Tiberius war sich nicht sicher, ob er es dem Elbenkönig verraten sollte. Er würde riskieren, dass Thranduil womöglich selbst in die andere Welt kommen wollte. Da war er sogar ziemlich sicher, daher fand er Ausflüchte: „Das kann ich dir nicht sagen. Ich will es dir nicht verraten.“
Der König sah ihn missbilligend an, entgegnete jedoch nichts.
Der Unsterbliche bemerkte, wie das Schwarz der Nacht begann, ganz langsam zu verschwinden. Er erhob sich: „Ich muss jetzt gehen.“ Mit diesen Worten huschte er davon.
Bald darauf fand Tiberius auf seinem Streifzug durch den dichten Wald einen See, wo er den Sonnenaufgang erwarten wollte. Er suchte nach einem Unterschlupf in der Nähe, wohin er sich vor dem Sonnenlicht flüchten konnte, wenn es soweit war und seine Aufregung stieg.
Er setzte sich an das Seeufer und beobachtete den Himmel, der inzwischen dunkelblau geworden war.
Mit seinen 2000 Jahren konnte er ansonsten bereits den Sonnenaufgang erleben, aber diesmal ging es darum, wie lange er sich der Sonne aussetzen konnte.
In der Ferne hörte er das Knacken von Geäst, Thranduil folgte ihm aus Neugierde und Tiberius wusste, dass er ihn beobachtete, aber nicht näher kam.
Die Zeit verging, das Morgenlicht wurde heller und bald stahlen sich die ersten Sonnenstrahlen durch das Geäst. Langsam stieg die Sonne immer höher, bis sie über die Baumkronen schien und erreichte mit ihrem Licht den offenliegenden See.
Tiberius spürte die Wärme auf seinem Gesicht, als die ersten Strahlen ihn trafen. Bis jetzt war es noch eine angenehme Wärme und er war neugierig, wie lange es so bleiben würde.
Schließlich saß er in der prallen Sonne und wenn er sich sonst zu diesem Zeitpunkt zurückziehen musste, konnte er nun verweilen.
Er überlegte, ob er noch einen Schritt weitergehen sollte und betrachtete das Wasser nachdenklich.
Dann zog er entschlossen sein Hemd aus und die Wärme hüllte seinen blassen Oberkörper ein, brannte jedoch nicht.
Allmählich gelangte der Vampir zu der Erkenntnis, dass es wirklich zu wirken schien, das Elbenblut machte immun gegen die Sonne.
Er zog sich weiter aus und sprang dann übermütig in den See.
Das Wasser fühlte sich angenehm kühl an, während er ein wenig herum schwamm und dabei Thranduils Gedanken über sein Tun hörte.
Der König stand kurz darauf am Ufer und beobachtete ihn.
Wie schön er doch war, musste der Vampir bei seinem Anblick wieder denken. Die fast weißen Haare strahlten regelrecht im Sonnenlicht.
Da schwamm Tiberius wieder näher zum Ufer.
Der König betrachtete ihn und bemerkte „Nun, du scheinst bekommen zu haben, was du wolltest.“
Der Vampir lächelte und streckte die Arme aus: „Ja, es wirkt tatsächlich! Es ist wirklich ein Geschenk. Nach so langer Zeit kann ich wieder in der Sonne wandeln.“
Ihre Kraft nahm zu. Tiberius spürte die Hitze nun stärker an seiner Haut, was davon aus dem Wasser ragte, starrte ängstlich auf seine Arme, aber sie begannen zum Glück nicht zu verschmoren. Denn er wusste ja nicht mehr, wie es sich als Mensch angefühlt hatte und da hatte man höchstens einen Sonnenbrand riskiert.
Der Vampir hörte plötzlich, wie sich viele Elben näherten.
Legolas war mit mehreren Kriegern auf der Suche nach seinem Vater.
Vorsorglich stieg Tiberius aus dem Wasser und zog sich schnell an: „Dein Sohn wird gleich hier sein. Daher verschwinde ich lieber.“
Thranduil wandte sich zum Wald um, aber konnte noch nichts hören.
Tiberius fügte hinzu: „Ich will keinen Kampf. Daher werde ich jetzt gehen. Nun, ich danke dir für deine Blutgabe. Vielleicht komme ich eines Nachts wieder zurück.“
Der Elb neigte ein wenig sein Haupt: „Es war ein fairer Tausch, aber ein zweites Mal werde ich diesen Handel sicher nicht mehr eingehen.“
Tiberius wusste, dass der andere sich vor ihm fürchtete und es ihm lieber war, dass ein so mächtiges Wesen nicht weiter durch den Düsterwald zog. Nickend antwortete er: „Gut, das kann ich verstehen. Dann lebe wohl, Thranduil.“
Mit diesen Worten ließ er den Elbenkönig am Ufer zurück und verschwand im Dickicht. Seine Kräfte waren bei Tag nun schwächer, aber das Elbenblut bewirkte, dass sie nicht so schnell nachließen, wie sonst. Normalerweise würde sein Körper jetzt allmählich in den Todesschlaf fallen.
Daher beeilte sich Tiberius zum Portal zu kommen.
Am Besten er stieg über die Baumkronen empor und flog zu der Stelle zurück.
Das war ebenfalls ein neues, überwältigendes Erlebnis. Bei Tag zu fliegen.
Alles sah völlig anders aus und der Wald unter ihm war grün statt schwarz. Vögel flogen jetzt am Himmel und auch die Geräusche waren andere.
Der Vampir musste wegen der Helligkeit der Sonne die Augen zusammenkneifen und sie brannte auf seinen Rücken.
Sein Blick fiel immer wieder auf seine Hände, ob sie anfingen zu verschmoren, doch es geschah nichts dergleichen. Ihn wunderte es, dass er sich überhaupt in die Lüfte erheben konnte. Das Blut ließ seine Kräfte wirklich kaum schwächer werden. Ein willkommener Nebeneffekt!
Endlich kamen die Felsen in Sichtweite, wo sich die Höhle befand, in der er vor einigen Nächten in diese Welt gekommen war.
Tiberius setzte vor dem Eingang auf, vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war und huschte dann hinein, eilte durch einen langen Gang und kam wieder in der kleinen Halle an.
Seine scharfen Augen mussten sich ein wenig länger an die Stockfinsternis gewöhnen, aber dann erkannte er das leichte Flirren an einer Stelle der Höhlenwände. Das Portal!
Es war zum Glück noch da.
Vermutlich war es immer da, nur für die anderen nicht zu erkennen.
Tiberius sah nur dieses leichte Flirren, wie heiße Luft. Nun trat er vor diese Stelle an der Wand und streckte erst seine Hand danach aus.
Als seine Finger die Felswand erreichten, tauchten sie in den Fels hinein und er spürte einen leichten Sog daran auf der anderen Seite. Es ging also hindurch.
Entschlossen trat der Vampir schließlich durch die Wand, traf auf keinen Widerstand, doch ein starker Sog erfasste seinen Körper.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit raste er wie durch einen Tunnel hindurch und kurz darauf lag er wieder in dem Gang der Katakomben von Rom, wo er das Portal gefunden hatte.
Erleichtert über seine problemlose Rückkehr, rappelte er sich auf, klopfte den Staub von seiner Kleidung und stieg wieder nach oben bis in die Gruft einer Kirche.
Dort vernahm er einige Menschen im Kirchenschiff, stahl sich vorsichtig heraus und konnte nun unbesorgt ins Freie hinaustreten.
Als er die Kirchentür öffnete, schlugen ihm das grelle Licht, der Lärm der Menschen, der Autos und die Hitze entgegen.
Es war ein heißer Sommertag in der ewigen Stadt.
Tiberius spazierte fasziniert durch die Straßen und betrachtete sein Rom, wie mit neuen Augen.
An den antiken Bauten angekommen, fühlte er sich wieder ins 1. Jahrhundert zurückversetzt. Bilder von damals tauchten vor seinem inneren Auge auf, wenn er die Ruinen nun betrachtete.
Diesen heutigen Tag musste er vollkommen auskosten, denn ein zweites Mal würde es nicht geben.
Wie ein Tourist besuchte er nun die wichtigsten Sehenswürdigkeiten Roms und sog diese Eindrücke gierig in sich auf.
Er erinnerte sich an seine letzten Tage hier als Sterblicher, bevor er mit der Armee 88 n.Chr. nach Britannien aufgebrochen war, nichtsahnend, dass ihn dort schon bald ein seltsames Schicksal ereilen sollte.
Eine Gruppe Barbaren überfielen als Vampire sein Lager und der Anführer verwandelte ihn schließlich in einen Bluttrinker.
Nach seiner ausgiebigen Sightseeing-Tour, saß Tiberius abends wieder in seinem Palazzo in der Nähe des Pantheons und erwartete lächelnd das Erwachen seiner Gefährtin Helena.
Es war heute ein unvergesslicher Tag gewesen und er würde dieses Geheimnis vollkommen für sich behalten.
Dass er das Portal gefunden hatte, war reiner Zufall gewesen und er hatte nicht vor, es noch einmal zu nutzen.
Ende