„Der Hirsch, den ich einst im Tierpark kennenlernte, sagte auch etwas von einem Zeichen, dass er an mir wahrnehme“, erwiderte Nathalie, während sie ihren Rucksack anlegte und mit dem Indianer das Zimmer verliess. „Aber es ist mir erst einmal gelungen mit einem Tier Zwiesprache zu halten. Als ich es wiedermal versuchte, gelang es mir nicht mehr.“ Nathalie lachte auf einmal auf: „Dafür habe ich mit einem Bach geredet. Verrückt nicht?“ „Keineswegst,“ meinte ihr Mentor ernst. „All das gehört zu den Fähigkeiten eines Animal Riders.“ Aber warum kann ich keine solchen Dialoge führen, wenn ich will?“ „Weil dein Verstand dir vermutlich immer wieder dreinfunkt. Du glaubst nicht daran, dass du wirklich mit den Tieren und der Natur sprechen kannst, auch wenn du fühlst, dass da was ist. Darum gelingt es dir auch nicht ihre Stimmen zu vernehmen. Du blockierst dich selbst. Wenn du allerdings ganz spontan und unvoreingenommen bist, dann öffnet sich ein Kanal, der die Verbindung zu allem Leben schafft. Es ist eine Gabe, die viele Menschen haben, die im Zeichen des Wolfes geboren wurden.“ „Im Zeichen des Wolfes? Was meinst du damit?“ „Dein Geburtstotem ist der Wolf, das lässt sich vom Datum deiner Geburt ableiten. Viele Schamanen haben Wolfskraft. Das ist ein weiterer Unterschied zwischen Indianer und Weissen. Bei den Weissen gilt die Wolfkraft oft wenig, doch bei uns ist sie besonders heilig. Sie beinhaltet die Intuition, die Heilkraft, Mitgefühl, Hingabe... Alles Eigenschaften die wir als sehr wichtig erachten. Nicht umsonst werden Wölfe in der indianischen Kultur so oft abgebildet. Der Wolf ist besonders verbunden mit der Mondkraft- der Welt der Gefühle und der Mütterlichkeit. Man muss nur mal beobachten wie Wölfe in ihrem Rudeln leben. Sie sind sehr sozial und zeigen sehr viel Liebe, wenn sie nich gerade vollkommen ausgehungert sind. Jedenfalls kannst du stolz auf deine Wolfskraft sein Cunksi (Tochter).“
Nathalie war tief berührt von diesen Worten. Denn sie hatte schon viele Male erlebt, dass man ihre Gefühle und Wahrnehmungen nicht sehr erst genommen hatte. Sie war seit jeher eine Träumerin gewesen, jemand, der alles auf einer viel tieferen Ebene wahrnahm als andere Menschen und sie war meist untrüglich in ihren intuitiven Wahrnehmungen. Doch das war sie nur, wenn sie sich wirklich fliessen lassen konnte, wenn sie nicht gerade von starken Emotionen geschüttelt wurde, oder an ihren Fähigkeiten zweifelte. Sie hatte schon oft das Gefühl gehabt, irgendwie nicht in diese Welt zu gehören. Vielleicht fühlte sie sich auch deshalb so mit den Indianern verbunden, weil in dieser Kultur andere Massstäbe galten. Schon jetzt merkte sie, wie anders die Welt der Indianer war. Das machte sie sehr glücklich und gab ihr neue Zuversicht.
So folgte sie wohlgemut ihrem Lehrer, der sie zu einem ziemlich alten, braunen Lieferwagen führte. „Steig ein!“ forderte er sie auf, während er ihr den Rucksack abnahm und im hintern Teil des Gefährts verstaute. Einen Augenblick lang dachte das Mädchen noch, was für ein grosse Vertrauen sie eigentlich zu diesem Mann hatte. Doch sie spürte ganz tief im Innern, dass sie ihn schon lange kannte.
Wandernder Bär setzte sich nun auf den Fahresitz, der unter seinem Gewicht leise quitschte, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und legte den ersten Gang ein. Das Mädchen betrachtete dabei die alten, zerkratzten Amaturen, die nur noch zum Teil funktionierten und den riesigen Schalthebel, der zwischen den beiden Vordersitzen in die Höhe ragte. Das Polster war schwarz und etwas zerschliessen. Würde dieses Gefährt sich überhaupt von der Stelle bewegen?...
Es bewegte sich von der Stelle, wenn auch Anfangs etwas ruckelig. Doch das war schnell vorbei und sie fuhren auf dem nächsten High Way hinaus aus der Stadt...
In der Nähe der Stadt Oral, die am Cheyenne River lag, bog Wandernder Bär in eine Seitenstrasse ein, die zu einem wunderschönen, aus hellem Holz gefertigten Hof führte, der von mehreren riesigen Koppeln und einigen kleineren Häusern umgeben war. Es gab auch eine riesig Scheune, die das Hauptgebäude um Längen überragte und einen Stall, aus dem Rinderrufe erklangen.
Der Schamane brachte Nathalie zu einem der nahegelegenen Nebengebäude, die alle auf den ersten Blick eine Kleinausgabe des Hofes zu sein schienen. Das Gebäude aber, zu dem Wandernder Bär Nathalie führte, hob sich doch etwas von den andern ab, was man allerdings erst beim Näherkommen erkannte. Es war verziert mit verschiedensten Malereien, wie man sie von indianischen Tipis her kannte. Ausserdem war der Rand des Daches mit einem rotschwarzen Zickzack Muster geschmückt und an den Fenstern befanden sich bunt gewobene Gardienen. Ein Büffelschädel prangte wie ein Schutzgeist über der Eingangstür und rechts und links von selbiger hingen Schilde mit verschiedensten Motiven von Tieren etc. bemalt und unterschiedlichen Materialien wie Pferdehaar, Federn usw. bestückt.“ „Dies sind sogenannte Medizinschilde,“ erklärte Wandernder Bär. „Sie sagen sehr viel über die Persönlichkeit der hier lebenden Leute aus.
Auch du wirst dir einst so einen Medizinschild anfertigen. Ich zeige dir dann, was es dazu braucht. Fürs Erste dies: „Es sollte unser aller Ziel sein, einen ausgewogenen Medizinschild zu haben. Das heisst, auch alle Elemente und Aspekte des Lebens in sich zu integrieren und Frieden mit ihnen zu schliessen. Das Pferd- Sunkawakan in unserer Sprache, ist für uns der Lehrer des ausgewogenen Medizinschilds. Es gibt eine Geschichte dazu, die ich dir bald erzählen werde. Das ist mit ein Grund, warum ich dich hierherbringe. Unsere Geschwister die Pferde, können dir helfen, einen ausgewogenen Medizinschild zu erhalten. Du wirst darum eine Weile mit ihnen arbeiten.“ „Oh das ist toll!“ rief Nathalie aus. „Ich liebe Pferde und bin auch schon mal geritten.“ „Das kann dir nur dienlich sein bei deiner Suche Cunksi,“ lächelte der Schamane „denn ein ausgewogener Medizinschild ist besonder für dich als Animal Riderin wichtig. Ohne ihn, kannst du deinen Weg nicht gehen.“ „Meinst du denn, dass ich das überhaupt schaffen werde?“ fragte Nathalie ziemlich unsicher geworden. „Ja, ich bin ganz sicher, dass du es schaffen wirst. Ich kenne doch meine Suna.“ „Ich bin nicht Suna, bitte denk daran!“ „Du wirst immer Suna bleiben, genau wie du immer Nathalie bleiben wirst, denn diese beiden sind Eins. Denk du daran Cunksi!