11. Kapitel
Der nächste Tag kam schneller als dem jungen Paar lieb war. Die Nacht verbrachten sie zusammen und kosteten ihr Zusammensein nochmal mit allen Sinnen aus. Es war eine wilde, leidenschaftliche Nacht, über welcher aber ein Schatten der Trauer und Verzweiflung lag, der beinahe körperlich spürbar war. Nathalie dachte an die Worte die ihr Mentor zu Jonathan gesagt hatte und von denen sie eigentlich gar nichts hätte wissen sollen. Ja, sie bereute es manchmal gar, sie gehört zu haben. Auch ihren Liebsten schienen diese Dinge zu beschäftigen, doch sie wagte nicht ihn deswegen anzusprechen, da sie dann hätte eingestehen müssen, dass sie unerlaubt gelauscht hatte. Es gab auch noch einen andren Grund für diese Angst, doch...sie konnte nicht recht erfassen was es war. Jedenfalls vernahm sie auf einmal wieder eine dieser unangenehmen, inneren Stimmen, die meinten: „Und wenn es nun doch so ist? Wenn Marc eigentlich seit jeher für dich bestimmt ist...?“ Doch diese Gedanken schob sie mit aller Gewalt von sich. So ein Quatsch! Marc war für sie gestorben und sie wollte jetzt nur noch Jonathan! Dennoch konnte sie sich beim Geschlechtsverkehr mit diesem nicht mehr so einlassen, wie letzte Nacht. Das nahm sie diesem unmöglichen Marc ausserordentlich übel und war fest entschlossen ihn mit Stumpf und Stiel aus ihrem Herzen zu reissen.
Tags darauf packte Nathalie, nachdem sie sich noch von allen verabschiedet hatte (natürlich auch von Blackfeet), ihre Habseligkeiten und ihr Lehrmeister William, gegen den sie heute einen leisen Groll hegte, lud mit ihr alles in den Lieferwagen. Der endgültige Abschied von Schwarzes Pferd gab ihr einen tiefen Stich ins Herz und die beiden konnten sich kaum voneinander losreissen. „Wann besuchst du mich?“ fragte sie ihn leise. „Baldmöglichst. Vater will noch mit dir in die Wildnis, doch danach ganz bestimmt.“ „Er will mit mir in die Wildnis?“ „Ja vermutlich schon bald, sofern das Wetter noch so gut hält. Es ist aussergewöhnlich, dass es zu dieser Zeit noch immer keinen Schnee hat. Sonst fällt im November bei uns viel Schnee. Schlecht für die Wintertouristen, gut für dich, “ scherzte er dann noch, um etwas die Schwere des Abschieds zu überbrücken. Nathalie merkte, dass Jonathan immer darum bemüht war, sich keinen zu tiefen Gefühlsbädern hinzugeben, während Nathalie die Tränen nicht zurückhalten konnte. „Ich liebe dich“, schluchzte sie und barg ihr Gesicht an seiner, in weiches Wildleder gekleidete, Brust. Wieder roch sie den angenehmen Duft, welcher so typisch war, für den jungen Indianer. Ja, sie fühlte sich tief mit ihm verbunden und glaubte fest daran, dass er auch schon mal eine wichtige Rolle in einem ihrer vorherigen Leben gespielt haben musste. Hatte ihr Mentor nicht auch so was gesagt, als er gestern mit Jonathan allein sprach?
Sie begann nochmal alles revuepassieren zu lassen, was sie da vernommen hatte, während sie nachdenklich in den Wagen stieg und zum Abschied noch einmal die Hand hob. Etwas ruckelig setzte sich der Kleinbus in Bewegung.
Als sie eine Weile gefahren waren, blickte Wandernder Bär auf einmal zu ihr herüber. „Du bist mir noch immer böse, nicht wahr?“ Nathalie zuckte zusammen, ob dieser direkten Ansprache und sie wusste, dass sie dem Schamanen nichts vormachen konnte. So erwiderte sie ehrlich: „Ja, ich finde es nicht so nett, dass du mich gerade heute unbedingt mit in die Reservation nehmen willst. Gerade jetzt, da Jonathan und ich zusammen gekommen sind. Warum nicht vorher, als er und ich nur Freunde waren?“ William erwiderte ruhig: „Es mag für dich im Moments schwer sein und du magst es nicht verstehen, aber ich verfolge einen genauen Plan.“ „Und was für ein Plan soll das sein?“ gab das Mädchen nun etwas ärgerlich zurück. „Ist es möglich, dass du unsere Verbindung nicht gerne siehst?“ Über das Gesicht von Wandernder Bär huschte ein Schatten, als er diese Anschuldigungen hörte und Nathalie glaubte ihn diesmal verletzt zu haben. Dennoch meinte er gefasst: „ Es sieht vielleicht so aus, doch es geht darum, dass es Zeit wird dich auf die Visionssuche zu machen.“ „Aber ich hatte ja schon mal so eine Art Vision, mit meinen Totem Tier dem Wolf.“ „Der Wolf ist wohl dein Haupttotem, was deine Persönlichkeit betrifft, doch das Tier das dir deinen höheren Auftrag anzeigt erschien noch nicht.“ „Vielleicht soll es einfach nicht sein“, gab Nathalie zurück „jedenfalls nicht in diesem Urlaub. Vielleicht sollte ich einfach bei Jonathan bleiben und weiter mit Blackfeet arbeiten. Letzterer soll mir ja den Weg zu einem ausgewogenen Medizinschild zeigen. Ich glaube nicht, dass mein Medizinschild schon ausgewogen ist.“ „Blackfeet war auch dein Wegbereiter. Man könnte ihn eigentlich als das erste Totem deines Medizinschildes anschauen. Er verhalf dir dich nach innen zu wenden, ebenso wie auch der Wolf. Durch sie hast du dein innerstes Wesen erkannt. Der Schmetterling, von dem du geträumt hast, ist wohl das zweite Tier deines Medizinschildes. Er half dir vor Augen führen, welche Entwicklungen du noch zu durchleben hast. Bestimmt wird er dir einst zur vollkommenen Weisheit in diesem Bereich verhelfen. Ebenso wird auch Blackfeet im Geiste stets bei dir sein.“ Du wirst bestimmt nicht alle deine Totems in diesem Urlaub kennenlernen, doch es ist wichtig, dass du in diesem Urlaub noch auf Visionssuche gehst, nur dadurch wird dir jene Klarheit zuteil, die du für dein zukünftiges Leben brauchst. Immerhin... stehen dir noch wichtige Entscheidungen bevor.“ Nathalie wurde nun auf einmal sehr nachdenklich und ihr ganzer Groll, den sie gegen ihren Lehrmeister gehegt hatte, verschwand mit einem Schlag. Es tat ihr nun auf einmal leid, dass sie so schlecht über ihn gedacht und ihn wohl auch verletzt hatte. In seinen Worten lag so eine tiefe Klarheit, so ein grosses Wissen, dass sie ihm einfach glauben musste. Dennoch fragte sie ihn: „Woher, weisst du das alles?“ „Das kann ich auch nicht genau sagen, aber ich weiss es einfach, als...würde es mir eingegeben. Ich weiss es klingt vielleicht seltsam, doch schon seit ich ganz jung bin, hatte ich Visionen, Träume die mir die Wahrheit offenbarten. Ich habe auch schon sehr viel gesehen. In manches, werde ich dich eines Tages einweihen, denn ich wurde erwählt als dein Lehrer. Du bist mein ganz besonderer Schützling Nathalie und glaube mir... ich habe immer nur dein Bestes im Sinn. Du bist...wie eine Tochter für mich. Warum ich das so empfinde und warum gerade ich für diese Aufgabe auserwählt wurde, ich kann es nicht genau sagen. Doch du und ich, wir kennen uns wie gesagt schon sehr lange, endlos lange. Es gibt nicht mehr so Viele wie mich. Man kann sie bald an einer Hand abzählen. Viele meines Volkes wurden von der Verzweiflung übermannt, kamen auf die schiefe Bahn, weil sie wie entwurzelte Bäume sind. Es ist meine Aufgabe ihnen durch mein Wissen, durch meine Erfahrungen zu helfen. Auch du hast eine Aufgabe, denn... die Lakota sind auch deine Familie Nathalie. Es ist an der Zeit, dass du Einblick bekommst in die harte Realität selbiger. Wir haben im Pine Ridge Reservat einige Projekte am Laufen, die den Lakota helfen, ihre Probleme von innen heraus zu lösen. Es ist wichtig, dass du auch die dunklen Seiten dieser Kultur am eigenen Leibe erfährst. Du sollst meinem Volke einst deine Kräfte zur Verfügung stellen. Viele werden dir anfangs misstrauen, wenige wissen, dass du zum Geschlecht der Animal Rider gehörst. Wir können es ihnen auch nicht sagen, denn für sie bist du als Schweizerin, auch wenn du Indianerblut hast, eine Fremde. Manche Lakota, setzen sich auch noch kaum mit den alten Geschichten auseinander. Darum sind wir vom Stammesrat, stets darum bemüht den Jungen in der Schule wieder die alten Traditionen und Geschichten näher zu bringen. Die Lakota müssen lernen wieder stolz auf ihre Herkunft zu sein, auch in der neuen Welt, die uns oft so fremd und feindlich gesinnt ist. Unser Leben ist ein ständiger Kampf. An allen Ecken und Enden fehlt es an der nötigen Versorgung. Oft sind wir auf Spenden der reicheren Länder angewiesen. Es gibt auch verschiedene Organisationen, die uns helfen. Durch die Projekte die der Stammesrat, oft auch mit ihnen zusammen erstellt, werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Meine Brüdern und Schwestern erhalten dadurch eine Arbeit und damit mehr Selbstachtung.
Das ist überaus wichtig, denn wir haben wirklich grosse Probleme, besonders mit der Alkohol- Abhängigkeit. Es wurde die letzten Jahre so arg, dass sogar ein Alkoholverbot im Umkreis von Indianerreservationen eingeführt wurde. In Pine Ridge wurde dieses Gesetz sehr begrüsst, denn Alkoholismus ist eins unserer grössten Probleme. Durch ihn wird auch noch der letzte Resten der Selbstachtung und Hoffnung zerstört. Wir müssen dafür kämpfen, dass wir uns einst wieder aus dem Staub erheben können. Allerdings kämpfen wir nicht mehr mit Waffen, sondern mit Worten, Strategien, Projekten usw.
Das nun die Animal Rider aller Welt zusammengerufen werden, hat deshalb eine wichtige Bedeutung. Etwas ist sich am Verändern, die Welt steht vor einem Evolutionsschritt.“
Diese Worte drangen tief in Nathalies Herz und sie hatte auf einmal das Gefühl, als ob der unsichtbare Hauch einer gewaltigen Wahrheit sie wie ein sanfter Wind streifen würde. Irgendwie erschauderte sie dabei leicht. „Dann...gibt es also noch mehr wie mich? Solche die denselben Weg einschlugen?“ „Ja, es gibt sie. Sie alle wurden von einem Lehrmeister aufgesucht, der um die Geschichte der Animal Rider weiss.“ Gibt... es da auch jemanden in meinem näheren Umfeld?“ wagte Nathalie zu fragen. William horchte bei dieser Frage auf, doch es schien so, als hätte er keinen Verdacht geschöpft. Nach einigem Zögern erwiderte er: „Ja...es gibt da tatsächlich jemanden.“ „Wer ist es?“ fragte das Mädchen mit klopfendem Herzen. „Es ist... Marc Keller, der junge Mann, den du vor einiger Zeit im Museum kennengelernt hast. Marc ist ein Animal Rider, so wie du...“
Irgendwie traf diese plötzlich ganz klare Erkenntnis über Marc Nathalie wie ein Donnerschlag. Auch wenn sie ja schon sowas geahnt hatte, nach dem Gespräch das sie gestern belauscht hatte. „Wurde er...schon von seinem Mentor aufgesucht?“ stiess sie nach Fassung ringend hervor. „Ja. Das wurde er.“ „Wer ist es und wo hält sich Marc auf?“ „Du wirst es erfahren, wenn der Moment gekommen ist cunksi (Tochter). Ich darf dir das nicht sagen.“ Nathalie war wie auf heissen Kohlen und wollte am liebsten mit dem herausplatzen was sie schon wusste. Z.B. das Marc's Mentor Snakeman hiess und Marc ja scheinbar schon eine Vision gehabt hatte. Doch sie durfte es nicht, sonst erfuhr Wandernder Bär von ihrem Vertrauensbruch. Das wollte sie nicht. Sie hätte seine Enttäuschung nicht ertragen, nicht jetzt.So schwieg sie den Rest des Weges darüber, auch wenn es ihr sehr schwer fiel.