Dieser kam einfach so, ohne ihr Dazutun und… auf einmal, war sie selbst der Adler! Ja, sie war es wirklich, wenn sie sich auch eher als dessen Gast fühlte, der auf einmal durch seine Augen zu blicken vermochte. Es waren scharfe Augen, sie sah alles ganz deutlich, die endlose Prärie unter sich, die erodierten Steine der Badlands, welche durch das Licht der untergehenden Sonne in verschiedensten Farbabstufungen glänzten. Sie sah die Häuser und Trailer von Pine Ridge als rechteckige Würfel unter sich und drehte weiter und weiter ihre Kreise. Auf einmal vernahm sie tief in ihrem Innersten eine Stimme, es war die Stimme des Adlers. „Wer bist du, was tust du hier? Warum schlüpfst du in meinen Körper?“ „Ich…“stotterte Nathalie „das… wollte ich eigentlich gar nicht, oder doch… irgendwie wollte ich es schon. Aber… ich hätte nie gedacht, dass es geht.“ „Das ist eine schlechte Entschuldigung, ausserdem wie soll sowas zugehen?“ „Glaub mir… ich weiss das selbst nicht, ich…“ „Du bist etwas Besonderes, das merke ich. Sonst wäre das niemals möglich. Ich bin sonst der alleinige Herr über meinen Körper, du hingegen…“ „Ich bin ein Eindringling, ich weiss. Es… tut mir leid, es ist einfach passiert.“ „Wie auch immer, was willst du von mir?“ Nathalie überlegte. „Ich… wollte doch eigentlich nur meine Urgrossmutter besuchen, sie soll nicht weit von hier leben. Ausserdem dachte ich, ich könnte mich von der Schwere die mich gerade wieder so lähmt etwas befreien, wenn ich ein Adler wäre und… da war ich auch schon da. Keine Ahnung wie.“ „Ich sehe deinen Körper, er ist da unten, siehst du?“ „Waas! Mein Körper aber… das ist nicht mögliche, ich bin doch hier.“ „Nur deine Seele, dein Körper nicht. Das wäre ja noch schöner.“ „Ich kann durch deine Augen alles ganz klar sehen. Du siehst wirklich sehr gut.“ Nathalie suchte mit ihrem Blick das Gelände ab über dem sie kreisten und tatsächlich… sie konnte es beinahe nicht fassen und zuckte zusammen, als sie ihren eigenen Körper unter sich sah. „Das ist jetzt wirklich unheimlich“, sprach sie mit gepresster Stimme und Ungläubigkeit und irgendwie auch Entsetzen floss durch ihre Venen. „Deine Gefühlszustand ist wirklich nicht sehr angenehm zu ertragen“, meinte die Stimme des Adlers, es war ein junger Weisskopfadler mit noch wenig Weiss, etwas missgelaunt. „Tut mir leid, ich weiss. Aber…“ „Du entschuldigst dich zu viel und es gibt zu viele Abers in deinem Leben.“ „Ja, das ist mir schon klar aber…“ „Schon wieder aber…“ Du bist ein seltsames Menschenkind. So stark und doch so schwach, weil du dir deiner Stärke nicht bewusst bist.“ „Ich bin nicht sonderlich stark, ich bin eigentlich eher ziemlich schwächlich und habe öfters Probleme mit meiner Psyche… Jetzt jedoch, da ich hier bin fühle ich mich auf einmal stärker und vor allem freier. Ich danke dir, dass ich hier sein darf!“ „Darauf hatte ich wenig Einfluss“, erwiderter der Vogel etwas ironisch. „Was willst du nun also von mir? Du sagtest du wolltest deine Urgrossmutter besuchen? Wie heisst sie denn?“ Die Leute ihres Stammes nennen sie Mondblume, sie ist eine Schamanin. Eigentlich weiss ich sonst nichts über sie, nur dass sie meinen Grossvater mütterlicherseits geboren hat.“ „Mondblume? Ja die kenne ich. Sie steht noch in enger Verbindung mit den Tieren und auch den Ahnen. Ich weiss wo sie lebt. Sie lebt noch wie vor hundert Jahren in einem Tipi. Dort unten gerade, siehst du?“ Nathalie hielt Ausschau und tatsächlich! Im Schutze einige Büsche und Felsen stand ein einsames Tipi. „Wollen wir runterfliegen?“ fragte der Adler nun einiges freundlicher.“ „Ja natürlich, gern!“ Alle klar, achte gut auf die Windwirbel hier oben, die Windgeister sind stark hier.“ Die junge Frau spürte nun, wie der Wind sie langsam anfing an ihnen zu zerren. Sie musste sich anstrengen um die Balance zu halten, doch es war ein herrliches Gefühl, sie breitete ihre mächtigen Schwingen aus und glitt auf den Windwellen dahin, die sie irgendwie als sich bewegende Ströme wahrnahm, die an Wasser erinnerten, nur viel leichter und durchlässiger waren. Die Ströme glitten an ihrem Körper entlang und sie ritt darauf wie ein Wellenreiter auf unsichtbaren Wellen des endlosen Himmelmeeres. Sie sah alles ganz scharf und klar, sie fühlte sich frei und voller Glückseligkeit. Alles Schwere fiel einen Moment lang von ihr ab und sie begriff dass ein Adler zu sein noch viel schöner war, als sie es sich jemals hätte erträumen können. Bei einer günstigen Windströmung setze sie zur Landung an. Sie glitt durch die kühle Luft, die ihr nun plötzlich gar nicht mehr so kühl vorkam, denn als Adler war sie sich daran nun gewöhnt. Sie sanken, sanken immer tiefer, das Tipi kam näher und näher, schon sah Nathalie die Malereien auf dem Tierhäuten und den Medizinschild, über dem Eingang. Ein warmes Feuer erleuchtete die mittlerweile dunkler gewordene Umgebung und doch sah sie alles noch immer klar und scharf vor sich. Sie flog glücklich auf das Tipi zu, doch der Adler hielt auf einmal inne. „Halt! Ich kann nicht so nahe ran!“ Ein starker Wille hielt Nathalie vom Weiterfliegen ab. In diesem Moment trat eine alte Frau mit silbernem Haar aus dem Tipi heraus und erblickte den Adler. Sie schaute ihn erstaunt an und auf einmal zuckte sie zusammen. „Nathalie? Bist du das?!“ In diesem Augenblickt gab es einen heftigen Ruck und die junge Frau fand sich in ihrem Körper wieder!
„Einen Moment lang blieb sie verwirrt sitzen, sie musste das Geschehene zuerst verarbeiten. Als ihr Kopf wieder etwas klarer war und sie sich wieder an ihren menschlichen Körper gewöhnt hatte, der um einiges schwerer und unbeweglicher war, als der des Adlers, begann sie sich zu ärgern. Sie war so nahe dran gewesen, so nahe. Beinahe hätte sie ihre Urgrossmutter endlich wirklich getroffen. „Du hast mich schön im Stich gelassen!“ sprach sie zu dem Adler, welcher nun seine Kreise über ihr zog. „Du hättest dich doch nicht so fürchten müssen vor meiner Urgrossmutter. Sie hätte dir…uns doch niemals etwas angetan!“ „Adler fliegen selten so nahe an Menschen heran. Wir wissen schon warum. Wir trauen ihnen nicht,“ gab der Adler zur Antwort. „Aber meiner Urgrossmutter und mir kannst du doch vertrauen.“ „Meine Vorfahren dachten auch mal dass man den Sternenkindern trauen kann, es sind zu viele Sünden passiert, einst wurden wir gejagt allein nur wegen unseren Federn. Heute lässt man uns wenigstens einigermassen in Ruhe, dennoch man weiss nie.“ „Ich bin nicht so, ich gehöre vermutlich zum Geschlecht der Animal Rider, ich tue keine Tier etwas an, ich liebe alle Tiere!“ „Das mag sein, dennoch ich konnte nicht so nahe an deine Urgrossmutter heran, sie ist keine Animal Riderin. Ausserdem, was hättest du auch tun wollen, Adler haben nicht dieselben Stimmbänder wie die Menschen, wie hättest du mit ihr reden wollen?“ „Aber sie hat mich erkannt, vielleicht hätte es mit Telepathie funktioniert…“ „Wie auch immer“, sprach der Adler „ Der Flug mit dir war ganz interessant. Du bist wirklich aussergewöhnlich. An dir ist ein Zeichen, dass dich als Schwester aller Lebewesen ausweist, kein einfacher Mensch, hätte jemals sowas zustande gebracht.“ Erst jetzt wurde dem Mädchen die Tragweite dessen richtig bewusst, was sich gerade zugetragen hatte. Sie war tatsächlich in den Körper eines Tieres geschlüpft! Das musste sie unbedingt ihrem Mentor erzählen. Mit klopfendem Herzen und wehendem Haar lief sie ins Reservat zurück.
13. Kapitel
Am liebsten wäre Nathalie gleich zu ihrem Mentor gelaufen um ihm alles zu erzählen. Doch leider war es schon so spät, er schlief sicher bereits. Sie versuchte ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen als sie das kleine Haus betrat, in dem sie vorübergehend untergebracht war. Sie horchte und ging leise am Zimmer ihres Mentors vorbei, welcher im Untergeschoss schlief. Sie hörte ihn leise schnarchen. Wandernder Bär ging immer früh ins Bett. Doch mit irgendwem musste sie doch einfach reden! Sie ging die Treppe hoch zu ihrem Gemach, das unter dem Dach lag. Ihr Blick fiel auf das Telefon neben ihrem Bett. Sie blickte auf die Uhr. Bereits 22 Uhr. Sollte sie vielleicht doch noch Jonathan anrufen? Aber er musste doch auch immer so früh raus. Dennoch… er schlief meist erst so um 23 Uhr. Sie nahm den Hörer und wählte die Nummer. Es klingelte am anderen Ende und sie wartete. Etwa zehn Mal liess sie es klingeln, aber niemand nahm ab. Wo steckten die nur alle? Ärger machte sich in der jungen Frau breit, Ärger und auch Trauer. Sie konnte einfach nicht schlafen, nach dem was sie da Unglaubliches erlebt hatte. sie liess sich alles nochmals durch den Kopf gehen und fragte sich, ob sie doch nicht nur geträumt hatte. Es wirkte rückblickend so unwirklich, so unfassbar, dass sie sich der Tragweite dieser Ereignisse erst nach und nach bewusst wurde. Sie war in einen Adler geschlüpft, wirklich und wahrhaftig! Ihre Seele hatte sich unabhängig von ihrem Körper bewegt. Auf einmal machte ihr diese Tatsache Angst. War das nicht gefährlich? Was hätte alles passieren können?
Sie begriff mit einem Schlag wie viel mehr es doch noch zwischen Himmel und Erde gab, als sie es sich vorstellen konnte. Sie war Teil einer wundervollen Wahrheit geworden: der Wahrheit darüber, dass die Seele wirklich zu Unglaublichem fähig war. Leben und Tod, einfach alles bekam dadurch eine gänzlich neue Bedeutung. Und die Tatsache, dass sich Nathalies Seele in einen Adler transformiert hatte, schien ganz offensichtlich ein Anzeichen dafür, dass sie tatsächlich eine Animalriderin war. Wenn dies nun also alles wahr wäre? Sie hatte es zwar immer glauben wollen aber so ein deutlicher Beweis dafür hatte sie bisher noch nicht erhalten. Sie hatte zwar geglaubt, dass sie mit Tieren in Dialog treten konnte, aber selbst zu einem Tier werden… nein…daran hatte sie bisher stets gezweifelt. Nun aber zog ein ganz neues Bewusstsein in ihr Herz ein und auf einmal glaubte sie alles überwinden, alles schaffen zu können. Und ausgerechnet heute gab es niemanden, mit dem sie reden konnte, dem sie all das Wunderbare erzählen konnte! Nein sie konnte nicht schlafen!
Sie ging hinaus auf den kleinen Balkon, vor ihrem Schlafzimmer draussen und setzte sich dort in einen bequemen Stoffsessel, der an einem Balken aufgehängt war und leicht hin und her schaukelte. Die junge Frau blickte über die Pineridge Resevation, die nur noch mit ein paar Lichtern erleuchtet waren. All diese Lichter…was für Geschichten, was für Menschen verbargen sich dahinter? Es gab hier soviel Trauriges, Schweres und sie glaubte den Schmerz jener intensiv nachzuempfinden, welche so voller Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit waren. Konnte man all diesen Menschen jemals so helfen wie es nötig war? Dabei war doch eigentlich alles so wunderbar, hätte so wunderbar sein können. Nathalie spürte an diesem Abend eine tiefe Geborgenheit und sie glaubte trotz all dem Elend, dass sie hier angetroffen hatte daran, dass irgendwo da oben in einer fernen, unsichtbaren Welt eine liebende Gottheit existierte, welche wie sie, mit Mitgefühl und Liebe auf all diese Lichter hinunterblickte. Nur dass die Liebe dieser Gottheit noch viel grösser, viel endloser war. So endlos wie der Sternenhimmel, der sich über Nathalie spannte. Sie spürte auf einmal einen Windstoss, welcher sie zwar frösteln liess, doch ihr auch wie eine Antwort auf eine wichtige Frage erschien, die sie sich immer wieder stellte: Gab es da wirklich noch mehr, gab es eine göttliche Welt, eine Welt jenseits dieser hier? Der plötzliche Windstoss schien ihr dies zu bestätigen. Sie seufzte tief bewegt und erhob sich kurz um drinnen eine warme Jacke und eine Decke zu holen. Eine Art kleine Küche gehörte zu ihrem Zimmer. Dort stand ein Wasserkocher, in dem sie heisses Wasser aufgebrüht hatte, dass sie sich nun in eine Tasse mit etwas koffeinfreiem Kaffeepulver goss. Sie nahm ein Stück Zucker und etwas Sahne und rührte alles mit einem ziemlich alten, verbogenen Löffel um. Dann ging sie wieder hinaus, setzte sich in den Sessel, schaukelte ein wenig hin und her und trank genüsslich den warmen Kaffee.
Auf einmal erschien es ihr gar nicht mehr so schlimm allein zu sein. Ja sie genoss es sogar, genoss die Stille an diesem Ort den kühlen Wind, der ungehindert über die Prärie wehte. Es roch irgendwie nach Schnee. Würde es wohl doch noch schneien, bevor sie nach Hause zurückkehrte? Aber was wurde dann aus ihrem Vision Quest, von dem Wandernder Bär gesprochen hatte? Sie musste doch noch ihr Haupttotem finden. Aber war dies wirklich so? Hatte sie nicht schon genug erlebt? Was gab es noch Gewaltigeres als das was sie heute durch ihr Verschmelzung mit dem Adler innegeworden war? Irgendwie hatte sie das Gefühl, es sei vorerst genug geschehen. Dennoch… die Zeit die sie hier verbracht hatte war so kurz. Sie hätte sich einigem gerne noch intensiver gewidmet und… vor allem machte es ihr auch Angst Jonathan schon wieder ganz zu verlassen. So eine Fernbeziehung war eigentlich nicht ihr Ding. Sie brauchte stets die Nähe zu ihren Partnern. Doch im Augenblick gab es einfach nichts anderes. Sie musste zurück in die Schweiz. Sie war immer noch beim Museum angestellt und so schnell liess sich in einem fremden Land kein Job finden. Ausserdem war da noch immer ihre Familie, welche sie doch sehr liebte und die sie nicht einfach zurücklassen wollte. Jedenfalls noch nicht. Ihr Mentor hatte schon recht gehabt, sie war als Wolfgeborene doch sehr familienverbunden. Eigentlich liebte sie die Schweiz sehr, auch wenn sie sich hier in South Dakota fast mehr zu Hause fühlte und ganz klar spürte, dass ihre Urwurzeln hier lagen. Wieder dachte sie an ihre Urgrossmutter. Nun war diese so nahe bei ihr und sie hatte sie noch kein einziges Mal gesehen. War das nicht seltsam? Sie mussten sie doch noch richtig kennen lernen, bevor Nathalie wieder nach Hause ging. Sie blickte in die Richtung, in der sich Mondblumes Tipi befand und auf einmal war sie fest entschlossen, sie am nächsten Tag zu besuchen. Dieser Entschluss beruhigte sie irgendwie und es war ihr egal was ihr Mentor dazu sagte. Sie wollte ihren inneren Eingebungen mehr vertrauen und diese hielten sie klar dazu an ihre Urgrossmutter aufzusuchen und der Vision Quest… er konnte warten… Oder… befand sie sich gar schon mitten darin? Ja warum nicht, das schien plausibel und irgendwie gab ihr das die innere Ruhe zurück. Sie liess sich tief in den Sessel hineinsinken und zog die Decke eng um sich. So fror sie nicht und sie konnte sich wunderbar entspannen. Sie blickte weiter hinunter auf die Häuser und Trailer, wo nun ein Licht nach dem anderen ausging und Stille einkehrte. Einmal bellte noch ein Hund, einige Pferde schnaubten leise und man hörte ein paar ferne Stimmen. Doch es blieb ruhig, kein Geschrei, kein Weinen diese Nacht, alles still… alles friedlich… und Nathalie fielen die Augen zu.