„Liebst du?“
Die Frage des alten Mannes kommt unverhofft, erwischt mich völlig unvorbereitet. Mit großen Augen sehe ich ihn an. Woher weiß er? Genau dasselbe hatte sie mich auch ständig gefragt.
Wenn ich die Augen schließe, höre ich noch ihre Stimme, fühle ihre weiche Haut, schmecke ihre bittersüßen Küsse. Sie – die schönste Frau der Welt, das einzige Wesen, das mir je gehört hat, der einzige Mensch, den ich jemals geliebt habe.
Ich lag in meinem übergroßen Himmelbett, Arme und Beine weit von mir gestreckt, und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf den sternenbehangenen Himmel. Der Mond schob sich als helle, beinahe perfekt runde Scheibe langsam in mein Blickfeld, wenn ich den Kopf etwas drehte. Ein unheilverkündender Hof rostbrauner Nebelschwaden umgab ihn. Die Nacht war klar und kalt, aber ich fror nicht. Es war still, ich hörte jeden meiner Atemzüge, das leiseste Husten des Windes.
Doch ich war nicht allein. Leise, bedachte Schritte – ich vernahm sie deutlich im Dunkel des Raumes. Das leise Klicken und Surren des CD-Players, dann schwebte eine schwere, tragende Melodie sphärisch durch die Luft und erfüllte den ganzen Raum. Erst lange, dunkle Töne, dann kürzere, hellere Klänge. In weiter Ferne hörte ich das dumpfe Brummen eines leichten Basstones, spürte wie er langsam durch das Zimmer rollte, an mein Bett stieß und von den Zehenspitzen her sacht meinen Körper hinaufzog. Ich schloss die Augen und genoss das rauschende Meer der Musik. Sanfte Wellen bauschten es in regelmäßigen Abständen leicht auf, das Wasser brach an meinem Bett wie an einer Kaimauer und umspülte mich weich. Ich spürte den Sand unter meiner Haut, wie er zwischen meinen Zehen hindurchrieselte, das flache, warme Meerwasser, das meine Hände umfloss wie Steine eines Baches und meinen Rücken befeuchtete. Die salzige, schwere Abendluft der See fuhr durch mein Haar. Ich atmete tief und ruhig ein und aus, sog alles in mir auf, ein und aus.
Plötzlich ein Grollen, laut und bedrohlich. Die Wellen wurden größer, gewannen an Energie. Die Abstände der einzelnen Flutberge wurden allmählich kürzer, etwas Großes kündigte sich an. Da – ich konnte sie nicht sehen, konnte sie kaum hören, doch ich spürte sie. Eine Woge so hoch wie die Palmen am Strand türmte sich vor mir auf, rollte unaufhaltsam näher. Mit lautem Donnern brach sie an den Holzfüßen meiner Schlafstätte und hatte doch Kraft genug, mich fast umzuwerfen, mich unter sich zu begraben. Ein leichtes Beben erfasste meine Zehen, dann meine Beine. Meine Finger begannen zu kribbeln. Alles wurde kalt und nass. Im Brustkorb stießen die Wellen aus meinen Gliedmaßen zusammen, stieben tosend auf und die Gischt vernebelte mir die Sicht. Ich konnte kaum atmen, die Luft war dick wie Butter. Die geballte Kraft der Wogen fuhr durch mein Herz, ließ es im Takt der Musik erzittern. Für einen Moment glaubte ich, sterben zu müssen. Dann rollte die dumpfe Welle weiter und über mich hinweg.
Erleichtert atmete ich durch und setzte mich auf, strich das Wasser aus meinen Haaren und wagte einen Blick auf die stürmische Brandung zu meinen Füßen. Immer mehr Flutberge, meterhoch bis unter die Deckte, türmten sich auf, jagten einander tosend in rhythmischen Intervallen. Wieder rollte eines dieser Monster auf mich zu, doch dieses Mal war ich vorbereitet. Ich wartete, wartete, bis die Welle über mir brach, schloss die Augen, hielt die Luft an, ließ das Wasser auf mich niederprasseln und genoss das Prickeln, das es auf meiner Haut hervorrief.
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich etwas. Ein heller Schatten in der Düsternis, eine Silhouette im brausenden Meer. Durch den Schleier der stürmischen See kam sie langsam näher, schien durch das Wasser zu gleiten, auf ihm zu schweben. Rhythmisch bewegte sie ihre Hüften, tanzte für mich. Scheinbar mühelos bezwang sie die tobenden Wellen, spielte mit ihnen, ließ sich geschmeidig umfluten. Mit einer einzigen Bewegung ihrer zarten Hand, brachte sie herannahende Wogen zu Fall. Energisch warf sie den Kopf hin und her, ihre langen Haare schleuderten mir harte Tropfen ins Gesicht. Ihre Hände glitten präsentierend an ihrer Seite herab, lockten mich. Noch ein, zwei beschwingte Schritte, dann beruhigte sich das Wasser vorerst. Der Schemen stand nun genau vor mir, beugte sich weit herunter und ich sah in ein Paar feurig strahlender Augen, deren Smaragdgrün im Dunkeln zu leuchten schien.
Ich hatte gewusst, dass sie kommen würde.
„Liebst du?“
Ihre Stimme, so süß wie klebriger Honig – manchmal glaube ich, sie noch immer zu hören. In der Menschenmenge eines Supermarktes, an der Theke einer Bar, aus dem Mund der vielen schönen Frauen, die mir die Nacht versüßen sollen. In meinen Träumen.
„Heute Nacht nur dich“, antwortete ich.
Sie lachte, das glockenhelle Lachen eines jungen Mädchens älter als die Welt.
Dann küsste sie mich.
Manche Leute behaupten, ich wisse nicht, was Liebe ist, einige von ihnen langjährige, gute Freunde. Und sicher haben sie Recht. Ich wäre ein Narr, dies zu leugnen.
Nicht, dass wir uns falsch verstehen – ich bin ein netter Kerl Mitte zwanzig, gutaussehend, mit solider Allgemeinbildung und ausgezeichneten sozialen Kompetenzen. Ich liebe meine Eltern und meine Geschwister, wie ein Sohn und Bruder es nur kann. Mein Freundeskreis ist großzügig bemessen und über Ecken und Umwege kenne ich beinahe die ganze Stadt. Es gibt fast keine Bar, keinen Club, kein Lokal, das meinen Besuch nicht zu schätzen weiß, keinen halbstarken Kleinkriminellen, der nicht schon Bekanntschaft mit meinen stählernen Fäusten geschlossen hat, kein Mädchen, das sich meinem Charme entziehen kann.
Alles in meinem Leben schien perfekt und dennoch wachte ich bis vor wenigen Tagen noch Morgen für Morgen neben einer anderen Frau auf. Ich wusste schon immer, wie ich auf sie wirkte – anziehend. Und ich wusste, wie ich damit umzugehen hatte. Ob sie wollten oder nicht, hatte ich mir erst einmal ein „Opfer“ auserkoren, war es ihm fast unmöglich sich mir zu entziehen.
Doch in jener Nacht, war ich das Opfer und sie die Spinne.
Wie Phönix aus der Asche stieg sie aus der brandenden Bucht empor und ihr Anblick verschlug mir den Atem. Sie war schön, wunderschön. Ihre langen, makellos geformten Beine schimmerten samten im einfallenden Mondlicht, ihre schlanken Arme bewegten sich im langsamen Takt der Musik wie zwei anmutige Schlangen, ihr wallendes, kirschrotes Haar fiel in sanften Locken auf ihr atemberaubendes Dekolleté.
Ich richtete mich weiter auf und rutschte ein Stück nach vorn. Ihr Becken kreiste jetzt genau auf meiner Augenhöhe. Ich schmeckte die Süße ihrer Haut und die salzigen Rinnsale Meerwasser, als ich sie behutsam auf die Taille küsste. Doch sie stieß mich von sich, zog sich zurück, entfernte sich wieder von mir. Enttäuscht seufzte ich. Immer noch tanzend ließ sie den sie umgebenden Dunstschleier des Wassernebels, ihr silbernes Nachtkleid glänzender Spinnfäden, über die Wölbungen ihrer Brüste und die kreisenden Hüften fallen. Wie eine Lache frischer Morgentau blieb es am Boden liegen und warf das Licht der Sterne in schimmernden, fließenden Formen auf die unbekannte Schönheit.
Sie war nicht nur wunderschön, nicht nur unglaublich sinnlich, sie war der fleischgewordene Traum meiner wildesten Fantasien. Ihre wohlgeformte, hochgeschossene Statur, der ebenmäßige Teint, ihr weiches Gesicht, diese anmutige, betörende Art sich zu bewegen, ihr süßlicher Duft, diese verführerischen Augen…
Ich schloss die Lider, atmete einmal tief durch, dann öffnete ich sie wieder. Ich träumte nicht, sie war wirklich real. Langsam kam sie abermals näher, stieg aus der abschwellenden Gischt ans Ufer und schlich wie eine Raubkatze über das Laken auf mich zu. Ihre Schulterblätter bewegten sich dabei geschmeidig auf und ab, ihre langen, schmalen Finger griffen nach mir, packten meinen Knöchel und zogen mich mit festem Griff nach unten. Ich spürte die Hitze ihres Körpers und feine Wassertropfen fielen auf meine Haut, als ich unter ihr lag. Ihre funkelnden, tiefgrünen Augen sahen mich mit durchdringendem Blick voller Verlangen an und ohne, dass ich dessen gewahr wurde, fuhren ihre Finger behände die Knopfleiste meines Hemdes hinab und öffneten es.
Ich hielt die Luft an, als ihre weiche Hand meine Bauchdecke berührte, war überrascht von der plötzlichen Wärme. Fast fühlte es sich so an, als würde mir mitten in der Nacht die Sonne auf den Bauch scheinen. Immer noch starrte ich gebannt in ihre Augen. Atmete nicht. Blinzelte nicht. Bewegte mich nicht. Die Wärme ihrer Hände wurde stärker, langsam unerträglich, richtig heiß. Erneut senkte ich den Blick und ein leichtes Stöhnen verließ meine Kehle. Diese Wärme – sie kroch meinen Körper hinauf wie vormals die Wogen des Meeres, hinein in meine Brust. Auch ihre Hand wanderte, doch entgegengesetzt zur Wärmewelle, die sie stetig aussandte. Langsam und provozierend strich sie mit den Fingerspitzen meine Seite herab, mein Bein entlang, auf der Innenseite zurück. Sie spielte mit mir, ich wusste es, denn ich kannte das Spiel. Und ich spielte mit.
Keuchend legte ich den Kopf leicht in den Nacken und hoffte auf die Berührung ihrer verlockenden Lippen. Mein Wunsch wurde erfüllt. Sie küsste mich, erst auf das Schlüsselbein, dann am Hals, schließlich auf den Mund. Ich umfasste sie mit beiden Armen und drückte ihren wunderschönen, warmen Körper sacht an den meinen. Ihre Hand ruhte zwischen meinen Beinen, streichelte die Innenseite meiner Schenkel. Im Wiegentakt des Meeres schossen kleine Wellen heißen Blutes in meine Lenden, versteiften sie spürbar. Ich hörte ihren Atem mit jeder Woge einen Tick lauter werden, schob eines meiner Beine zwischen die ihren und stellte es leicht auf, dass es sanft gegen ihr Becken drückte. Wieder ein leises, lustvolles Stöhnen, dieses Mal aus ihrem Mund.
Sie löste den Kuss, presste ihr Becken kurz gegen meines, dann begann sie, sich erneut im Rhythmus des Wassers zu bewegen. Sie setzte sich ganz auf mich, schloss die Augen, ließ spielerisch die Hüften kreisen und mit jedem vollendeten Zug spürte ich meine Hose enger werden. Ihre Hände wanderten ebenfalls kreisend über meine Brust langsam nach unten.
Noch ein Schuss, dann hatte der Jäger seine Beute erlegt.
„Liebst du?“
Noch heute denke ich oft über diese Frage nach. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto unsinniger erscheint sie mir. Anfangs habe ich mir einzureden versucht, sie nicht vollständig verstanden, das kleine Wörtchen „mich“ überhört zu haben, doch mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es dieses Wörtchen nie gegeben hat.
„Die ganze Nacht lang“, flüsterte ich ihr ins Ohr und knabberte daran.
Wieder ertönte ihr helles Engelslachen und erst jetzt fällt mir auf, wie traurig es klang.
Ich träume noch oft von ihr, von jener Nacht, jenen Stunden, die ich ohne Sicherung, Netz und doppelten Boden im freien Fall auf den abgrundtiefen Schlund völliger Ekstase zugerast bin. Oft wache ich schweißgebadet, manchmal sogar schreiend auf, die Laken zerwühlt, die Lenden gut durchblutet, das Gesicht tränennass und immer frage ich mich, warum ich an jenem Morgen gegangen bin.
Ich weiß nicht, ob es meine Schuld war, nüchtern betrachtet vermutlich schon. Doch wenn dem so ist, frage ich mich warum. Ich bezweifle, dass ich es hätte verhindern können, selbst wenn ich bei ihr geblieben wäre. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle?
Ihre Frage – mit jeder Nacht, die sie mich in meinen Träumen heimsucht, komme ich der Antwort auf unheimliche Weise immer näher. Ich weiß nicht, ob sie ein Segen oder ein Fluch war, doch ich weiß, dass ich sie wohl zeit meines Lebens nie mehr vergessen werde.
Ganz so, wie sie prophezeite.
Einer ihrer Fingernägel brach, als sie den störrischen Verschluss meiner Hose öffnete. Ich spürte es deutlich an dem Kratzen, sobald ihre Hand wenig später wieder nach oben strich. Es fühlte sich sonderbar gut an. Sie musste meine Anspannung bemerkt oder mein leises Keuchen gehört haben, denn sie hielt kurz inne, dann umkreiste sie mit dem abgebrochenen Nagel vorsichtig meine Brustwarzen, streichelte sanft darüber hinweg. Sofort schoss eine neuerliche Woge Blut meinen Körper hinab und meine Lust drückte mittlerweile schmerzhaft gegen den harten Stoff meiner Beinkleider.
Lächelnd beugte sie sich über mich, hauchte mir einen warmen Kuss auf die zitternden Lippen und während sich unsere Zungen im Spiel umgarnten, wanderten ihre Hände an meinen Seiten herab, schoben sich unter meinen Hintern und befreiten meine Lenden aus ihrem Gefängnis. Ich hörte ihr leises, lüsternes Lachen, als sich ihr meine Erregung daraufhin pulsartig entgegenstreckte und ihr Kuss wurde noch intensiver. Sie ließ ihr Becken jetzt fester und etwas schneller kreisen, presste sich in immer kürzeren Abständen an mich. Ich spürte die kräftige Muskulatur ihrer Oberschenkel, fühlte die Zartheit ihrer Haut, die nicht nur samtig aussah sondern sich auch beinahe so anfühlte. Verzückt strich ich über ihre nackten Beine, den festen Bauch und ihre sinnlichen Brüste. Nirgends konnte ich auch nur eine Stelle ertasten, die nicht seidig glatt und schmiegsam war. Ein Wesen, nicht von dieser Welt.
Ihr Busen schimmerte im Mondlicht und wippte rhythmisch auf und ab, je mehr sie sich auf mir bewegte. Ein Anblick, der mich fast um den Verstand brachte. Ihre Hände fuhren mal sanft streichelnd, mal sacht kratzend über meinen Oberkörper und ich genoss die entstehende Gänsehaut. Nicht die unangenehme Form, wenn man erbärmlich fror und sich feste, schmerzhafte Pusteln auf dem ganzen Körper bildeten, auch nicht das schauerlich-kalte, nervöse Prickeln, das einem durch Mark und Bein ging, wenn man sich erschrak oder vor irgendetwas Angst hatte. Es war vielmehr ein angenehm kribbelnder Teppich, der sich weich und gleichmäßig auf meinen Rücken ausbreitete, als würden unter mir im Wasser Millionen kleiner Brauseperlen liegen. Ein Gefühl purer Lust und Erregung, das den Tastsinn so ungemein schärfte, dass ich meinte, jede ihrer Berührungen an Hand geringster Luftzüge vorhersehen zu können.
Ihre Lippen so weich wie Wattebällchen spielten mit meinen Ohrläppchen, dann mit den Brustwarzen. Ausgiebig umkreisten sie meinen empfindlichen Bauchnabel, um mir ein tiefes Stöhnen und Keuchen zu entlocken. Gleichzeitig wurde meine Erektion von ihren warmen, nackten Brüsten umschlossen. Unwillkürlich bäumte ich mich leicht auf, schob ihren Kopf mit leichtem Druck etwas tiefer und ließ mein Becken ebenfalls im Takt der Wellen kreisen. Mit ihren Zähnen zog sie den Bund meiner Shorts herunter, bahnte sich langsam aber unaufhaltsam ihren Weg zum Zentrum meiner Lust. Ein kurzer, heftiger Stromstoß durchfuhr meinen Körper, als sie es mit der Zungenspitze flüchtig berührte und ein inbrünstiges, gurgelndes Geräusch entrang sich meiner Kehle. Für einen winzigen Moment kam mir in den Sinn, dass irgendwie alles verkehrt herum lief. Dann schob sie mir die Shorts über die Hüften und ihr rotes, welliges Haar verschwand gänzlich in meinem Schoß.
Jegliches Denken setzte für den Rest der Nacht aus.
„Liebst du?“
Ihr Flüstern blies mir heiße Atemwolken an die Lenden und ging im Wirrwarr ihres Lockenschopfes fast unter.
Dieses Mal antwortete ich nicht. Meine Antwort war ein langes, lautes Stöhnen, das sie veranlasste ihr Lippenbekenntnis weiter zu intensivieren. Ihre Brüste pendelten zwischen meinen Beinen sanft hin und her. Dann hob sie den Kopf, schaute zu mir auf und ihre Hände führten das rhythmische Spiel fort. Sie sah mich an, sah mir direkt ins Gesicht, labte sich an meiner Reaktion und steuerte mich mit fester Hand unausweichlich auf den Höhepunkt absoluter Lust und Ekstase zu.
Ich wusste es genau, denn es war mein Spiel, das sie spielte.
Ich bin das, was andere gerne als Frauenheld oder Casanova bezeichnen, war es bis zu jener Nacht. Allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung. Denn im Gegensatz zu Vorgenannten, gab ich niemals vor, etwas zu sein, was ich nicht war, machte keine Versprechungen, die ich nicht halten konnte, und sagte nichts, was ich nicht meinte. Ich brüstete mich nie mit meinen Taten, führte kein Tagebuch, keinen Terminkalender noch sonstige Statistiken, versprach keiner Frau die große Liebe und traf sie nie ein zweites Mal.
Alles, was ich ihnen anbot, war für eine Nacht die Erfüllung all ihrer Träume. Eine Nacht lang las ich ihnen jeden Wunsch von den Augen ab, trug sie auf Händen, bewunderte und umschmeichelte sie, wie ein Mann es nur konnte. Jedes noch so kleine erotische Geheimnis, jeden noch so peinlich-verschwiegenen Traum entlockte und erfüllte ich ihnen und sie vergaßen alle Zwänge, alle Regeln, alle Scham. In dieser einen Nacht, diesen vagen Stunden zwischen Sonnenauf- und -untergang, waren sie mein Mädchen, meine Prinzessin, meine Königin. Und auch, wenn ich sie noch vor dem Morgengrauen wieder verließ, so hoffte ich doch, ihre Körper und Seelen mit soviel Freiheit, Lust und Glück erfüllt zu haben, dass sie es nie mehr vergessen würden.
Ich weiß, wie sich das anhören muss. Als versuche ein Blinder einen Sehenden die Vielfalt der Farben zu lehren oder ein Tauber über die Schönheit der Musik Mozarts zu referieren. Und zugegeben, es hatte schon etwas Tragikomisches. Nacht für Nacht öffnete ich all diesen Frauen ein Tor, das für mich selbst stets verschlossen blieb. All die Liebe, die ich niemals kannte, schenkte ich Nacht für Nacht einer Anderen. Und auch wenn ich selbst dabei nie die gesuchte Erfüllung fand, war es doch wie eine Sucht, eine Reise auf stürmischer See ohne rettendes Ufer, eine ewig währende Suche ohne Wiederkehr oder Hoffnung auf Erfolg.
Erst spät, viel zu spät, beginne ich nun zu begreifen, dass ich eben dieses Glück, das ich Anderen so unzählige Male schenkte und doch nie für mich selbst halten konnte, in jener Vollmondnacht am eigenen Leib erfahren hatte und mir im Gegensatz zu all meinen „Opfern“ die Möglichkeit gegeben war, aus dieser kurzen Nacht ein ganzes Leben erfüllt von Liebe zu machen. Ich hätte nur die Hände ausstrecken müssen, hätte sie einfach nur festhalten müssen.
Nur eine richtige Antwort.
Sie murmelte etwas, doch ich verstand ihre Worte nicht. Der Druck ihres Beckens wuchs stetig, ebenso der ihrer Finger. Ich massierte ihre Brüste, streichelte ihren Schoß und mit einem Mal war ich in ihr. Sie war warm, unglaublich warm. Stöhnend warf sie ihre schweren Locken zurück. Ich wollte sie stützen, wollte mich aufrichten, doch sie hielt mich zurück. Mit einem Lächeln, das mir sämtliche Gegenwehr raubte, schüttelte sie den Kopf, legte meine Arme auf ihre Oberschenkel, dass ich ihr Becken locker umfassen konnte, und begann wieder mit diesem betörenden Kreisen ihrer Hüften, das mich noch in den Wahnsinn trieb.
Das Wasser platschte sanft an meine Füße und floss stetig um uns herum, die Luft war stickig, heiß und unsäglich schwer. Fast hatte es den Anschein, man brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie auszuwringen wie einen nassen Lappen. Lautes Stöhnen und atemloses Keuchen hingen in der Luft wie die zuckerreifen Früchte eines Obstbaumes im Spätsommer. Ich hatte bereits mit so vielen Frauen geschlafen, doch die Empfindungen, die sie mir schenkte, waren so unglaublich süß. Der Boden unter uns schaukelte wie ein Wasserbett.
Ihre kreisenden Hüften trieben meine Lust mit kräftigen Stößen immer weiter voran, nur ab und zu beugte sie sich herunter, nahm mir einige heiße Küsse ab, wobei sich ihre Brüste jedes Mal gegen meinen Oberkörper drückten, und entschwand dann wieder in Höhen, in die ich ihr nicht folgen durfte. In schnellem Tempo glitten ihre Hände an mir hoch und runter, immer wieder hoch und runter, und spannen mich in einem Netz unsichtbarer Fäden regelrecht ein. Eine meiner Hände webte sie am hölzernen Kopfende des Bettes fest, die andere klebte an ihrer Taille und es war mir unmöglich sie zu lösen.
Ich war gefangen, doch nicht erst seit jetzt. Vom ersten Moment an, in dem ich sie gesehen hatte, hatte sie mich verzaubert. Ich hatte die Stricke, auf denen sie mich hierher geleitet hatte, gesehen und war ihnen dennoch gefolgt. Schlimmer noch, ich hatte sie ganz bewusst zu mir gelockt. Ich hatte ihre Spinnfäden gesehen, sah sie auch jetzt noch und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass es nicht ihre waren, sondern meine eigenen, wie ich sie allnächtlich um meine „Opfer“ spann. Sie nutzte sie nur. Ich war in meine eigene Falle getappt, war gefangen in meinem eigenen Netz und überließ einer fremden Spinne die Kontrolle über mich. Sie dirigierte, sie bestimmte das Tempo und ich folgte willens.
„Wie ist dein Name?“
Ihre Stimme jagte mir heiße Schauer den Rücken hinunter. Sie war wie alles andere an ihr pure Versuchung, eine Mischung aus jugendlichem Sopran und reifem Alt. Ihr Atem war heiß wie Wüstensand und ihre Hände, die an meiner Rückseite langsam herabfuhren, bewirkten den Eindruck, der Sand wäre mit Schmirgelpapier versetzt.
Ich rang um einen klaren Gedanken, suchte nach irgendeinem Namen außer dem meinen. Doch ich war bereits so tief in den Strudel der Leidenschaft gezogen worden, dass ich zu Gedanken wie solchen nicht mehr fähig war. Ihre lustvoll glänzenden Augen sogen die Worte regelrecht aus meinem Mund.
„Marou“, keuchte ich und stöhnte laut auf, als ihre Hände mein Gesäß umfassten und fest zudrückten.
Mein gut gehütetes Geheimnis, es war gelüftet.
„Liebst du?“
Mein wahrer Name, in jener Nacht kam er mir zum ersten und einzigen Mal über die Lippen. Nie zuvor hatte ich ihn preisgegeben, jedem meiner „Opfer“ bleibe ich unter einem anderen Alias in Erinnerung.
Doch in dieser Nacht war ich das Kaninchen, sie der Fuchs, sie die Spinne, ich die Fliege. Das Opfer hatte den Jäger zu sich gelockt, eine Fährte gelegt und die Tür weit offengelassen. Warum, das weiß ich bis heute nicht. Aber ich genoss jede Sekunde, jede Berührung, jeden Kuss. Noch nie hatte mich ein anderer Mensch so sehr um den Verstand gebracht.
In jener Nacht war sie es, die mit mir schlief.
Ihr Name war Bilee, mit einem L und Doppel-E, wie sie betonte. Eine wahrlich eigenartige Schreibweise.
Der Abend war bis dahin wenig erfreulich für mich gelaufen und als ich am „Dark Noir“ ankam, war meine Laune auf dem Tiefpunkt. Doch all mein Ärger und Frust waren vergessen, sobald ich das Lokal betrat. Noch während ich den ersten Fuß über die Schwelle setzte, sah ich sie. Sie saß allein an der Bar und meine Füße trugen mich zu ihr, bevor ich ihnen den Befehl dazu gab. Ich setzte mich neben sie, spendierte einen Drink und machte ihr ein ehrlich gemeintes Kompliment über ihr schwarzes Abendkleid, dessen grüne Stickereien perfekt mit ihrem roten Haar harmonisierten. Sie ignorierte mich.
Mein Jagdinstinkt erwachte. Ich mochte es, wenn sich meine „Opfer“ zierten, wenn ich etwas um sie kämpfen musste. Eine blinde Fliege, einen lahmenden Hasen konnte jeder fangen. Eine scharfsinnige Biene, ein wachsames Kaninchen zu überlisten, erforderte dagegen einiges an Übung und Charme.
Doch an dieser schlichten Schönheit schien ich mir die Zähne auszubeißen. Außer ihrem Namen, von dem ich nicht einmal wusste, weshalb sie ihn preisgab, wenn sie doch keinerlei Interesse an mir hegte, erfuhr ich nichts über sie. Als ich ihren nervösen Blick in Richtung der Herrenwaschräume bemerkte, dachte ich, den Grund dafür zu kennen, und setzte mich auf die andere Seite der Theke, kurz bevor ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar im Bikeroutfit neben ihr Platz nahm.
Intakte Beziehungen zu zerstören, war nie meine Absicht und normalerweise zog ich mich auch immer zurück, wenn sich mein anvisiertes „Opfer“ augenscheinlich in einer solchen befand. Doch an jenem Abend blieb ich. Schnell fand ein anderes weibliches Wesen auf der Suche nach Trost und Zuneigung ihren Weg an meine Seite. Sie war durchaus hübsch, charmant und an jedem anderen Abend hätte ich sie sicher nach Hause begleitet. Doch nicht so an jenem. Ich schenkte ihr nicht meine volle Aufmerksamkeit, weshalb sie irgendwann enttäuscht ging. Immer wieder suchte mein Blick die unbekannte Rothaarige und ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln.
Es war seltsam. So abweisend und kühl sie sich mir gegenüber auch verhalten hatte, so interessiert und intensiv studierte sie mich jetzt. Unverhohlen sah sie direkt zu mir herüber, ignorierte bisweilen ihren Begleiter und als ich ging und ihr vom Türrahmen aus noch einen letzten, verstohlenen Blick zuwarf, umspielte ein eigenartiges Lächeln ihre Lippen. Ich schlug den Mantelkragen hoch und sog die frische Luft tief ein, dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Es war das erste Mal seit Langem, dass ich ein Lokal alleine verließ.
Doch ich war mir sicher, dass das nicht so bleiben würde.
Es dauerte nicht lange, bis mich die fiebrige Atmosphäre dieser Nacht an den Rand meiner Kräfte trieb. Mein Herz war eine riesige Pumpe, die auf Hochtouren arbeitete, und aus jeder einzelnen Pore meines Körpers strömte diese unsägliche Hitze. Der Boden unter mir vibrierte, die Brandung rauschte und überall um mich herum brachen Wellen tiefer, dumpfer Basstöne, während die eingängige, sphärische Melodie in jedem Winkel des Raumes widerhallte. Ihr Ritt wurde immer wilder, mein Stöhnen immer lauter. Noch ein, zwei Züge, dann würde ich keine Luft mehr bekommen.
„Bilee“, keuchte ich und rang um meine Besinnung.
Sie beugte sich über mich, ihr lockiges Haar fiel mir ins Gesicht und machte das Atmen noch schwerer. Sanft strich sie mir die Strähnen weg, sah mich liebevoll an und fuhr das Tempo ihrer kreisenden Hüften ein wenig zurück.
„Gib mich frei, Bilee“, brachte ich unter größter Anstrengung keuchend hervor. „Bitte, gib mich frei.“
Was dann geschah, ist schwer zu beschreiben. Anfangs glaubte ich noch, meine schleierverhangenen Augen und mein völlig ausgelaugter Verstand hätten mir einen Streich gespielt. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass alles genauso geschehen ist.
Sie sah mich an, sah mir direkt in die Augen und ihr Blick verwandelte sich. Alles Feuer, jede Lust und dieses atemberaubende Funkensprühen wichen einem anderen Ausdruck. Plötzlich sah sie so unendlich traurig aus. Ihre Pupillen flimmerten. Vielleicht vom Widerschein des Mondes, doch heute bin ich mir sicher, es waren Tränen. Stumm löste sie die klebrigen Fäden um meine Arme und Hände. Ich streckte sie aus, strich ihr sanft über die jugendlich geröteten Wangen und da passierte es.
Sobald ich sie berührte, lösten sich viele kleine Schuppen von ihrer Haut. Wie Putz, der von einer alten Mauer bröckelt, fielen sie herab. Erschrocken sah ich sie an. Goldstaub fiel auf mich nieder und ihr rotes, wildes Lockenhaar verwandelte sich in einen stürmischen Strudel tanzender Apfelblüten. Das Wasser um uns herum begann zu schäumen, Seifenblasen stiegen auf, fingen das kalte Mondlicht ein und warfen es in verzerrten Formen zurück. Angst übermannte mich, ich kniff die Augen zusammen.
Ein beißender Schmerz zwang mich, sie wieder zu öffnen. Bilee – mit dem abgebrochenen Fingernagel riss sie das Netz der Fäden entzwei. Ich konnte wieder atmen, konnte mich bewegen und sie war genauso wunderschön wie zuvor. Behutsam, fast zögernd berührte ich erneut ihre Wange, strich sanft darüber. Nichts. Vorsichtig fuhr ich durch ihr dickes, schweres Haar. Nichts. Der Druck ihrer Schenkel wurde wieder größer, ihr Kreisen fordernder. Sie gab mir die Hand und ich war bereit, folgte ihr. Nur noch ein kurzes Stück des Weges, dann waren wir am Ziel.
Nun gab es kein Halten mehr. In rhythmischen Stößen segelten wir gemeinsam durch die stürmische See, flogen immer höher, erklommen einen Felsvorsprung nach dem anderen. Sie beugte sich weit über mich, ihre begierigen Augen verschlangen mich mit Haut und Haar. Die stöhnenden, gurgelnden Laute, die aus ihrem Mund kamen, waren so wunderschön, so erotisch wie alles andere an ihr. Ich stützte sie, hielt ihr Becken fest umfasst und vergrub meinen Kopf zwischen ihrem wallenden Rotschopf in ihrer Halsbeuge. Schweiß und salziges Meerwasser flossen ihr in Strömen das Gesicht hinunter. Wieder hatte ich den Eindruck, sie weinte. Ich küsste sie, bedeckte ihren ganzen Nacken, jeden Millimeter Haut, den ich finden konnte, mit meinen unbeherrschten Lippen.
Das Tor, dort oben auf dem Gipfel – ich sah das Licht, das durch den geöffneten Spalt hindurchfiel und meinem Herzen Wärme schenkte.
„Liebst du?“
Ich spürte den gewaltigen Druck in meinen Lenden, vernahm ihr Stöhnen kaum. Doch mein Herz tat es. Und es antwortete für mich.
„Ja“, keuchte ich zwischen zwei lustvollen Wogen.
Und das war nicht gelogen. In jener Nacht, in diesem wunderbaren Moment der Erfüllung durchfluteten mich unendliches Glück, tiefe Zufriedenheit und ein Gefühl, dass ich erst am heutigen Tage, viel zu spät in Worte fassen kann.
Ich hatte das Gefühl gleich zu explodieren, konnte nicht mehr denken. Mein ganzer Körper brannte. Fast hatte ich das Tor erreicht, streckte die Hand aus, fühlte die Wärme des gleißenden Lichtes. Ich umfasste den Knauf, riss es ganz auf und wurde von einem goldenen Meer überflutet. Blind – ich war blind, konnte nichts sehen.
Doch ich hörte etwas. Ihre süße, liebliche Stimme, sie rief mich, rief meinen Namen.
„Marou…“
Nur noch einen Schritt, da sah ich das Messer. Sie reckte den Arm weit in die Höhe. Die Klinge funkelte bedrohlich im fahlen Sternenlicht. Tausend silbrige Tränen fielen auf mich nieder wie Tau, der auf den Rasen fällt. Sie weinte. Der Dolch sauste gleich dem Fallbeil einer Guillotine unaufhaltsam nieder. Ich versuchte zu schreien, doch der Schreck raubte mir die Stimme.
Ich erreichte den Höhepunkt in dem Moment, in dem die Klinge meine Brust traf und tief eindrang. Ich bäumte mich auf, jede Faser meines Körpers zog sich zusammen. Schmerz, Erregung, Angst, Lust – alles entlud sich mit einem Schlag in völliger Ekstase und eine seltsame Mischung aus Schreien und Stöhnen entrang sich meiner Kehle. In meinem Gehirn starben Millionen Nervenzellen mit einer Explosion.
Dann wurde ich ohnmächtig und sank kraftlos in die nassen Laken zurück.
Ich begegne dem Mann gut drei Wochen später. Ich bin müde, am Ende meiner Kräfte und bereit, meinem Leben ein Ende zu setzen. Er sieht ebenfalls müde aus, wirkt aber längst nicht so alt wie an jenem Abend in der Bar. Sein Haar ist keineswegs schneeweiß, nur vereinzelt treten erste graue Strähnen durch den ansonsten kräftig braunen Schopf. In seinen Zügen liegt noch nicht gänzlich vergangene Jugend und auch seine Augen blicken klug und wach drein. Noch immer geschockt von den seltsamen Ereignissen jener schicksalhaften Nacht bin ich völlig in Gedanken versunken, bemerke ihn nicht.
Im frühen Morgengrauen sitze ich auf einer Bank am Flussufer, starre auf die spiegelglatte Oberfläche und frage mich, was für ein Gefühl es wohl ist, wenn das Wasser langsam in die Lungen sickert. Seit jener Nacht habe ich keinen ruhigen Schlaf mehr. Ihr engelsgleiches Gesicht, ihre süße, rauchige Stimme, ihre zarten Hände, sie verfolgen mich in meinen Träumen und mit ihnen all die Gefühle jener Nacht. Seit nunmehr sechsunddreißig Stunden habe ich aus Angst vor der Erinnerung kein Auge zugetan. Ich komme hierher, um Ruhe zu finden, vielleicht auch Antworten auf all jene Fragen, die ich nicht zu stellen wage. Auf alle Fälle aber, wird mein Weg heute hier enden.
„Sie war wunderschön, nicht wahr?“
Ich habe ihn nicht kommen sehen, doch nun sitzt er neben mir, der Mann an ihrer Seite in jenem Lokal.
„Nicht so wie die Models und Schönheitsköniginnen in Hochglanzmagazinen. Aber auf ihre eigene Art und Weise war sie wunderschön, meine Tochter.“
Ich nicke nur stumm und komme nicht einmal auf die Idee, mich zu fragen, warum er in der Vergangenheit spricht. Woher auch immer, der Mann scheint zu wissen, dass sie nicht mehr am Leben ist.
„Sie wusste, dass ihre Suche ein Ende hatte, von dem Augenblick an, als sie dich sah.“
Eine einzelne Träne fällt auf seine Knie.
„Ich ließ sie gehen, obwohl ich wusste, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.“
Irritiert sehe ich ihn an und in das Gesicht eines alten Greises. Der Mann scheint in den letzten Minuten, binnen der letzten zwei Sätze, um Jahre gealtert zu sein. Nichts von seiner Jugendlichkeit ist noch übrig, zahlreiche tiefe Falten prägen nun sein Antlitz, die Augen liegen glanzlos in den leicht eingefallenen Höhlen. Das vormals tiefbraune Haar hängt ihm in schlohweißen, fransigen Strähnen wirr herab. Sanft legt er mir die alte, zittrige Hand auf die Schulter und schenkt mir ein verständnisvolles, väterliches Lächeln.
„Es ist schmerzhaft den Weg unserer Bestimmung zu beschreiten.“
Sein matter Blick geht wieder hinaus über das Wasser Richtung Horizont, der sich langsam Orange färbt und das Erwachen eines neuen Tages verkündet.
„Doch früher oder später folgen wir ihm alle.“
Als ich früh am Morgen erwachte, war alles still. Das Meer war verebbt, der Wind abgeflaut. Ich lag daheim in meinem Himmelbett, die ersten Vögel erwachten, seichter Straßenlärm drang durch das geöffnete Fenster über mir herein und erste zarte Strahlen Tageslicht kitzelten meine Nasenspitze. Zerwühlte Laken und die unbekannte Schöne an meiner Seite waren das Einzige, was noch an die fieberhaften Stunden der vergangenen Nacht erinnerte.
Bilee – in dem Mondschein am Meer war sie verbotene Versuchung, süße Verführung, verruchte Erotik gewesen. Jetzt lag sie schlafend neben mir, kuschelte sich an meine Seite und ein flüchtiges, scheues Lächeln huschte über ihre roséfarbenen Lippen. Sie sah so unschuldig aus, so tugendhaft wie ein gerade der Kindheit entwachsener Engel, der auf seiner Wolke schlummerte. Ein Jammer, sie zu verlassen.
Ich betrachtete sie noch eine kurze Weile, dann stand ich auf. Schnell zog ich mich an und schlich auf leisen Sohlen zur Tür, um fortzugehen wie bei all den anderen vor ihr.
„Marou…“
Es war das zweite Mal, dass sie meinen Namen nannte, und wie beim ersten Mal lief es mir heißkalt den Rücken herunter. Zögernd drehte ich mich um. Sie blinzelte verschlafen durch ihr zerzaustes Haar. Schweigend standen wir uns gegenüber.
„Liebst du?“
Diese Frage, begleitet von ihrem traurigen Lächeln – sie schnürte mir die Kehle zu, zieht mir noch jetzt den Boden unter den Füßen weg. Doch so lodernd mein Herz in jener Nacht auch für sie gebrannt hatte, der Zauber war verflogen, das Feuer erloschen.
„Nein“, antwortete ich ruhig.
Ihr Lächeln aber blieb und das machte mir Angst.
„Ich weiß.“
Traurig senkte sie den Blick, lächelte aber tapfer weiter. Schwere Tränen, silbern wie Einhornblut, fielen auf ihre nackte Haut und verwandelten sich vor meinen ungläubigen Augen in schillernde Seifenblasen. Sie sammelte sie in ihren hohlen Händen und blies sie mir zu.
„Aber dafür wirst du mich nie mehr vergessen.“
Ich wandte mich ab, unzählige Seifenblasen umwoben mit goldenem Staub flogen an mir vorbei, zerplatzten um mich herum. Ein Lüftchen kam auf und plötzlich stand ich in einem Reigen tanzender Apfelblüten. Ich schlug die Augen nieder, drehte mich langsam wieder um und blickte auf mein leeres Bett. Bilee – sie war verschwunden. Ihr atemberaubender Körper, ihr wildes, kirschrotes Haar, nichts war von ihr übrig. Nichts außer einem Häufchen Goldstaub umringt von weiß-roten Blütenblättern und regenbogenfarbenen Seifenblasen.
Schweigend sitze ich neben dem alten Mann. Seine Worte klingen weise, ergeben aber keinen Sinn für mich. Tausend Fragen schwirren durch meinen Kopf. War all das wirklich geschehen? Wie konnte sich jemand in Luft auflösen? Wieso hatte sie gelächelt, obwohl sie wusste, dass ich sie verlassen würde wie all die anderen? Warum schmerzt meine Brust seit jenem Morgen? Weshalb verfolgt sie mich in meinen Träumen. Und wer oder …
„Was war sie?“
Der alte Mann sieht mich an, Milde und Güte prägen sein Antlitz.
„Das weiß du doch. … Du kennst die Antwort auf all deine Fragen.“
Ich sehe ihm direkt ins faltige Gesicht. Er spricht in Rätseln.
„Sie ist wie du.“
Die Worte des Alten verlieren sich auf dem kurzen Luftweg zwischen uns. Ich verstehe das alles nicht.
Die Sonne geht auf, prall und rot kriecht sie über das blaue Band des Horizontes. Mein Herz wird schwer, denn im Gegensatz zu mir scheint es die Worte des Mannes zu begreifen. Tränen fallen auf meine Hand, genauso silbern und schwer, wie ihre es waren. Doch dieses Mal bin ich es, der sie weint.
Ich stehe in der Glut der Morgenröte und fühle, wie sich alles zusammenfügt – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Mein kaltes Herz, unfähig zu lieben, Bilee, der Dolch, den sie mir in die Brust stieß, ihr trauriges, tapferes Lächeln. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, was ich erst in diesem Augenblick zu erahnen beginne.
„Liebst du?“
Die Stimme des alten Mannes kommt unverhofft, erwischt mich völlig unvorbereitet. Sechsmal hatte sie mir die gleiche Frage gestellt und jedes Mal hatte ich eine andere Antwort gegeben. Doch keine davon war die richtige, das erkenne ich nun. Ich habe Angst was geschehen wird, wenn ich sie ausspreche, doch der Alte lächelt milde und nickt mir zu. Die Worte, die ich eigentlich ihr hätte sagen sollen, ich kann sie nicht länger zurückhalten, muss mich der Wahrheit endlich öffnen.
„Ja.“
Ich sehe an mir herunter, meine Hände lösen sich auf. Wie Sand rieselt meine Haut in silbernem Staub langsam herunter. Meine Tränen fallen darauf und bilden tausend kleine Seifenblasen. In meinem Haar hängen Apfelblüten.
„Ja, ich liebe. Und wahre Liebe wird niemals enden.“