Allerdings blieb sie einige Meter weiter vorn beim leicht offenen Fenster stehen. Sie wollte hören, was da gesprochen wurde, denn irgendwie spürte sie, dass es für sie wichtig war, auch wenn ihr Mentor sie offensichtlich nicht dabeihaben wollte.
Als Erstes vernahm sie Jonathans ziemlich ärgerliche Stimme: „Warum muss du sie gerade Morgen mit nach Pine Ridge nehmen? Wir sind doch erst seit gestern Abend ein Paar und Blackfeet muss auch noch weiter ausgebildet werden.“ „Nathalie muss schon sehr bald wieder in die Schweiz zurück“, vernahm sie nun die ruhige, aber entschlossene Stimme von Wandernder Bär. „Ich muss ihr, wie gesagt, noch einiges zeigen und sie muss noch ihre Vision finden.“ „Aber sie hatte doch schon Kontakt mit ihren Totems!“ „Das stimmt, doch es gibt noch ein paar Dinge, die sie in sich finden muss.“ „Aber sie hat sich ja bereits entschlossen den Weg der Animal Riderin zu gehen!“ „Es mag sein, dass sie glaubt sich ihrer Sache sicher zu sein, doch wenn sie wieder daheim ist, wird sie erneut zweifeln.“ „Das glaube ich nicht! Sie meint was sie sagt. Ausserdem... sagte sie auch, sie liebt mich und ich glaube ihr das auch. Sie kommt bestimmt zurück!“ „Zurück kommt sie sicher, aber ob schon für immer, das ist die Frage. Nathalie hat ein grosses Bedürfnis nach Sicherheit und sie hängt als Wolfgeborene auch an ihrer Familie. Das alles darf man nicht unterschätzen. Ausserdem... und das muss ich dir leider auch sagen mein Sohn, auch wenn es mich schmerzt, du weisst nicht, ob du wirklich die Liebe ihres Lebens bist.“ Jonathan wollte entrüstet antworten, doch der Schamane hielt ihn zurück. „Sie liebt dich sehr, zweifellos cunksi, doch du weisst doch auch, dass da noch jemand anderer ist…“ „Ich will gar nichts von ihm hören! Er hat Nathalie doch nie zu schätzen gewusst. Ich kann sie glücklich machen!“ „Aber dieser Marc, um den sich Snakeman im Augenblick kümmert, ist ihre grosse Liebe. Er war es schon... als ich noch Mato der Bär war und... diese Verbindung ist stets bestehen geblieben. Er war Kai und sie war Suna. Und... die beiden treffen stets wieder aufeinander.“ Woher willst du das so genau wissen? Vielleicht bin ich ja doch ihre grosse Liebe und du irrst dich einfach?“ „Glaubst du das wirklich Jonathan? Ich bekam einst vom Grossen Geist das Geschenk in die tiefste Vergangenheit zurück zu blicken. Er gab mir den ganz deutlichen Auftrag mich um Nathalie bzw. Suna zu kümmern und... sie auf ihre Bestimmung aufmerksam zu machen. Dazu gehört... leider auch Marc bzw. Kai. Du hast in der Tat auch mal eine sehr wichtige Rolle für Nathalie gespielt und ihr seid zweifellos tief verbunden, denn sie findet in dir etwas was ihr einst abhanden gekommen ist. Doch nach wie vor ist da Marc. Auch wenn ich mir in diesem Leben von ganzem Herzen wünschen würde, dass du Nathalies Auserwählter bist, müssen wir doch diesen Tatsachen ins Auge sehen, wenn wir an die Fügung glauben.“ „Aber wir haben doch auch Vieles selbst in der Hand. Ich kann Nathalie vielmehr geben, als dieser.... Kai, oder Marc was immer! Wie gesagt, er hat sie gar nicht verdient. Er hat sie nicht einmal angerufen und sie hat oft an ihn gedacht, das weiss ich. Nun aber hat sie sich für mich entschieden.“ Wandernder Bär legte die Hand auf Jonathans Schulter uns sprach etwas betrübt. „Ich würde es mir von Herzen wünschen, dass ihr zusammenbleibt, doch ich möchte einfach nicht, dass du zu tief verletzt wirst, sollte sich Nathalie doch einst für Marc entscheiden. Jener hat wohl seinen Weg verloren, hat viele Fehler gemacht, doch Snakeman sagte mir auch, dass er erstaunliche Fortschritte macht und das sehr schnell. Er hat schon eine Vision gefunden, im Inipi. Das hat Grosses in ihm ausgelöst. Wenn er sich einst so verändert hat, dass er wieder sein tiefstes Wesen entdeckt, wird er Nathalie anders begegnen und...vielleicht kommen dann die uralten Gefühle wieder hoch. Ich will dich einfach vor zu grossem Schmerz bewahren, auch wenn du mich im Augenblick dafür hassen magst.“ „Du willst also, dass ich Nathalie wieder aufgebe?“ stiess Schwarzes Pferd um Fassung ringend hervor. „Nein. Ich finde es wunderbar, dass ihr zusammenseid. Geniesst jeden Augenblick als wäre es euer Letzter! Aber mein Sohn, behalte stets in Erinnerung, was ich dir sagte, was ich dir schon zu Anbeginn sagte! Vater Krähe hat mir viele Dinge gezeigt, die niemand für möglich halten würde. Er, der Wächter über alle grossen Geheimnisse der Vergangenheit, offenbarte mir durch die Gnade Wakan Tankas alles, was einst war. Ich würde das nicht sagen, wenn ich nicht ganz sicher wäre. Doch ich sehe nicht in die Zukunft und darum weiss ich nicht, was das Grosse Geheimnis mit uns allen noch vorhat. Darum denke nicht mehr zu sehr darüber nach, geniesse einfach das, was dir durch Nathalie geschenkt wurde, und was du ihr alles schenken kannst. Denn ich weiss, das kannst du wohl...“
Die Stimme von Wandernder Bär klang nun sanft und erfüllt von väterlicher Liebe. Nathalie hatte genug gehört! Tränen brannten in ihren Augen und sie lief, lief immer weiter, bis sie nicht mehr konnte. Alles in ihr bäumte sich auf, ihr Magen schien sich umzudrehen und sie glaube sogleich erbrechen zu müssen. Das alles war so unglaublich, so schrecklich! Wie konnte Wandernder Bär nur so etwas zu Jonathan sagen? Sie hatte sich doch für diesen entschieden und nun... kam William wieder mit diesem Marc, den sie im Augenblick mehr verabscheute als alles andere. Sie hasste den Gedanken an ihn, hasste es, dass sie so verwirrt war wegen ihm. Er war für sie nicht der richtige Mann, damit hatte Jonathan vollkommen recht. Er würde sie nur immer und immer wieder verletzen. Dieser seltsame Snakeman, wer immer das auch sein mochte, hatte sich Marc‘s jedoch angenommen und dieser machte scheinbar grosse Fortschritte. Was wenn...? Doch was dachte sie überhaupt darüber nach? Marc passte nun wirklich nicht zu ihr. Oder doch..
Auf einmal erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung, an ihr erstes Gespräch, das aber zugleich auch ihr Letztes gewesen war. Seinetwegen! Zorn stieg erneut in ihr hoch. Was auch immer Wandernder Bär über diese vergangenen Leben sagte, es war ihr egal! Vollkommen egal! Das war doch nur dummes, abgehobenes Gerede! „Vielleicht wäre ich besser nie hergekommen“, dachte sie bei sich. „Dieser ganze spirituellen Kram, von wegen Animal Rider, Reinkarnation etc., das ist doch nicht meine Welt! „Meine alte Welt war wenigstens griffig, bot mir stets Sicherheit, anders als... das hier!“ Doch sogleich meldete sich eine andere, innere Stimme: „Dennoch habe ich wirklich Unglaubliches erlebt hier in Amerika. Und es ist wirklich so, dass ich mich an diesem Ort mehr daheim gefühlt habe, als in der Schweiz. Ausserdem durfte ich wundervolle Menschen kennen lernen, darunter vor allem Jonathan.“ Wärme zog stets in ihr Herz ein, wenn sie an ihn dachte. Was zerbrach sie sich eigentlich den Kopf darüber, ob er schon die Liebe ihres Lebens war? Das konnte man doch nie genau sagen. Sie liebte ihn und das zählte. Alles andere würde sich ergeben. „Doch dass ich mich jemals für Marc entscheide, glaube ich kaum!“ redete sie sich ein, bis sie es völlig glaubte. „Das ist doch kein Mann zum Heiraten. Der mit all seinen Liebschaften und hundert Interessen. Jonathan geht wenigstens auf mich ein.“
So langsam kehrte wieder etwas Ruhe in ihr Inneres ein. Darüber war sie froh, denn bestimmt würde der junge Indianer jetzt ihren Trost brauchen und sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie gelauscht hatte.
Tatsächlich war Schwarzes Pferd sehr in sich gekehrt und still, als er zu ihr kam. Sie striegelte gerade Blackfeet und fragte möglichst unbekümmert: „Habt ihr beide euch ausgesprochen?“ Der Indianer nickte schweigend. „Ich weiss, es bereitet auch mir Mühe mich schon Morgen von dir zu trennen, aber ich habe wohl noch so einiges zu lernen. Wandernder Bär wird schon wissen, was er tut.“ „Ja ganz bestimmt“, sprach Jonathan ziemlich zerknirscht. „Aber wir treffen uns sicher noch einige Male. Du kannst ja auf Besuch kommen. Es ist ja nicht so weit.“ „Ich komme bestimmt“, gab der junge Mann zurück. Dann griff er nach ihrer Hand. In seinen Augen lag Angst und Unsicherheit. „Wirst du dich nicht doch noch entscheiden in der Schweiz zu bleiben?“ Nathalie verstand seine Frage, da sie ja gelauscht hatte und erneut wurde sie ärgerlich. „Wenn ich sage ich komme wieder, tu ich das auch. Zweifelst du etwa daran?“ „Nein, eigentlich nicht, aber... es ist schwieriger seine Heimat für immer zu verlassen, als man manchmal denkt.“ „Ich gebe zu, dass ich manchmal schon eine Furcht deswegen verspüre, doch ich will auch meiner Berufung nachkommen. Ausserdem ändert das sowieso nichts an meinen Gefühlen für dich. Ich liebe dich und ich finde, wir sollten jeden Moment geniessen, als wäre es unser Letzter.“ Als sie das sagte, wurde Schwarzes Pferd einen Moment lang stutzig und schaute sie erstaunt an. Doch dann entspannten sich seine Züge und er umarmte sie. „Ja du hast Recht, wir sollten jeden Moment den wir haben geniessen.“ Die beiden küssten sich und während sie sich küssten, rückten alle unschönen Gefühle in die Ferne und sie waren nur noch allein mit sich selbst...