Eine helle, laute Stimme lenkte Crus Aufmerksamkeit zurück zur Mitte des Hofes, wo die Botin des Rates rufend dem Mann in Schwarz hinterherrannte. Was genau die junge Frau rief, konnte er zwar nicht verstehen, doch das schürte seine Neugier nur. Noch immer lehnte er mit verschränkten Armen an einer Schulter am Fensterrahmen, beugte sich nun aber ein Stück weiter vor und beobachtete die Szene skeptischen Blickes. Der Magistrat blieb im ersten Moment stehen und blickte sich scheinbar verunsichert um. Schnell hatte Myu Sansa den Mann erreicht und Cru lehnte sich abermals ein ganzes Stück weiter vor. Vielleicht konnte er so einige Worte der aufgeregten Ratsbotin erhaschen. Doch die Stimmen der vielen heiteren Menschen im Burghof überdeckten sie leider. Dass es nichtsdestotrotz eine heftige Auseinandersetzung war, konnte er an den ausladenden Gesten des Mädchens ersehen, die ihren offensichtlich nicht zur Kenntnis genommenen Worten Nachdruck verleihen sollten.
Als der Mann in Schwarz es aber gleich darauf grob von sich stieß, geriet der Sibulek erneut ins Grübeln. Warum legte ein Magistrat sich mit der Botin der Neun Weisen an? Das ergab doch absolut keinen Sinn! Jedes Widerwort oder gar eine Handgreiflichkeit gegen die junge Frau waren eine direkte Provokation des Rates.
Myu ließ sich ein solches Verhalten natürlich nicht gefallen und stellte sich dem Fliehenden energisch ein weiteres Mal in den Weg. Gespannt spitzte der Sibulek erneut die langen Ohren und konnte dieses Mal tatsächlich einige Wortfetzen aus dem Hintergrundlärm filtern, da beide Personen sich nun näher befanden und das Mädchen fast schon schrie.
Den Mann, der seinen verhüllenden Umhang fest umklammerte und selbst kein Sterbenswörtchen von sich gab, schien das alles aber nicht im Geringsten zu interessieren. Ganz im Gegenteil. Die wenigen Handzeichen, die er der Botin gab, sprachen eine klare, eindeutige Sprache und bedeuteten ihr, sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Myu jedoch ließ nicht von ihm ab und als sie nach seinem Mantel griff, zog der Unbekannte ihn mit einem kräftigen Ruck zurück, worauf sie stolperte und der Länge nach in den Kies fiel. Ohne sie weiter zu beachten, stieg der Fremde über sie hinweg und setzte seinen Weg unbeirrt fort.
„Verdammt noch einmal, bleiben Sie stehen!“, rief die Botin dem Mann noch hinterher, doch mehr verstand der Sibulek nicht mehr, da ihre weiteren Worte wieder in Festmusik und Lachen untergingen.
Wütend rappelte die junge Frau sich auf, räumte das Feld und verlangte lautstark nach dem Rat, während der Anführer der Weißen Wölfe die Welt nicht mehr verstand. Ein solch respektloser Umgang sah einem Magistraten eigentlich nicht ähnlich, egal wie wichtig und geheim seine Botschaft auch war. Wobei er sich den gedanklichen Seitenhieb nicht verkneifen konnte, dass er durchaus überrascht war, dass Isidor die Zusammenarbeit mit seinem Freund überhaupt überlebt hatte. Aber er war eindeutig zu lange in Yos Gesellschaft gewesen. Das war mehr als offensichtlich.
Erneut flammte die Idee von eben in ihm auf und er entsann sich, dass man seine Aura zwar nicht gänzlich verbergen, sehr wohl aber mit viel Kraft und Selbstbeherrschung stark erhellen oder verdunkeln und auf kleinem Raum konzentrieren konnte. Eine Kunst, die sein Weggefährte mangels Voraussetzung nie beherrscht hatte. Doch vielleicht war in den drei Wintern ihrer Trennung etwas geschehen, dass Yo nun dazu befähigte, woran er zeitlebens gescheitert war. Cru spürte, wie Wärme in seine Wangen schoss. Hatten seine Augen sich doch nicht geirrt? Wie von selbst glitt sein Blick wieder zu dem Mann in Schwarz, der jetzt im Laufschritt genau auf die Front des Flügels zueilte, in der auch seine Kammer lag. Mit jedem Schritt, den der Unbekannte tat, fühlte der Sibulek sein Herz ungewollt einen Takt schneller schlagen, und je näher die dunkle Gestalt kam, desto stärker umklammerten seine Hände den schweren Vorhang.
Mit einem Mal wandte Cru sich ruckartig vom Fenster ab und schnaufte frustriert. Er musste einen klaren Kopf behalten! Diese heftigen Gefühlsregungen waren nicht nur unvernünftig, sondern auch völlig unbegründet. Entbehrten sie doch einer logischen Grundlage. Denn noch immer fehlte jede Spur der schwer zügelbaren feurigen Aura seines Schwertbruders und nicht ein Hauch dieses elektrisierenden Knisterns lag in der Luft. Ganz egal wie stark Yo geworden war, zu solcher Selbstbeherrschung war sein Weggefährte im Leben nicht fähig. Offensichtlich war er noch immer übermüdet und so ausgezehrt, dass seine Sehnsucht nach einstiger Normalität seine Sinne und Gedanken narrte. Er sollte vom Fenster wegtreten, den Vorhang schließen und noch eine ausgiebige Runde schlafen!
Wie zur Bestätigung seiner Gedanken nickte Cru, doch wider besseres Wissen hielt ihn irgendetwas hier. Zwang ihn regelrecht, zu bleiben. Irgendetwas oder irgendjemand. Ganz langsam und sich innerlich dagegen sträubend drehte der blauhäutige Mann sich wieder um und schon aus den Augenwinkeln fiel sein Blick erneut auf die dunkle Gestalt im Hof. Diese war jetzt am Fuße der Mauer angelangt, hob in Zeitlupe den Kopf und ließ ihm den Atem stocken. Tiefschwarze Augen, welche die heißen Flammen dahinter kaum noch verbergen konnten, sahen zu ihm auf und unter dem feurigen Blick gefror ihm das Blut in den Adern. Für einen Moment schien es, als bliebe die Zeit stehen. Alles andere verschwand in Schwarz getaucht aus dem Blickfeld des Sibulek und sein einziger Fokus war diese Person.
Das Klopfen seines Herzens, das ihm nun bis zur Kehle schlug und laut in seinem Kopf hallte, wurde Cru ebenso unerträglich wie seine immer schneller werdende Atmung. Da endlich spürte und sah er es! Mit einem Schlag begann die Luft, geheimnisvoll zu knistern, seine Nackenhärchen stellten sich auf und ein schwacher, rötlich pulsierender Schein entstand um den Fremden. Mit jedem Flackern wurde er stärker und bereits nach drei Wimpernschlägen strahlte er in intensivem Feuerrot.
Von naher Ferne vernahm er die Stimmen des heraneilenden Rates, die auch der Mann in Schwarz nun hörte. Kurz sah dieser sich nach allen Seiten um, dann nahm er neun kurze, schnelle Schritte Anlauf über einen beladenen Sackkarren, löste sich mit einem kräftigen Ruck vom Boden und sprang mit einem gewaltigen Satz in das offene Fenster im dritten Stockwerk. Im Flug schlug er die verhüllende Kapuze zurück, worauf der unverwechselbare silberne Irokesenschnitt zum Vorschein kam, und mit einer Hand löste er die Kordel. Flatternd ging der schwarze Umhang zu Boden und enthüllte dem Sibulek, was sein Herz von Anfang an geahnt hatte.
Eilig wich Cru vom Fenster zurück, bevor sein unverhoffter Besucher mit Wucht auf dem alten Eichenboden der Kammer landete. Sein Puls schlug jetzt hart in den Stirnadern und rauschte laut in seinen Ohren. Wie zur Strafe, dass er nicht auf seine Intuition hatte hören wollen. Als sein Gegenüber sich langsam aufrichtete, war er nur noch zu einem einzigen Gedanken fähig. Da endlich war er!
Nach drei eisigen Wintern in der Schlacht, zum Ausklang des dritten Sommers sah er sich schließlich wieder dem Grund seiner zahllosen schlaflosen Nächte gegenüber. Schwer atmend stand sein Schwertbruder an die Fensterbank gelehnt einfach nur da und starrte ihn regungslos an. Als sich die silbernen Haarspitzen seines Freundes für einen kurzen Moment entzündeten, wich Cru erneut zurück und nach weiteren Schritten stand er nun am Fenster auf der gegenüberliegenden Seite und konnte sich unmöglich noch mehr zurückziehen.
Quälend lange Augenblicke herrschte absolute Stille. Der rege Lärm des Burghofes trat immer mehr in den Hintergrund, bis er gänzlich aus seiner Wahrnehmung verschwand. Kein Wort, kein Flüstern, kein einziger Ton war mehr zu hören. Nicht einmal sein Atmen war noch zu vernehmen. Auch wenn das dem redegewandten Sibulek ganz und gar nicht ähnlich sah, er fand einfach keine Worte, die diesem Moment gerecht wurden. Dabei hatte er sich nächtelang auf diese Situation vorbereitet und von herzlich über freundschaftlich bis hin zu zurückhaltend die unterschiedlichsten Begrüßungsvarianten zurechtgelegt. Selbst auf ein aggressives, gewalttätiges Wiedersehen hatte er sich eingestellt. Doch nun, da sich keines seiner angenommenen Szenarien bewahrheitete und so gar nichts passierte, brachte er keinen einzigen Ton heraus. Wie versteinert blickte er nur in die Funken sprühenden Augen, die ihn regelrecht zu verschlingen schienen, und rang um seine Haltung. Cru konnte es immer noch nicht fassen. Nach all der Zeit stand Yo jetzt wenige Schritte von ihm entfernt. Er brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren. Beinahe hatte er Angst, jeden Moment aus einer nächtlichen Illusion zu erwachen. Dass die Gestalt vor seinen Augen zerplatzte wie ein wunderschöner Traum im Morgengrauen.
Nur mit Mühe konnte er sich vom Gesicht seines Gegenübers lösen und blickte langsam an ihm herab. Yo sah gut aus. Wie immer trug er eine der schwarzledernen Hosen mit silberner Gliederkette zwischen den Knien. Dazu rotbraune und allmählich verschlissene Lederstiefel mit halb umgekrempeltem Schaft, ein helles, leicht schimmerndes Hemd mit kleinem Stehkragen und einen schwarzen Wams mit dezenten gestickten Verzierungen in sattem Dunkelrot. Die blasse Haut kam ob der dunklen Kleidung besonders deutlich zur Geltung und mutete noch bleicher an als sonst. Die Muskeln schienen zum Zerreißen gespannt zu sein. Heftig hob und senkte sich der Brustkorb unter der schweren Atmung. Die nahezu weiß wirkenden Finger hielten den hölzernen Sims fest umkrallt und Cru konnte das Blut in den Adern der Handrücken schlagen sehen. Am Bauch seines Weggefährten erahnte er einen großen Wundverband und über das nach vorn gedrehte linke Handgelenk verlief die alte feine Narbe.
Dem Sibulek fiel es schwer, zu begreifen, was in ihm vorging, und er musste sich regelrecht zwingen, seinen Blick von seinem Gegenüber zu lösen und auf die Steinmauer zu lenken. Dass er keinesfalls kalt und herzlos war, wusste er, doch dass solche Gefühle in ihm wohnten, hatte er nie bemerkt. Sicher, Yo war für ihn über die Äonen mehr als nur ein Freund und Schwertbruder geworden. Er war sein Vertrauter, sein Wegbegleiter durch die Wirrungen des Lebens, sein Partner. Er war sein Schicksal!
Und doch schien er nicht gemerkt zu haben, wie tief seine Verbundenheit zu ihm mit der Zeit wirklich geworden war. Selbst jetzt konnte er es nur ansatzweise erahnen und die Tragweite all dessen ließ ihn kurz erschauern. Denn das, was er in diesem Moment empfand, ging weit über Freundschaft, Zuneigung oder Vertrautheit hinaus. Was immer es war, es entzog sich seiner Vernunft. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags schwante Cru, dass dieser Abend womöglich blutig enden und ihre äonenlange Freundschaft unwiderruflich verändern würde. Doch dies war ein Risiko, das er eingehen musste, wollte er die dunklen Schatten, die seit jener Winternacht auf seiner Seele lasteten, vertreiben. Einzig Yo konnte ihn davon erlösen und es war an der Zeit, sich ihm zu stellen. Wenngleich weder er noch sein Freund wirklich bereit zu sein schienen.
Als er den Blick langsam wieder auf Yo richtete, löste dieser gerade die krampfhaft in das Fensterbrett gebohrten Finger und packte die Kordel des Vorhanges. Zaghaft wagte er einen Schritt in seine Richtung, wich einem direkten Blickkontakt jedoch aus. Mit klopfendem Herzen erkannte Cru, dass sie dieses Mal wohl beide keine Chance hatten, ihren Gefühlen zu entfliehen. Im Moment dieses Gedankens fiel der schwere Vorhang zu.
Unterdessen standen Inor und Forso Kívíako im östlichen Säulengang des Burghofes und sahen skeptisch zur Kammer des Sibulek hinauf. Sie hatten das halsbrecherische Manöver Yo Valkjas beobachtet und Inor waren höchst unschickliche Worte über die Lippen gekommen.
„Das darf doch nicht wahr sein. Dieser Idiot!“, hatte er bleich vor Schreck geflüstert. „Da kann er sich ja gleich das Sünderzeichen eines Diverlings auf die Stirn brennen.“
Skeptisch und mit gemischten Gefühlen hatten er und sein Bruder dann das Spiel der intensiv flackernden Auren ihrer Ziehväter verfolgt. Vorsichtig hatten diese sich genähert, ohne einander zu berühren, waren umeinander herum geschwebt und ruckartig wieder zurückgezuckt, nur um ihr neckendes Treiben von Neuem zu beginnen. Dann war der Vorhang gefallen und verbarg die beiden Männer nun vor ihren neugierigen Blicken. Nicht aber ihre Auren, deren Tanz stetig wilder wurde.
„Du Inor“, fragte Forso nach einigen Augenblicken leise, als die rote Aura hungrig und unverhohlen nach der blauen züngelte. „Sag mal, ist mit Yo alles in Ordnung? Ich meine, was …“
„Sie sollten nicht gestört werden“, unterbrach er seinen kleinen Bruder trocken und deutete auf die heraneilenden Ratsmitglieder.
Zwar hatte sein Ziehvater Glück, dass außer ihnen beiden anscheinend niemand die verräterische Darbietung seiner Kräfte mitbekommen hatte, doch in dem weit geöffneten Fenster hatte er wie auf dem Präsentierteller gestanden. Die kleine Statur, die silbernen Haare und die auffällige Frisur hatten selbst die alten Augen der Weisen schon vom anderen Ende des Hofes aus sofort erkannt. Mittlerweile waren die grauen Eminenzen bereits in der Mitte des Burghofes angelangt und manche drohten dem Dritten General sogar schon mit dem Stock. Es war nur noch eine Frage von wenigen Augenblicken, bis sie auch den Westflügel erreichten und zur Kammer des Sibulek hinaufeilten.
Für Inor galt es, genau das zu verhindern. In dem Zustand, in dem vor allem sein Meister sich gerade befand, konnte wer weiß was passieren. Denn wenn er ihn nicht völlig verkannte, war dieser bereits nicht mehr Herr über sich selbst. Und was es hieß, wenn Yo die Kontrolle über sich verlor, das wusste er nur zu gut.
„Stimmt, diese Geier lassen ihnen ja kaum die Luft zum Atmen“, pflichtete Forso ihm bei.
Einen kurzen Moment lang sahen sie sich verschwörerisch an, dann nickten die Jünglinge einander verstehend zu und schlossen die Augen. Forso faltete seine Hände vor dem Gesicht und murmelte ein kurzes Meditationsgebet, dann verstummte er und verfiel scheinbar in eine Art Trance. Derweil nahm Inor sich der Neun Weisen an, die schon fast am Aufgang angekommen waren und seinem Ziehvater wieder einmal die Leviten lesen wollten. Ein kurzer umsichtiger Blick, dass sie keiner beachtete, dann konzentrierte auch er sich, murmelte eine kurze Beschwörungsformel und ließ Kraft seiner Gedanken und einer Abfolge komplizierter Fingerzeichen ein täuschend echtes Trugbild des Dritten Generals auf einem menschenleeren Säulengang des Westflügels erscheinen. Dieser lag direkt im Blickfeld des Rates und sobald die Weisen den vermeintlichen Heermeister erblickten, rannte dieser davon und den Gang entlang über das Burgtor zur anderen Seite der Festung.
Für die alten Herren sah es so aus, als hatte der Anführer des Roten Mondes die Kammer seines Freundes verlassen und versuchte nun ein weiteres Mal, vor ihnen zu fliehen. Wie erhofft schwenkte die gesamte Gruppe daher prompt um. Laut rufend rannten die etwas Jüngeren unter ihnen der Illusion hinterher, während die anderen nach einigen Kriegern schickten, die offenbar dem Flüchtenden den Weg abschneiden sollten. Da aber jedermann fröhlich und ausgelassen feierte, gingen die meisten ihrer Rufe ungehört unter.
Zu Inors Gefallen nahm somit kaum jemand Notiz von dem Vorfall um seinen Lehrmeister und dass seine Täuschung so vortrefflich funktionierte, amüsierte den jungen Mann köstlich. Nur mit Mühe konnte er sich das Lachen verkneifen, denn es war schon ein herrliches Bild, was sich ihm da bot. Kurz hielt das Trugbild inne und ließ seine aufgebrachten Verfolger scheinbar aufholen, dann floh es erneut die Gänge entlang hinter die nächste Biegung ins Innere der Festung, wo es aus Inors Sichtfeld verschwand und sich auflöste.
„So, die sind erst einmal beschäftigt“, klopfte er seinem Freund lachend auf die Schulter. „Wie sieht’s bei dir aus?“
„Alles fertig. Da kommt keiner durch.“ Mit diesen Worten schlug Forso die Augen auf und schmunzelte ihn spitzbübisch an. „Und der äußere Film sorgt dafür, dass es auch gar keiner will.“
Augenblicklich verstand Inor und zwinkerte dem bis über beide Ohren grinsenden Blondschopf wissend zu. „Aha, sehr einfallsreich.“
Forso hatte augenscheinlich einen stimmungsverändernden Schutzzauber gesprochen, der bewirkte, dass jeder, der sich der Kammer näherte, unwillkürlich einen anderen Weg einschlug, und somit kein Mensch auch nur in die Nähe ihrer beiden Meister kam. Wie sein kleiner Bruder etwas Derartiges schaffte, wusste Inor bis heute nicht. Denn so sehr er es auch versucht hatte, mehr als einen unappetitlich glibberigen Aggressionsfilm brachte er selbst nicht zustande. Lebensechte Abbilder, die etwas Komplexeres als tote Materie darstellten, zeigten dafür Forso die Grenzen seines Könnens auf. Denn jeder von ihnen hatte unterschiedliche, ihm eigene Fähigkeiten, die sich nur bedingt von dem Anderen erlernen ließen.
„Du Inor“, fragte sein blonder Freund und sah ihn auf einmal etwas komisch an, „ist irgendetwas passiert? Ich meine: Yo, er wirkt so …“
„Nein, nicht wirklich“, antwortete er und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das heißt, na ja, vielleicht.“
Sofort zog Forso die Augenbrauen tief ins Gesicht und sah ihn eindringlich an. „Was heißt das denn bitte?!“
„Ich weiß es nicht.“ Entschuldigend hob Inor die Arme und fuhr sich unsicher durchs Haar. „Er war in letzter Zeit nur so …“
„Ja?“
„Anders!“
Betretene Gesichter und Ratlosigkeit auf beiden Seiten, dann herrschte einen Augenblick lang verlegenes Schweigen. Yo hatte mit seiner gewagten Aktion die Entdeckung seiner nicht menschlichen Natur in Kauf genommen und damit Kopf und Kragen riskiert. Noch dazu schien er alles andere als gut gelaunt. Seine Aura flackerte beunruhigend heftig, nahezu angriffslustig und obendrein schien Cru ungewohnt demütig, war sogar vor seinem Freund zurückgewichen. Wie im Krieg wog Inor daher in Gedanken unbewusst ab, ob Yo eine Gefahr und Bedrohung für Cru darstellte und ob sie eingreifen sollten, es vielleicht sogar mussten. Und sein Bruder tat augenscheinlich dasselbe.
„Ach Forso, ich weiß auch nicht.“ Inor schüttelte den Kopf, als er ihr antrainiertes Verhalten bemerkte. „Du kennst doch Yo. Bei ihm ist immer alles anders und …“
„Wahnsinnig kompliziert!“, fiel Forso ihm lachend ins Wort. „Meinst du … Na ja, glaubst du, dass er endlich …“
Augenblicklich wuschelte Inor durch das sonnenblonde Haar seines Freundes, bis es völlig zerzaust war, und zuckte mit den Schultern.
„Wer weiß. Möglich ist angeblich alles.“
Beide warfen sie einen kurzen, zaghaften Blick auf die hell leuchtenden Auren ihrer Ziehväter, die sich unverändert lauernd umtanzten, wie im Spiel berührten und niederrangen, um dann wieder zurückzuzucken. Ein schelmisches Grinsen entstand in Forsos Gesicht und bedeutungsvoll lächelte er zurück.
„Lass uns einen Spaziergang machen, du kleiner Spanner!“
Grummelig ob der unpassenden Bezeichnung gab sein kleiner Bruder ihm eine nicht ernst gemeinte Ohrfeige und rannte dann lachend davon. Schmunzelnd lief Inor Forso hinterher und sie überließen ihre Meister sich selbst.