Nathalie tat wie ihr geheissen. Sie fand einen geeigneten Platz unter einer Präriepappel (wagacan), dem wichtigsten Baum der Lakota, der im Sonnentanz eine zentrale Rolle spielte. Man nannte ihn hier Baum des Lebens, sah ihn als Symbol für die Weltachse. Der Baum spendete Nathalie etwas Schatten und Schutz. Von hier aus hatte sie einen guten Blick auf Blackfeet und begann mit ihren Beobachtungen.
Ziemlich bald fiel ihr auf, das dieser wohl mit einer rotweissen Stute Freundschaft geschlossen hatte. Die beiden grasten immer in unmittelbarer Nähe voneinander. Immer wenn etwas die Aufmerksamkeit des einen auf sich zog, hob auch das andere Pferd seinen Kopf. Wenn Blackfeet davontrabte, um sich woanders den Bauch vollzuschlagen, trabte die junge Stute ihm hinteher und umgekehrt. Die beiden hatten einen sehr liebevollen Umgang miteinander, legten ab und zu die Hälse übereinander oder stubbsten sich mit den Nasen sanft an.
Blackfeet war ein eher ruhiges Tier, das sich bedächtig bewegte, er war sehr geduldig mit den andern Pferden. Ausserdem war er sehr aufmerksam und interessiert an seinem Umfeld.Wenn jemand an die Koppel kam, Tier oder Mensch, hob er meist interessiert den Kopf. Er war aber nicht sehr nervös. Da gab es andere Mustangs die wegen jeder Kleinigkeit aufschreckten. Nur als man Blackfeets Freundin abholte, um mit ihr zu trainieren, wurde er einen Moment lang unruhig, doch er beruhigte sich schnell wieder, denn er wusste ja, dass sie wiederkommen würde. Das war auch der Fall.
Den ganzen Tag machte Nathalie interessante Beobachtungen und der Charakter ihres Pferdes kristalliesierte sich immer mehr heraus. Mit der Zeit fühlte sie Müdigkeit und sie verfiel in einen Art Dämmerzustand, der zwischen Schlafen und Wachen liegt.
Auf einmlal tauchte vor ihrem innern Auge ganz deutlich der Kopf eines weissen Wolfes auf. Sie schreckte hoch und das Bild verschwand wieder. Was hatte das wohl zu bedeuten?...
Mein Name ist Sunkmanitutanka- die Wölfin. Man nennt mich aber auch Suna.
Mein Herz ist voll tiefer Trauer, denn mein alter Lehrmeister Mato (der Bär), ist gestern von uns gegangen. Niemand weiss weshalb genau, ob es der Kummer war, der ihn die Freude am Leben verlieren liess, oder es einfach Zeit für ihn war zu gehen. Er wurde auf einmal krank und keiner konnte ihm mehr helfen. Bevor er in die Anderswelt einkehrte, bat er mich für ihn diesen Bericht weiterzuführen.
Mato hat mir sehr viel beigebracht, auch das Schreiben und so will ich seinem innigen Wunsche nachkommen. Dies sind die ersten Zeilen die ich nun niederschreibe:
Wie mein Lehrmeister und guter Freund bereits schrieb, ist schon sehr viel Elend passiert, seid wir hier auf diesem endlos scheinenden Meer treiben. Es hat schon viele Verluste gegeben, auf seiten der Menschen und der Tiere.
Mein Herz schmerzt, dass mein Geliebter Kangi für einen der Toten verantwortlich ist. Ich habe es ihm lange nicht verzeihen können, weil ich ihm den Vorwurf machte, dass er er war, der diese Unstimmigkeiten hervorrief. Doch mitlerweile ist mir bewusst geworden, dass es irgendwann so weit gekommen wäre. Die Extremsituation der wir die letzten Monde- ich weiss nicht mehr wie viele es waren, ausgesetzt waren, förderten das Böse nur schneller zu Tage. All das was geschah, geschah weil es schon längst Spannungen zwischen Tieren und Menschen gab. Die Schlange Schwarzer Zahn hat schon seit einiger Zeit einen Anlass gesucht, um Unfrieden zu stiften. Kangi sagte er habe ihn in Notwehr getötet. Vermutlich kam er dazu, als Schwarzer Zahn das andere Sternkind mit seinem Biss tötete und geriet so auch in Lebensgefahr. Nach wie vor glaube ich, er hätte auch fliehen und den Rat von der Untat der Schlange in Kenntnis setzen können, so das jener über Schwarzer Zahn richten konnte. Doch es ist nun mal wie es ist, Kangi ist schon immer anders mit Konfrontationen umgegangen. Ich liebe ihn jedenfalls aus tiefstem Herzen und ich weiss, dass er mich jetzt braucht, jetzt da er schon so lange in diesem dunklen Bauch des Schiffes eingekerkert ist. Er leidet schon sehr darunter, ist er doch ein Mensch der seine Freiheit als höchstes Gut erachtet. Ich hoffe man wird ein Einsehen mit ihm haben, wenn wir die neue Welt betreten und ihn endlich frei lassen.
Einige Tiere, haben sowieso bereits angekündigt, dass sie ihren Weg ohne die Sternkinder fortsetzen wollen, wenn diese endlose Irrfahrt ein Ende hat. Ebenso haben auch einige Sternkinder gesagt, dass sie die Tiere nicht mehr als Lehrer bräuchten, sondern nur noch als Nahrung. Das sind Zustände, die es noch nie zuvor gab. Ich glaube dass Mato deswegen an Kummer starb. Er war immerhin der Vorsitzende des Grossen Rates der Tiere und doch konnte er nichts gegen das Böse unternehmen, das nun immer mehr zum Ausdruck kommt.
Vater Grauwolf hat jetzt seine Position übernommen. Ich bin froh darüber, denn er ist Menschen und Tieren gleichwohl zugetan und wird tun was er kann um die Unruhen in den Griff zu kriegen. Allerdings weiss ich nicht, ob das wirklich möglich sein wird. Ich hoffe deshalb aus dem tiefsten Grunde meines Herzens, dass wir bald das ersehnte Land finden, von dem die Krähe uns gestern, nach einem endlosen Flug berichtet hat. Es soll eine grüne Insel aus dem Wasser aufgetaucht sein, die sich nun hoffentlich immer mehr vergrössert. Geregnet hat es jedenfalls seit vielen Tagen nicht mehr. Das ist ein gutes Zeichen, das Wakan Tanka (der Grosse Geist) sich uns erneut zugeneigt hat. Auch wenn... wir es eigentlich gar nicht verdienen. Sind wir doch alle auf irgendeine Weise schuldig geworden. Onsimalaye! (Sei gnädig „Gott“)....
Das Bild des Wolfes liess Nathalie nicht mehr los. Es war ihr gewesen, als wolle er ihr etwas mitteilen, doch sie schaffte es einfach nicht, so weit in sich zu gehen um es zu erfahren. Warum erschien ihr ausgerechnet ein Wolf? Hatte Wandernder Bär nicht gesagt, dass sie die Wolfskraft besitze und vor endlos langer Zeit sogar selbst „Die Wölfin“ genannt wurde? Was also wollte dieser weisse Wolf von ihr? War es ein weiteres Totem, wie der Schmetterling den sie im Traum sah? Irendwann würde sie das noch herausfinden...
So langsam begann es wieder zu dämmern. Verträumt blickte Nathalie hinaus in die Weite der Prärie, deren Büffelgras wie ein endloses Meer im Wind hin und her wogte. Es wurde jetzt immer kühler. Die Sonne näherte sich dem Horizont und nahm eine rot-orange Färbung an, die alles in zauberhaftes Licht tauchte. Es wirkte wie ein Weichmacher, das alles noch schöner erscheinen liess. Das weisse Fell von Blackfeet bekam einen Rosèschimmer, wie Standbilder kamen er und die andren Pferde dem Mädchen im Lichte der untergehenden Sonne vor...
Noch ganz in ihren Träumereien gefangen, erschrak sie fast, als Jonathan geräuschlos wie ein Schatten hinter ihr auftauchte. Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter, die sich angenehm warm anfühlte. „Es tut mir leid wenn ich dich erschreckt habe,“ sprach er respektvoll. „Doch es wird Zeit Blackfeet in den Stall zu bringen. Konntest du einige wichtige Beobachtungen machen?“ „Ja, es war sehr schön. Ich glaube ihn jetzt noch viel besser zu kennen.“ „Du wirst ihn noch besser kennen lernen, wenn du die Nacht in seinem Stall verbringst. Vorher aber führen wir ihn von der Weide und füttern ihn, dann kommst du zu uns zum Abendessen und kehrst danach in den Stall zurück. Wir müssen dir genug warme Decken mitgeben, denn es wird eine kristallklare Nacht und das bedeutet eisige Kälte. Manchmal einige Grade unter Null.“ Nathalie erhob sich und zusammen gingen sie zur Weide, wo Blackfeet sie bereits erwartete. Sie gingen langsam zu ihm hinein und legten ihm das Halfter an. Wie ein Hund folgte er Nathalie sofort.