Als Yo die Augen aufschlug, blickte er geradewegs an die steinerne Decke seiner Kammer. Ohne sich zu rühren, blieb er eine Weile lang liegen und starrte Löcher in den wabernden Schleier vor seinen Lidern. Ein flüchtiger Blick gen Burghoffenster verriet ihm, dass er eigentlich lange genug geschlafen haben musste, denn die Sonne warf bereits ihre ersten und wie üblich viel zu hellen Strahlen durch die feinen Löcher des schweren Vorhanges. Wie blanke Klingen zerschnitten sie das wohlige Zwielicht, an das er so gewöhnt war, und krochen immer weiter über den Boden auf seine Lagerstatt zu. Sie griffen nach ihm wie lange, dünne Finger. Knochige, vom Alter vergilbte Finger an hageren, gelblichen Händen mit braunen Flecken, die in dürren Armen unter grauen, wallenden Kutten endeten. Ein Bild, das den blassen Mann auf unangenehme Weise an seine ausstehenden Pflichten erinnerte.
„Mist, verdammter!“, knurrte er und rollte mit den Augen.
Die alten Vetteln waren mit Abstand das Letzte, was er sehen wollte. Daran hatte sich seit gestern Abend rein gar nichts geändert. Missmutig schnaufend schloss er die Augen. Ihm war nicht nach aufstehen, dazu fühlte er sich viel zu zerschlagen. Wie so ziemlich jeden Morgen seit er Aikasara hinter sich gelassen hatte. Dabei hatte er inständig gehofft, dass dies endlich ein Ende nahm, sobald er sich wieder in seinem kleinen Refugium befand. Aber nein, alles war wie immer. Wenn nicht gar schlimmer. Denn abgesehen von dieser immensen Müdigkeit dröhnte sein Kopf, als wäre er gerade von der Druckwelle einer Explosion erfasst worden. Die verfluchte Bauchwunde brannte, selbst wenn er sich nicht rührte, seine Glieder waren schwerer als Senkblei und sein Oberkörper schmerzte mit jedem Atemzug. Yo fühlte sich, als hätte man ihn nach allen Regeln der Kunst ausgepeitscht und ihm zum Schluss noch eins über den Schädel gezogen. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich sogar noch miserabler als den Morgen zuvor auf diesem steinigen Felsplateau. Und dann dieser widerliche Gestank.
„Verflucht noch eins!“, grollte er in das neben seinem Kopf liegende Kissen hinein und zog sich die Decke vor das Gesicht.
Nur einen Wimpernschlag später schleuderte er beides knurrend von sich weg, da er sie als die Quelle des fürchterlichen Geruchs erkannte.
„Verdammte Weibsbilder“, fluchte er und zürnte den Kammerdienerinnen, die sein Bett hergerichtet und offenbar mit Duftsäckchen bestückt hatten.
Dabei sollte das für ihn zuständige Mädchen sehr genau wissen, dass jeglicher Blumenduft in seinem Zufluchtsort ebenso unerwünscht war wie aufräumen, Möbelrücken oder gar putzen. Obgleich Yo keine gesteigerte Lust verspürte, sich zu bewegen, zwang ihn die übelkeitserregende Wolke, in der er lag, dennoch dazu. Mit einem Ruck richtete er sich auf und schwang dabei die Beine aus dem Bett. Schlagartig wuchsen seine Kopfschmerzen zu kleinen Explosionen an und die Welt vor seinen Augen versank in einem unscharfen Strudel. Leise stöhnend stützte er sich mit einer Hand am Bettrand ab, mit der anderen hielt er sich den hämmernden Schädel, der den Eindruck machte, gleich zerbersten zu wollen. Mehrfach atmete er tief durch und wartete mit geschlossenen Augen, bis sein Körper sich etwas beruhigt hatte.
„Verflucht noch eins, was habe ich gestern Abend bloß gemacht?“, murmelte er und massierte seine Schläfen, an denen fühlbar die Adern hervortraten.
Das Einzige, was Yo noch mit Sicherheit wusste, war dass Myu Sansa seinen ausgefeilten Plan vereitelt hatte. Was hatte sie auch genau in diesem Moment auftauchen müssen? In weniger als hundert Schritten hätte er den Westflügel erreicht und wäre in Sicherheit gewesen. Doch woran auch immer sie ihn erkannt hatte, seine Tarnung war sowieso unnütz gewesen. Cru hatte ihn noch vor ihr entdeckt. Yo hatte den scharfen, bohrenden Blick seines Schwertbruders förmlich gefühlt. Hatte gespürt, wie er sich forschend unter den weiten Umhang gestohlen, sich regelrecht durch ihn hindurch gebrannt hatte.
Der bleiche Mann schnaufte erneut. Sein Plan war töricht gewesen. Wie hatte er nur glauben können, dass er damit durchkam? Seine Aura zu verbergen. Pf! Darin war er noch nie gut gewesen. Die war schwerer im Zaum zu halten als Raanuka, dieses Biest. Es war klar gewesen, dass er scheitern musste. Warum, verdammt, hatte er es trotzdem versucht? Und wie hatte er allen Ernstes annehmen können, dass ein nutzloser Fetzen Stoff ihn schützte?
‚Von wegen Tarnmantel‘, dachte er grimmig an den alten Mann, der ihm das gute Stück im Tausch für sein Leben überlassen hatte. ‚Das Einzige, was der tarnt, sind Fuselflaschen und Schnupfkästchen.‘ Der Greis hatte ihn ordentlich über den Tisch gezogen. Er hätte ihn töten sollen. Er hätte ihn, verdammt noch eins, töten sollen.
Yo kniff die Augen fest zusammen, presste zwei Finger auf das Ende seines Nasenbeines und seufzte. Wenn Myu ihn nicht aufgehalten oder Cru sich wenigsten wie ein anständiger Krieger beim Würfelspiel oder einer zünftigen Prügelei vergnügt hätte, dann wäre der gestrige Abend sicher anders verlaufen und ihr erstes Aufeinandertreffen nach über drei Wintern wäre nicht so … Ja, was eigentlich?
Mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand fuhr er über seine geschlossenen Augenlider und strich sie zur Nase hin aus. Der stechende Schmerz in den Schläfen ging zwar allmählich in ein dumpfes Pochen über, doch die Erinnerung an den gestrigen Abend war noch verschwommener als die Welt vor seinen Augen. Nichtsdestotrotz sagte sein Gefühl ihm, dass seine erste Begegnung mit Cru ziemlich unterkühlt und irgendwie ganz anders verlaufen war, als er gedacht, insgeheim vielleicht sogar gehofft hatte. Auch was er getan, nachdem er die Kammer seines Partners verlassen hatte, wusste er nicht. Alles, was zwischen dem Moment, da er sich Myus entledigt hatte, und seinem Erwachen geschehen war, schien ausradiert, zumindest aber verschüttet und tief begraben. Er wusste nicht einmal, wie er in sein Bett, das er üblicherweise nie benutzte, gekommen war. Er musste ordentlich neben der Spur gewesen sein, wenn er das bauschige Schafsfell und die übelriechenden Laken dem struppigen Fell des Schwarzmondgreifs vor dem Kamin vorgezogen hatte.
Während Yo wartete, dass das Schwindelgefühl sich legte, spielte er im Geiste diverse Szenarien der letzten Nacht durch. Die einzige halbwegs plausible Antwort, zu der er kam, war dass er Cay Rojahn, dem Ersten General, begegnet war und sich wie so oft in eine handfeste Auseinandersetzung hatte verwickeln lassen. Zwar fiel ihm partout nichts ein, weswegen er bereits am ersten Abend in Yara wieder mit seinem Erzfeind aneinandergeraten sein sollte, aber wer brauchte schon einen Grund?
Als die Welt um ihn herum wieder halbwegs stillstand, streckte er sich ausgiebig, um seine müden und schmerzenden Glieder zu lockern. Das brennende Ziehen in der Hüfte, an das er sich fast schon gewöhnt hatte, ignorierte er. Dann erhob er sich und tastete sich mit geschlossenen Augen am Bett entlang Richtung Schrank vor. Am Fußende stieß er jedoch unverhofft gegen eine Wand. Verwundert öffnete er ein Auge und zog die Stirn kraus, denn dieses Bettende sollte eigentlich frei im Raum stehen. Er musste verkehrt herum im Bett gelegen haben. Konnte schon einmal passieren, wenn man es so selten nutzte.
Eine stumme Verwünschung auf den Lippen nahm Yo seinen Weg in die entgegengesetzte Richtung wieder auf und trottete mit gesenkten Lidern quer durch den Raum. Unfälle musste er keine befürchten, da alle Möbel an den Wänden standen. Schließlich nutzte er seine Kammer gelegentlich für Trainingsrunden mit seinem Schüler und dafür benötigten sie Platz. Auf halbem Wege stieß er dennoch mit seinem Fuß an irgendetwas und konnte sich gerade noch abfangen.
„Verflucht noch eins!“, knurrte er und trat nach dem Hindernis auf dem Boden, ohne sich die Mühe zu machen, nachzusehen, über was er da gestolpert war.
Am Kleiderschrank angekommen lehnte er müde das Haupt gegen das große, einst sicher edle Möbelstück aus dunkelbraunem Margoiholz mit den zahlreichen eisernen Beschlägen und eingeritzten Ornamenten. Das oberste Fach öffnend kramte er wahllos ein Paar Füßlinge heraus, dann schlug er mit etwas Mühe die rechte der beiden schweren Flügeltüren auf und zog willkürlich eines der vielen Hemden sowie irgendein Wams vom Bügel. Dabei fiel ihm auf, dass alle Kleidungsstücke in Reih und Glied an der Stange hingen und sein Schrank seltsam ordentlich aussah. Ein wütender Gedanke durchschnitt für einen Moment mit hellem Strahl das neblige Dunkel seines schlaftrunkenen Geistes. Hatte eine der Kammerdienerinnen etwa die Frechheit besessen, während seiner Abwesenheit aufzuräumen?
Yo schnaubte erzürnt, schüttelte im nächsten Augenblick aber den Kopf und flüsterte: „Nein, so lebensmüde ist keine.“
Das letzte Mal, dass eine Magd die dreiste Dummheit begangen hatte, in seinen persönlichen Sachen herumzuwühlen und seine Ordnung durcheinanderzubringen, lag beinahe vier Winter zurück und seine Reaktion war mehr als deutlich gewesen. Er konnte sich noch recht gut an den Vorfall erinnern. Lautstark hatte er die junge Frau damals zurechtgewiesen, sie am Handgelenk und den Haaren gepackt, sie wütend auf den Gang gezerrt und ihr dabei mindestens einen ihrer zarten Finger gebrochen. Kein Dienstmädchen war seither mehr in die Nähe seiner Kammer gekommen, geschweige denn dass auch nur eines noch freiwillig einen Fuß hineinsetzte. Wahrscheinlich hatte er vor seiner Abreise selbst Ordnung in seine gelegentlich chaotische Garderobe gebracht und konnte sich nur nicht mehr daran erinnern.
‚Wäre ja nicht das Einzige‘, dachte Yo grinsend und schenkte der Angelegenheit keine weitere Beachtung.
Prüfend blickte er auf das unordentliche Kleiderbündel in seinen Händen und trottete dann weiter zur Waschnische seiner Kammer. In der davor befindlichen Sitzecke angekommen, ließ er den ganzen Kleiderstapel auf den Fußboden fallen und streckte sich mit herzhaftem Gähnen. Noch im selben Wimpernschlag verspürte er wieder dieses ziehende Brennen in der Seite, das ihm in den letzten Mondphasen leider nur allzu vertraut geworden war. Resignierend blickte er an sich herunter und verdrehte schnaufend die Augen. Nicht nur dass sein Verband irgendwie abhandengekommen war, seine Bauchverletzung musste gestern auch zum wiederholten Male aufgeplatzt sein. Das getrocknete Blut hatte über Nacht eine hässliche Kruste gebildet und mit jedem Recken riss diese nun ebenfalls langsam auf. Genervt legte Yo seinen Kopf in den Nacken und atmete durch die zusammengepressten Kiefer aus.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, zischte er.
Wie war das denn passiert? Diese verfluchte Wunde. Wenn er sie nicht bald heilen konnte, machte sie ihn eher früher als später noch wahnsinnig! Das war so sicher, wie er den, dem er diesen neuerlichen Rückschlag zu verdanken hatte, Kraft seiner Fäuste ordentlich bluten lassen würde. Als er knurrend ein weiteres Mal an sich heruntersah, bemerkte Yo erstaunt, dass zudem seine Hose unzüchtig tief saß und obendrein halb geöffnet war. Irritiert starrte er auf seine entblößten, bleichen Beckenknochen, verengte die Augen und kräuselte die Stirn.
‚Was hat das jetzt zu bedeuten?‘
Noch eine Ungereimtheit mehr an diesem Morgen. So langsam wurde es unheimlich.
„Was, verflucht noch eins, habe ich gestern bloß getrieben?“, nuschelte er und rubbelte sich durch die silbernen Haare, als könnte das seine Denkprozesse anregen.
Und wieso waren seine Beinkleider ebenso mit rotem Blut besudelt wie die kleine, silberne Kette, die sich auf Kniehöhe zwischen beiden Hosenbeinen befand und einer der Gründe war, warum er dieses Kleidungsstück so gut wie nie ablegte?
„Also doch Cay!“, schnaufte Yo laut und sprang von dem Schemel auf.
Mit einem Schlag kehrten die abgeebbten Schwindelgefühle zurück und auch sein Mageninhalt drohte, sich jeden Moment auf seine nackten Füße zu verteilen. Sofort riss der blasse Mann seine Arme nach oben und streckte sich, so gut er in Anbetracht seiner Verletzung konnte. Dreimal tief durchgeatmet, dann ging es wieder einigermaßen und er unternahm einen weiteren, zaghaften Versuch, sich an die vergangene Nacht zu erinnern. Allerdings nur, um erneut kläglich zu scheitern. Die hämmernden, pulsierenden Kopfschmerzen und ein sinisteres Kribbeln in seiner Brust ließen ihn keinen klaren Gedanken fassen.
‚Vielleicht sollte ich einfach Cru fragen?‘, schoss ihm ein Geistesblitz durch den Kopf und er grinste. ‚Das heißt nachher, wenn ich richtig wach und wieder zurechnungsfähig bin.‘
Ja, das war eine gute Idee. Vielleicht die erste an diesem Morgen. Schließlich entging seinem Schwertbruder in der Regel kein einziger seiner Fehltritte. Normalerweise war das zwar äußerst lästig, doch in diesem Fall konnte es sich durchaus als hilfreich erweisen. Immer noch zu müde, um die Augen lange offenhalten zu können, schlurfte Yo zu seinem Waschzuber und hielt beide Hände in das überraschend kalte Wasser. Vielleicht ließ der Schleier der Nacht sich ja so aus seinem Kopf vertreiben. Mit einem Ruck kippte er sich das Nass ins Gesicht und verfluchte sich noch im gleichen Moment dafür.
„Spyka! Spyka fueco!“
Doch wenn er schon einmal soweit war ... Noch während ihm tausend kleine Sterne die Sicht nahmen, bückte er sich erneut und tauchte seinen Kopf komplett in den randvollen Eimer, der daraufhin überschwappte und auch seine Füße badete. Das frostige Wasser stach direkt in seinen Schädel hinein und vermittelte Yo das bizarre Gefühl, sein Hirn würde auf Eis gelegt. Als er sich wieder aufrichten wollte, war ihm gar für einen Moment, als greife eine unsichtbare Hand nach seinem Haupt und zöge es unter Wasser.
Mit einem Ruck riss Yo sich los und als er leise prustend wieder hochkam, spürte er im ersten Moment gar nichts mehr. Vom Hals an aufwärts war alles taub und er konnte nicht einmal blinzeln. Kleine Eisbäche rannen seinen nackten Oberkörper hinunter und überzogen ihn mit einer unangenehm stechenden Gänsehaut. Wie konnte Wasser, das seit mindestens einer Nacht stand, nur so verflucht kalt sein? Bevor er weiter darüber nachsinnen konnte, erreichte ein Rinnsal die Bauchwunde und mit einem garstigen Paukenschlag kehrten die Schmerzen zurück. Keuchend erschauderte Yo, krümmte sich und zog auf das schmale Wandbrett gestützt die Luft scharf ein.
„So ein Dreck, so ein verdammter Dreck!“, presste er zischend zwischen den Zähnen hervor und schlug mit der Faust gegen die Wand, bis das Brennen in der Hüftgegend nachließ. „Wenn ich diesen elenden Mistkerl in die Finger kriege, bringe ich ihn um! Verflucht noch eins! Ich bring ihn um!“
Eine weitere unflätige Beschimpfung auf den Lippen erstarb und der bleiche Mann verstummte, als sein Blick auf den kleinen Spiegel seiner Waschnische fiel. Ungläubig betrachtete er das makellose Glas, das er bei seinem Auszug in die Schlacht in ganz anderem Zustand zurückgelassen hatte. In sechs große Scherben war das ewig trübe Teil zersprungen, nachdem er seinen Schüler so hart gegen die Wand gestoßen hatte, dass dieser mit dem Hinterkopf gegen den Spiegel gekracht war.
‚Also ist doch jemand in meiner Kammer gewesen!‘, dachte er wütend und schnaubte.
Sämtliche Nackenhaare sträubten sich im ihm bei diesem Gedanken und er ballte knurrend die rechte Hand zur Faust. Bis eben war Yo überzeugt gewesen, dass er damals klar und deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er der betreffenden Person das nächste Mal mehr als nur einen Finger brach. Doch augenscheinlich war dem nicht so. Sei es drum. Dieses Mal würde sie es verstehen. Todsicher. Denn derartige Versprechungen pflegte er zu halten und wer immer das hier zu verantworten hatte, sollte das auch alsbald erfahren.
Der Anblick seines pitschnassen Gesichtes verjagte die zornigen Gedanken und ein flüchtiges Lächeln huschte ihm über die schmalen Lippen. Seine sonst schneidig nach oben stehenden Haare hingen triefend herunter, klatschten ihm wirr ins Antlitz und der lange, dünne Zopf im Nacken schmiegte sich wie eine silberne Wasserschlange anmutig an seine nackte Brust. Mit zwei Fingern wrang er ihn kräftig aus und strobelte dann solange durch seine Haare, bis der Irokesenschnitt wieder halbwegs zu erkennen war.
Bei einem erneuten Blick in den Spiegel entdeckte er etwas Seltsames und trat ob des noch immer herrschenden Zwielichtes näher heran. Kein Zweifel, seine Stirn wies eine Schürfwunde auf, seine Unterlippe war aufgerissen und auf der rechten Wange prangte ein langer Kratzer. Zeichnungen, die er gestern allesamt noch nicht sein Eigen genannt hatte. Zumindest soweit er sich erinnern konnte. Allerdings wusste er, bei wem er sich für diese Schrammen zu bedanken hatte, sollte er letzte Nacht tatsächlich mit Cay aneinandergeraten sein. Dennoch wurde Yo das Gefühl nicht los, dass da noch mehr war. Warum sonst grinste ihn sein Spiegelbild so seltsam zufrieden und fast schon ein bisschen schelmisch an? Das tat es doch sonst nie. Ein kurzes Schulterzucken, dann schlenderte er wieder zu der kleinen Sitzecke zurück, wo er das Hemd vom Boden nahm.
Als er sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf den großen Drehspiegel, der unweit von ihm stand und die immer zahlreicher einfallenden Strahlen des Morgenlichtes wie ein Kristall in irisierenden Farben brach. Skeptisch zog Yo die Stirn in Falten. Das Objekt war schön, keine Frage. Doch es war so typisch menschlich und passte mitnichten zum Rest seiner Einrichtung. Was hatte ihn bloß geritten, dass er sich diesen überflüssigen Tand angeschafft hatte? Kritisch musterte er den Spiegel eine Zeit lang und strich über die glatte, offensichtlich völlig ebene Oberfläche. Der silberne, filigrane Rahmen mit symbolischen Gravuren war so hoch wie er groß. Die Holzfassung wirkte sehr stabil, war edel mit ähnlichen Ornamenten verziert wie der wuchtige Kleiderschrank und das Glas schien klar und völlig fehlerlos. Augenscheinlich das Werk eines wahren Meisters. Seltsam war nur, dass er sich partout nicht erinnern konnte, wann und wie er zu diesem Schmuckstück gekommen war.
Während er das Objekt von oben bis unten musterte, spürte Yo, wie der Kälteschock seine Wirkung zeigte. Die Schwindelgefühle verflogen und sein Geist wurde mit jedem Atemzug klarer. Ebenso seine Augen, die mit der zunehmenden Helligkeit immer mehr Details in dem nachtgrauen Hintergrund seiner Kammer erkannten. Die Schmerzen im Körper schwanden ebenfalls rasant und es gelang ihm nunmehr ohne Probleme, die Augen offenzuhalten. Auch die betäubende Schwäche fiel von ihm ab und machte einem gänzlich anderen Gefühl Platz. Je länger er so dastand und den Spiegel betrachtete, desto mehr spürte er, dass er vielmehr vor Kraft nur so strotzte, ja regelrecht aufgeladen war. Genau genommen fühlte er sich im wahrsten Sinne des Wortes so, als könnte er Bäume ausreißen. Berge versetzen. Die Welt aus ihren Angeln heben! Die Erschöpfung des Krieges, die zehrenden Entbehrungen des Kampfes, die Schwächungen zahlreicher Wunden, nichts davon verweilte mehr in seinem Leib. Das Kribbeln in seiner Brust wuchs zu einem erregenden Beben, das seinen gesamten Körper flutete, und in seinen Adern schien kein Blut, sondern pure Energie zu fließen. Er fühlte sich jung, stark, selbstzufrieden und einfach nur unverschämt gut.
Überfordert von dem plötzlichen Umschwung seines Befindens, schloss Yo die Augen und gab sich diesem lustvollen Gefühl einen Moment genüsslich hin. Als er die Lider mit einem tiefen Atemzug wieder öffnete, verdunkelte sich sein Antlitz im Spiegel jedoch schlagartig. Warum, um alles in der Welt, fühlte er sich mit einem Mal so verboten gut? Eigentlich gab es nur eine Sache, die ihn in solch kurzer Zeit in so einen herrlichen Zustand versetzen konnte.
‚Unmöglich‘, murmelte Yo und schüttelte den Kopf, während er mit betont langsamen, mechanischen Handgriffen seine Beinkleider richtete.
Nie und nimmer ließe man ihn dann unbehelligt seine morgendlichen Geschäfte verrichten. Andererseits wäre das nicht nur für dieses verflucht gute Wohlgefühl und die überbordende Kraft, die seinen Körper durchströmten, eine sehr gute Erklärung, sondern auch für seine massive Gedächtnislücke. Fast meinte er sogar, den süßen Geschmack roten Blutes auf seinen Lippen zu schmecken und dessen lieblichen Duft vermengt mit einem Hauch Ruß und Schwefel zu riechen.
‚Nein!‘, knurrte Yo sein zufrieden grinsendes Ebenbild an und warf sich das Hemd über die Schultern.
Nein, das konnte unmöglich sein. Selbst falls er gestern Abend tatsächlich warum auch immer die Kontrolle verloren haben sollte, irgendeiner seiner Begleiter hätte ihn mit Sicherheit zurückgehalten. Allen voran Inor, der leidige Moralapostel und Spaßverderber. Und nicht zu vergessen Cru, dieses hinterhältige blaue Langohr, das ihm an jenem verhängnisvollen Abend vor ihrem Aufbruch diesen unsäglichen Eid abgenommen und ihn damit erbarmungslos geknechtet hatte.
Yo schnaubte und schüttelte erneut den Kopf. Seine Wut über diesen leichtfertig gegebenen Schwur war noch immer nicht verraucht. Drei Winter in der Schlacht war er außerstande gewesen, sein Wort zu brechen. Warum also sollte es ihm ausgerechnet in der Nacht seiner Heimkehr gelungen sein?
‚Verflucht noch eins, das bringt doch alles nichts‘ murmelte er, legte den Kopf in den Nacken, atmete geräuschvoll aus und schlüpfte in die Ärmel seines Hemdes.
Als er den Kopf wieder senkte und seine Hände den obersten der sechs Holzknöpfe umfassten, um die Schnürung des Hemdes zu schließen, hielt Yo plötzlich erschrocken inne. Was war denn das?
Mit aufgerissenen Augen starrte er in das Glas und auf das Spiegelbild seiner mit Striemen und Rissen übersäten Brust. Dreimal blinzelte er, dann erst begriff er. Und wusste mit einem Mal, was vormals die Schmerzen im Oberkörper verursacht hatte. Was er allerdings nicht wusste, war woher diese Wunden stammten. Von Cay nicht, dessen war er sich sicher. Nie im Leben hätte er seinen Erzfeind dermaßen nahe an sich herangelassen. Einer Eingebung folgend drehte der blasse Mann sich um und ließ das Hemd bis in die Armkehlen herunterrutschen. Bei dem, was er sah, traf ihn fast der Schlag und seine Gesichtszüge entglitten. Auch sein Rücken war zerkratzt und geschunden. Ein leises Keuchen verließ seine Kehle und er schüttelte heftig den Kopf, während er sich wieder umdrehte, das Hemd über die Schultern schwang und eilig die Knöpfe schloss.
Yo verstand die Welt nicht mehr. So dermaßen neben sich hatte er lange nicht mehr gestanden. Sehr, sehr lange. Und er hatte es beileibe nicht vermisst. Er fühlte sich komplett neben der Spur. Als wäre er zur falschen Zeit, am falschen Ort und im falschen Körper erwacht. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und dieses freudige, nervöse Kribbeln in seinen fahrigen Fingerspitzen, das dem unablässigen Vibrieren in seiner Körpermitte entsprang, tat sein Übriges.
‚Was, verdammt noch eins, ist bloß passiert?‘, fragte er sich zum gefühlt hundertsten Mal, doch dieses Mal klang seine innere Stimme seltsam unsicher, fast etwas ängstlich.
Warum wurde ihm beim Anblick seines Spiegelbildes plötzlich ganz warm, fast heiß? Warum, verflucht, lächelte es seiner Ratlosigkeit zum Trotz so versonnen? Und warum begann sein Herz augenblicklich, schneller zu schlagen, als er sanft über die Schrammen auf seiner Brust strich? Verwirrt blickte Yo in den Spiegel, als wüsste dieser die Antwort auf all seine Fragen, und mit einem Mal wurde er gewahr, dass das Hemd, in das er sich gekleidet hatte, nicht schwarz, sondern weiß und ihm obendrein viel zu groß war.
„Das ist doch“, murmelte er und stolperte von einer bösen Ahnung befallen einen Schritt rückwärts. Mit einem Schlag fiel es Yo wie Schuppen von den Augen. „Verdammt, das ist doch Crus Kammer!“, stieß er erschrocken aus und drehte sich um.
Fassungslos starrte er auf das Bett, in dem er bis vor Kurzem gelegen hatte und das er nun zweifelsfrei als das seines Schwertbruders erkannte. Vor dem Kopfende lag eine Decke auf dem Boden und eine Spur größer werdender Blutstropfen führte von da quer durch den Raum. Yo schluckte und kniff die Augen zusammen, da die Kammer auf der Waldseite noch vom Zwielicht regiert wurde. Sein ungläubiger Blick folgte der Blutspur, die zum Fenster führte und dort in einer Lache endete. In der Lache lag etwas. Etwas, über das er vorhin gestolpert war und nachdem er getreten hatte. Etwas oder … jemand.
Mit einem Mal wurde dem bleichen Mann siedend heiß und er begann am ganzen Körper zu schwitzen. Das Blut an seinen Beinkleidern, das stammte nicht von Cay. Nein, es war Crus!
Yos Gesichtszüge entglitten erneut und sein Denken setzte für einen Moment aus. Jäh durchfuhren ihn grelle Erinnerungsblitze und wie von einem tödlichen Schwertstoß getroffen sank er lautlos in die Knie. Seine Hände und seine Brust wurden eiskalt. Sein Puls überschlug sich. Das Atmen fiel ihm schwer, als presste eine unsichtbare Fessel seine Rippen zusammen. Die verschwommenen und wirr vor seinem inneren Auge umherzuckenden Bildfetzen ließen die besiegt geglaubten Kopfschmerzen mit einem Schlag immens anwachsen und überforderten nicht nur seine Augen und seinen Geist, sondern auch seinen Magen. Mit bebender Brust kniete er am Boden, rang nach Luft und schüttelte mehrmals vehement das Haupt. So viele Szenen durch seinen Kopf rasten, so wenig war er imstande, sie klar zu sehen, geschweige denn zu verstehen. Doch Eines, das wusste er mit tödlicher Gewissheit: Ihr Widersehen war alles andere als unterkühlt verlaufen. Heiß, explosiv und blutrünstig traf es besser!
Urplötzlich hatte er rotes Blut auf blauer Haut und den leblosen Körper des Sibulek vor Augen. Bilder, die sich wirklicher anfühlten, als sie durften, und ein Gefühl in ihm auslösten, das er nicht kannte. Augenblicklich sprang Yo auf, rannte zum Fenster und fühlte hektisch den Aderschlag seines Gefährten. Wenn er ihn nicht fand, wenn Crus Herz nicht mehr schlug … Der Vampirelb wagte nicht, diesen Gedanken zu beenden, doch zum Glück waren sowohl Puls als auch Atmung seines Partners vorhanden. Schwach zwar, doch gerade noch im Rahmen des Normalen. Lediglich die blasse Hautfarbe und der bedenklich erschöpfte Gesichtsausdruck seines Schwertbruders zeugten deutlich von dessen nächtlichem Überlebenskampf.
Erleichtert holte Yo einmal Luft und betrachtete Crus gezeichnetes Antlitz. Dann wanderte sein Blick weiter. Um den Sibulek herum lagen die verkohlten Überreste des Simses und unterhalb der Fensteröffnung war an etlichen Stellen Blut die Steinmauer hinabgeflossen. Widerstrebend senkte Yo den Blick wieder. Auf dem nackten Oberkörper seines Partners prangten ihm unzählige Risse und tiefe Schnitte, die ohne jeden Zweifel von ihm stammten, entgegen. Zaghaft fuhr er mit den Fingerspitzen leicht darüber, worauf Cru sich regte und keuchte. Schlagartig wurden Yos Hände von einem unkontrollierbaren Zittern erfasst und er zog sie zurück. Leise stöhnend bewegte sein Schwertbruder sich erneut, legte den Kopf auf die andere Seite und mit Schrecken wurde der Vampirelb zwei blutige Male am Hals des Sibulek gewahr. Yos Atem stockte und sein Herzschlag setzte für einen kurzen Augenblick aus. Jetzt wusste er, woher der süße Geschmack auf seinen Lippen und diese unbändige Kraft in seinem Körper kamen. Eine Erkenntnis, die weit bitterer schmeckte als jede jemals erlittene Niederlage im Kampf.
‚Wie konnte das passieren? Was habe ich getan?‘
Der bleiche Mann konnte nicht glauben, dass das, was er sah, Wirklichkeit war. Was, verflucht noch eins, hatte ihn geritten, dass er seinen Schwertbruder derart verletzt, ihn seiner Lebenskraft beraubt hatte? Dass er ihren Bund auf die Probe gestellt, ihn vielleicht sogar gebrochen hatte? Mit stummem Flehen blickte er auf seinen rechten Ringfinger, doch die ringförmige, tiefe Fleischwunde am unteren Fingerglied beraubte ihn jeglicher Illusion und versetzte ihm einen Stich ins Herz. Ein unaussprechliches Ekelgefühl und tiefe Abscheu übermannten den Vampirelben und für einen Wimpernschlag wäre er am liebsten auf der Stelle gerichtet worden! Er konnte nicht begreifen, was ihn so sehr in den Bann geschlagen hatte, dass er jetzt hier stand und die Folgen seiner Tat sehend zu keiner Erklärung fähig war. Ja, dass er sich ihrer noch nicht einmal entsinnen konnte. Hatte sein Gefährte das Monster tief in ihm aus seinem Dekaden währenden Schlaf geweckt?
„Nein, das darf nicht sein!“
Sein Aufschrei war nicht mehr als ein Keuchen. Mit blankem Entsetzen blickte er erst auf seine Hände und dann auf seinen schlummernden Partner. Übelkeit übermannte ihn und das peitschende Chaos in seinem Inneren drohte, die Ketten seiner Dämonen zu sprengen. Ruckartig wandte er sich ab, fuhr hektisch in seine Stiefel und rannte zur Tür. Dennoch hielt er kurz inne, bevor er sie aufriss, und warf einen letzten, bangen Blick zurück.
Der Großteil der Kammer lag nun im hellen Licht des angebrochenen Morgens. Nur vereinzelte Stellen wurden noch vom Dunkel der vergehenden Nacht geschützt. Wie gerne hätte Yo sich in ihnen verkrochen. Eine unerträgliche Hitze lag in der Luft, die noch nach Schweiß, Blut und Schwefel roch. Diese blutigen Bilder in seinem Kopf, sie schienen so unwirklich. Wie ein furchtbarer Fiebertraum, der einem den Verstand raubte. Und doch waren sie zum Greifen nahe. Und so wirklich, wie Erinnerungen nur sein konnten. Der Vampirelb fühlte die fremde, geraubte Lebensenergie in sich und mit jedem Schlag seines Herzens wurde dieses sonst so herrliche Gefühl unerträglicher, regelrecht qualvoll.
Keuchend lehnte er sich an die große Kammertür und stützte die Hände auf die Knie. Als Cru sich im Schlaf erneut drehte und seinen Namen murmelte, verlor Yo den Kampf gegen die orkanartig aufbrechende Panik. Sengende Tränen schossen ihm in die brennenden Augen und eine unsichtbare Schlinge schnürte ihm die Kehle zu. Das ihn sonst mit Ruhe und Geborgenheit erfüllende Zimmer schlug ihm nun eine überwältigende Woge von Schuld, Scham und Hass entgegen. Hals über Kopf stürzte er hinaus auf den Gang, warf die schwere Tür ins Schloss und rannte davon.
Er musste raus hier. Egal wohin. Einfach nur weg!