, also habe ich darum gebeten – es wäre schade gewesen, ihn wegzuwerfen. Als ich ihn gerade aus dem Auto holte, bemerkte ich, wie schwer er eigentlich war … und dann habe ich die Päckchen gefunden.“
„Du liebe Güte, was für ein Zufall“, flüstert seine Frau, als er sich mit einer eben geholten Klappbox an ihr vorbei ins Freie schiebt. „Sie wissen gar nicht, was das für eine Erleichterung ist!“
„Das glaube ich Ihnen aufs Wort.“ Die Stimme ihrer Nachbarin klingt amüsiert, sicher kann sie sich vorstellen, was zwischen den Eheleuten abgegangen ist.
Er lässt die beiden Frauen reden, öffnet den Koffer und stapelt die Geschenkpäckchen in die Klappbox, anschließend bringt er alles in den Keller.
Als er zurückkehrt, greift seine Frau nach ihrem Wintermantel.
„Wo willst du denn hin?“
Trotz dieser eindeutigen Frage schlüpft sie unbeirrt in das Kleidungsstück und wendet sich erst danach an ihren Gatten: „Eine Orchidee besorgen.“ Ihre Gesichtszüge wirken entspannt, fast glücklich, während sie den Mantel verschließt. „Ein Dankeschön für das gerettete Fest ist mehr als nur angebracht.“
Fast kann man die Last von seinen Schultern fallen hören. Die Geschenke sind wieder da, das Fest ist gerettet – und der Hausfrieden ebenfalls. Bevor sie die Tür öffnet, wirft sie noch einen Blick auf ihren Mann.
„Ich hoffe, du hast die Geschenke an einen sicheren Platz gebracht? Und während ich unterwegs bin, denk mal darüber nach, warum es Frühjahrsputz heißt.“
Er zieht es vor zu schweigen. Nickt lediglich, als seine Frau mit einem breiten Grinsen auf den Lippen das gemeinsame Heim verlässt.
Er liebt seine Frau, selbst wenn sie, ab und zu, eine Kratzbürste sein kann. Auch seine Töchter haben diesen kratzigen Beigeschmack an sich. Der Freundeskreis der Kinder und der der Familie können damit umgehen und kontern dementsprechend.
Doch gegen keinen Reichtum der Welt würde er die weibliche Übermacht eintauschen. Schon gar nicht jetzt, wenn das Fest der Liebe vor der Tür steht.