Nathalie wusste nichts mehr von der traurigen Geschichte ihres einstigen Lebens, weit zurück in der Zeit. Seither hatte sie schon so manches Leben durchlaufen und war niemals so intensiv mit ihrer mystischen Vergangenheit in Berührung gekommen wie jetzt an diesem wundervollen und doch so traurigen Ort in der Pine Ridge Reservation. Dennoch war sie an diesem Tag guter Dinge. Sie zehrte noch immer von all den wundervollen Ereignissen der letzten Stunden. Der Traum mit der Krähe ging ihr noch sehr nach, als sie sich zu den anderen Bewohnern des kleinen Hauses gesellte, um ein bescheidenes Frühstück einzunehmen. Während sie sich noch eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, welcher in einer eher altertümlich anmutenden Metallkanne, auf dem mit Holz angefeuerten Herd kochte, wählte sie auf ihrem Handy erneut die Nummer ihres Liebsten Jonathan. Sie vermisste ihn sehr und wollte ihm ausserdem unbedingt von all den Dingen erzählen, die sie gestern und in ihren Träumen erlebt hatte. Doch bevor sie die Anruftaste drücken konnte, wurde sie durch laute Rufe daran gehindert, die von draussen an ihr Ohr drangen.
Die Tür wurde aufgerissen und ein eiskalter Windhauch, welcher noch etwas Schnee mit sich trug, drang in den, mittlerweile angenehm beheizten, Raum. Ein Junge von etwa 12-13 Jahren kam hereingestürmt. Ohne darauf zu achten, dass seine Schuhe weisse Schneespuren auf dem Boden hinterliessen, lief er zu Wandernder Bär und rief etwas in Lakota- Sprache. Nathalie verstand nur einige Brocken und konnte sich keinen wirklichen Reim darauf machen. Die Anwesenden jedoch sprangen mit erschrockenen Minen auf und liefen sogleich dem Jungen hinterher nach draussen. „Sie haben einen Verletzten hergebracht. Es ist ein Schlangenbiss!“ erklärte William, dem Mädchen kurz zusammengefasst. „Er muss schnellstmöglich an die Wärme!“ „Ok!“ erwiderte Nathalie geistesgegenwärtig: „Ich bereite ein Lager für ihn vor.“ „Ja, eine gute Idee!“ sprach ihr Mentor anerkennend „Ruf gleich noch den Arzt an! Wir brauchen ein Anti- Serum für Klapperschlangen Bisse. Sofort!“ Das Mädchen nickte und begann das Lager herzurichten. Ziemlich bald wehte erneut ein kalter Windstoss ins Haus und William brachte, zusammen mit einem etwas jüngeren Mann, der eher strenge Züge besass und einem dritten, den Verletzten herein. Sie legten ihn auf das vorbereitete Lager im Wohnzimmer und Nathalie informierte indes den ortsansässigen Arzt. So sah sie anfangs nicht, wer da wirklich auf dem Lager lag und mit dem Tode rang.
Als sie da Telefonat schliesslich beendet und der Arzt ihr versicherte hatte, in wenigen Minuten hier zu sein, wendete sie sich schliesslich dem Verletzten zu und zuckte erschrocken zusammen. Vor ihr lag Marc mit leichenfahler Mine! Sein mit Stäben geschienter Arm, war angeschwollen und blutunterlaufen. Zwei kleine, blutige Löcher zeigten die Stellen, wo die Zähne der Schlange sich in sein Fleisch geschlagen hatten. „Mein Gott!“ flüsterte sie „Marc… aber…“ William nickte bekümmert und der andere Indianer mit dem eher strengen Gesicht, wendete sich ihr nun ebenfalls zu. Als er sie sah, bekam seine Mine einen mitfühlenden Ausdruck und er meinte „Das ist sie also… die grosse Liebe von Marc! Nathalie… oder sollte ich sagen Suna?...
Dem Mädchen wurde auf einmal seltsam schwindlig und Übelkeit stieg in ihr hoch. Marc hier so liegen zu sehen, erschütterte sie mehr, als ihr lieb war. Sie musterte den Indianer, der ihn hergebracht hatte und schätzte ihn so auf etwa Ende 50. Sein Haar war zu einem Zopf geflochten und abgesehen von einigen silbrigen Strähnen, noch ganz schwarz. Er hatte im Gegensatz zu dem gemütlich aussehenden Wandernden Bär, eher asketische, kantige Züge, welche jedoch auch sehr weich werden konnten, wenn ihn etwas besonders bewegte. Das schien hier der Fall zu sein. Er machte sich grosse Sorgen um Marc, das sah man ihm deutlich an. Er musterte diesen mit väterlicher Zuneigung und auch als er Nathalie nun ansah, war da etwas sehr Väterliches, das sie ihm in diesem Masse gar nicht zugetraut hätte. „Eigentlich… bin ich nicht Marcs grosse Liebe,“ gab sie leise zurück „ich bin mit Jonathan Blackhorse zusammen… Aber das spielt jetzt auch keine Rolle. Wie geht es Marc, wird er… es schaffen?“ „Wenn der Arzt ihm das Anti Serum schnell genug spritzt, sollte Marc es überstehen,“ gab der Angesprochene zurück und legte einen kühlen, nassen Lappen auf die Stirn des jungen Mannes. „Ich habe so gut ich konnte erste Hilfe geleistet, aber Serum hatte ich leider nicht dabei. Doch ich sollte mich erst mal vorstellen. Mein Name ist Weise Schlange, bei den Weissen nennt man mich Frank Snakeman. Es freut mich, dich kennen zu lernen!“ Er reichte Nathalie seine kräftige Hand und drückte sie warm. „Sind sie… der Mentor von Marc?“ „Ja, der bin ich. Nicht die einfachste Aufgabe! Lässt sich der Junge doch tatsächlich während seiner ersten Aufenthaltes hier von einer weissen Klapperschlange beissen.“ „Eine weisse Klapperschlange?“ fragte das Mädchen erstaunt. „Ja, eine sehr seltene Albinoschlange. Sie wollte eigentlich nur etwas an die Wärme weil der Winter so plötzlich hereinbrach, doch Marc hat sie wohl irgendwie erschreckt!“ „Ja…“ flüsterte Nathalie „er mag Schlangen nicht sonderlich und doch faszinieren sie ihn irgendwie.“ „Er hat dir das erzählt?“ „Ja, damals als wir uns das erste Mal sahen, hat er mir vieles erzählt, leider sah ich ihn seither nie mehr. Das ist jetzt das zweite Mal. Also vergessen sie das mit der grossen Liebe! Es ist alles andere als das. Wir waren nicht mal richtig zusammen. Wir hatten nur einen Abend und dieser verlief auf rein platonischer Basis.“ Ihre Stimme klang irgendwie bitter, als sie das sagte, bitterer als sie es eigentlich gewollt hätte. „Ja, unsere lieber Marc ist ein ziemlicher Windhund. Aber… er macht sich…“ Wieder blickte Frank auf seinen Schüler herunter und obwohl er eher kritisch über ihn gesprochen hatte, lag in seinem Blick erneut diese tiefe, väterliche Zuneigung. „Er hat schon einige wichtige Schritte getan und ist eine erstaunliche Persönlichkeit, so wie du Suna. Es ist schade, dass ihr euch so voneinander entfremdet habt.“ „Tja, so kann es gehen,“ erwiderte die junge Frau ernst. „Ich halte es sowieso für besser im Jetzt zu leben und nicht zu sehr an vergangenen Leben zu hängen.“ Sie schaute kurz zu ihrem Mentor Wandernder Bär herüber, der nachdenklich nickte.
Die Tür ging nun erneut auf und der Arzt betrat den Raum. Er hatte bereits eine Spritze vorbereitet und spritze Marc sogleich das Serum. Dann erst begrüsste er die Anwesenden mit Handschlag. „Er wird es überstehen,“ sprach er, was in Nathalie eine unglaubliche Erleichterung auslöste. „Zum Glück wusstest du was zu tun ist Snakeman und hast ihn schnell hergebracht.“ „Ich danke dir vielmals, dass du so sogleich gekommen bist Mike!“ sprach Snakeman mit einem dankbaren Lächeln. „Ist doch klar, bei einem Klapperschlangen Biss muss man schnellstmöglich handeln. Wie ist denn das bloss passiert?“ Frank erwiderte: „Marc befand sich auf Visionssuche. In einer Höhle, in der Nähe vom Cottonwood Creek hat ihn die Schlange gebissen.
Der plötzliche Wintereinbruch hat uns wohl alle ziemlich überrascht. Die Schlange suchte dort Zuflucht, wo auch Marc war.“ Der Arzt nickte ernst während er den Blutdruck des Verletzten überprüfte. „In ein paar Tagen sollte er wieder auf den Beinen sein. Mit der Visionssuche ist es nun wohl vorbei, bis der Frühling wiederkommt.“ Frank nickte „Ja, so ist es. Ich werde seine Familie wohl über diesen Unfall informieren müssen.“