Leise raschelten die Blätter der alten Linde im Wind und einige, deren kräftiges Grün angesichts des nahenden Winters schon zu einem kupfernen Braun geworden war, wurden von den dünnen Zweigen herab auf den dunklen Kies des Weges getragen. Dort kullerten und flogen sie um die Wette, bis sie sich schließlich in den welk gewordenen Blumen verfingen und diese nach und nach unter einer herbstlichen Decke verschwinden ließen. Das bunte Laub leuchtete in kräftigen Farben, die sich stark vom schwarz glänzenden Marmor des Grabsteins abhoben, auf dem der kleine Geist saß. Seit sein Leben vor etwas mehr als einem Jahr auf jähe Art und Weise von einem Unfall beendet worden war und man ihn hier begraben hatte, war er an diesen Friedhof gebunden. Er war hinter seinen steinernen Mauer gefangen, unfähig sie hinter sich zu lassen, und musste miterleben, wie seine Freunde sein Grab besuchten, Blumen niederlegten und versuchten ihren Verlust zu verarbeiten - zunächst mit Tränen in den Augen, dann mit ernsten Mienen, auf die durch die heilende Wirkung der Zeit ein vorsichtiges Lächeln zurückkehrte, bis die Besuche auf dem Friedhof immer seltener wurden. Einige seiner Freunde hatten früher, andere später damit angefangen, sein Grab immer seltener zu besuchen, bis es um den kleinen Geist zunehmend einsam geworden war. Lediglich seine beste Freundin besuchte ihn noch immer treu jeden Donnerstag. Der kleine Geist freute sich immer auf diese Tage. Er sah ihr gerne zu, wie sie das Unkraut auf seinem Grab jätete, farbenfrohe Blumen pflanzte oder Kerzen entzündete, an denen er sich in der Nacht wärmen konnte und deren Licht durch seine fast durchsichtigen Hände schimmerte. Seine Freundin bemühte sich sehr, damit seine letzte Ruhestätte stets gepflegt und ordentlich aussah, doch all die bunten Blätter fischte sie nicht sofort zwischen den vielen Blumen und Grünpflanzen auf dem Grab heraus um sie zu entsorgen, sondern ließ sie einfach dort, bis sie irgendwann von den Böen des nächsten Sturms weggetragen wurden. Sie erinnerte sich in dieser Jahreszeit oft daran, wie sehr der kleine Geist den Herbst geliebt hatte, als er noch am Leben war.
Auch heute war sie wieder auf den Friedhof gekommen und stand vor dem Grab des besten Freundes, den sie auf so tragische Art viel zu früh hatte verlieren müssen. Der Wind spielte mit ihren braunen, lockigen Haaren, zog an dem dunkelgrünen Schal, den sie stets um den Hals geschlungen hatte und ließ den grauen, etwas zu großen Mantel um ihre schlanken Beine flattern. Eigentlich sah sie aus, wie an jenem Tag, an dem der kleine Geist sie zum letzten Mal getroffen hatte, doch ihr Gesicht wirkte seitdem blasser. Es war von dunklen Schatten gezeichnet und die einst so strahlenden, grünen Augen hatten all ihren Glanz verloren. Ihre Stimme zitterte, während sie die Hände tiefer in die wärmenden Manteltaschen schob. "Ich wünschte, du könntest mit mir reden; mir zeigen, dass du noch hier bist. Gott, warum musstest du so früh gehen?" Der kleine Geist seufzte und sagte kein Wort. Er hatte am Anfang oft versucht, dem Klagen und Flehen seiner Freunde eine Antwort zu geben. "Seht ihr mich nicht? Ich bin noch hier! Ich bin noch da! Ich habe euch nie verlassen!", hatte er gerufen. Er hatte geredet, geflüstert, geschrien, getobt und irgendwann aufgegeben. Sie konnten ihn nicht hören und nicht sehen und so hatten sie schließlich gelernt, mit dem Verlust umzugehen. Zunächst war der kleine Geist traurig darüber gewesen. Wie konnten sie ihn denn einfach vergessen? Ihn einfach so auf dem Friedhof verrotten lassen, während er nicht einmal durch das Tor treten konnte und einsam und verzweifelt zurückblieb? Wie konnten sie ihr Leben einfach weiterleben? Oft hatte der kleine Geist in dieser Zeit versucht, seinen Freunden zu folgen, den Friedhof hinter sich zu lassen und wenigstens für eine kurze Zeit in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Er wollte wieder bei seinen Freunden im Wohnzimmer sitzen und mit ihnen in endlosen Filmnächten unzählige Geschichten erzählt bekommen. Er wollte durch die Stadt schlendern und gemütliche Mittage in seinem Lieblingscafé verbringen, in dem er bei Smalltalk und einem großen Cafe au lait schon so manchen interessanten Menschen kennen gelernt hatte. Er wollte in einer Menschenmenge stehen und so tun, als würde er noch immer über ein schlagendes Herz verfügen. Er wollte auf Konzerte gehen, in fremde Länder reisen, etwas Großartiges tun; ja, er wollte all die Dinge erleben, für die ihm nicht genug Zeit geblieben war. Und vor allem wollte er aufhören tot zu sein. Aber er konnte nicht. Er konnte ja nicht einmal den Friedhof verlassen, auf dem sein Körper seine letzte Ruhe gefunden hatte, während seine Seele ruhelos zwischen, dunklen Grabsteinen, hölzernen Kreuzen und vertrocknenden Blumen umherstreifte. Innerhalb der Friedhofsmauern konnte er sich frei bewegen, doch er konnte sie beim besten Willen nicht überwinden. Wann immer er es versuchte, schien er an einer unsichtbaren Wand abzuprallen und so stand er unzählige Male einfach mit hängenden Geisterschultern da und schaute seinen Freunden hinterher, die dem Friedhof den Rücken zugekehrt hatten und Schritt für Schritt in ihr Leben zurückkehrten, bis sie aus dem Blickfeld des Geistes verschwunden waren. Jedes Mal fühlte der kleine Geist sich schrecklich einsam und spürte, wie er ein wenig blasser wurde. Fast war es, als hätten seine Freunde einen kleinen Teil von ihm mitgenommen; als würde er Stück für Stück mit ihnen weggehen, nach Hause zurückkehren und endlich seine Ruhe finden, doch der kleine Geist hatte auch Angst, vor dem, was passieren würde, wenn er irgendwann so sehr verblassen würde, bis er schließlich verschwunden wäre. Irgendwann hatte er dann alle Versuche den Friedhof zu verlassen aufgegeben, was ihn jedoch nicht daran hinderte, immer durchsichtiger zu werden, wann immer seine Freunde zurück nach Hause gingen. Wenn der kleine Geist gekonnt hätte, hätte er an diesen Tagen viele Tränen vergossen, doch zusammen mit seinem Körper, hatte er auch die Fähigkeit zu weinen verloren.
Nach und nach kam zu all der Trauer und Verzweiflung auch Erleichterung hinzu. Als an seinem ersten Todestag all seine Freunde, die er immer seltener gesehen hatte, an seinem Grab zusammen kamen, um ihre Erinnerungen an die schönsten gemeinsamen Stunden mit dem verlorenen Freund zu teilen, erkannte der kleine Geist, dass sie ihn nicht vergessen hatten und das auch niemals tun würden. Er würde für immer ein Teil ihrer Vergangenheit sein. Die Spuren, die er in ihren Herzen hinterlassen hatte, würden auch das Schicksal oder das Fortschreiten der Zeit oder sein Tod nicht verwischen oder gar auslöschen können. Er war ein Freund gewesen und er würde immer da sein, selbst wenn er für sie gerade nicht hier war, weil sie ihn weder sehen noch hören oder fühlen konnten. Der kleine Geist hatte an diesem Tag das Gefühl, dass eine schwere Last von seinen Schultern genommen wurde. Seine Freunde hatten gelernt, wie es ohne ihn weitergehen konnte und das hatte ihn unendlich froh gemacht. Sie hatten ihr Leben, das durch seinen Tod durcheinander gewirbelt und aus dem Gleichgewicht geraten war, wieder in Ordnung gebracht. Die schwarzen Wolken, die ihren Himmel bedeckt und ihnen alle Hoffnung geraubt hatten, waren weitergezogen und die Sonne kehrte schließlich in ihren Alltag zurück. Schritt für Schritt hatten seine Freunde gelernt ihn loszulassen, mit jedem Besuch an seinem Grab ein wenig mehr, bis sie keinen Grund mehr hatten, ihn zu besuchen und der kleine Geist stark verblasst war. Und es war dieses langsame Verschwinden, dass ihm einst so starke Angst bereitet hatte und das jetzt plötzlich Hoffnung für ihn bedeutete. Wenn er irgendwann verschwunden wäre, könnte er endlich seinen Frieden finden. Er wäre nicht mehr auf diesem Friedhof gefangen, auf dem sein Grabstein ihm jeden Tag aufs Neue schmerzhaft sein eigenes Ableben mit all seinen Konsequenzen vor Augen hielt.
Das Schluchzen seiner Freundin riss den kleinen Geist aus seinen Gedanken. Besorgt blickte er auf eine einsame Träne, die sich den Weg über ihre zarte Wange bahnte. Zwar fiel ihr das Loslassen schwerer als seinen übrigen Freunden, doch auch sie hatte lange Zeit nicht mehr an seinem Grab geweint. Es gefiel dem kleinen Geist nicht, sie so zu sehen. Wer sich zu sehr an die Vergangenheit klammert, vergisst, dass die Zeit um ihn herum immer noch weiter verrinnt, bis er sich schließlich in einer Zukunft wiederfindet, in der er sich nicht mehr auskennt. Der kleine Geist hoffte inständig, dass dieses Schicksal seiner Freundin erspart bleiben würde. Ihre Tränen sollten trocknen und sie sollte den Anschluss an das Leben außerhalb der kalten Friedhofsmauern nicht verlieren. Vielleicht wäre es besser, wenn sie ihn nicht mehr so oft besuchen würde. Sie sollte diesen Ort des Todes verlassen und anfangen, wieder wie früher aus vollstem Herzen zu leben. Lautlos erhob sich der kleine Geist von dem Grabstein, auf dem er gesessen hatte, und glitt sacht zu seiner Freundin, um sie in die Arme zu nehmen. Zwar würde sie seine Umarmung nicht spüren können, aber er konnte es nicht ertragen, nicht wenigstens zu versuchen, ihr ein wenig Trost zu spenden.
Der kleine Geist stutze, als er seine Arme um schützend um seine Freundin schlang. Ihr Körper fühlte sich anders an. Wann immer er sie nach seinem Tod in die Arme geschlossen hatte, hatte sie sich kraftlos und schlapp angefühlt, fast so, als hätte sie sich selbst und alles um sich herum komplett aufgegeben. Jetzt aber waren ihre Muskeln angespannt. Sie zittere sogar ein wenig, als sie mit brüchiger Stimme flüsterte: "Es tut mir leid! Ich werde dich heute zum letzten Mal besuchen." Verwirrt schaute der kleine Geist sie an. Was hatten ihre Worte zu bedeuten? Sie würde doch nicht versuchen, sich selbst etwas anzutun? "Das darf auf gar keinen Fall passieren!", dachte der kleine Geist entsetzt, wurde jedoch schnell beruhigt, als die junge Frau in seinen Armen weitersprach: "Ich werde wegziehen, weit, weit weg", sagte sie, "und ein neues Leben beginnen. Ich kann nicht mehr hier bleiben, nicht in dieser Stadt, wo mich alles an dich erinnert." Wieder schluchzte sie, dann zog sie ein Taschentuch hervor, schnäuzte einmal leise und ließ den Blick langsam über das Grab wandern. Währenddessen versuchte der kleine Geist, ihre Worte zu verarbeiten. Er sollte seine Freundin also nie wieder sehen. Nie wieder... Obwohl er sich fühlte, als würde ein großer Stein dort liegen, wo einst sein Magen gewesen war, war er auch gleichzeitig unglaublich froh, dass sie sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. Sie würde leben, irgendwo anders wieder glücklich werden und endlich wieder mehr sein, als der traurige Kollateralschaden seines Todes. Er beobachtete, wie ihre schlanken Finger ein letztes Mal eine Kerze für ihn anzündeten. Als sie sie liebevoll zwischen die bunten Herbstblätter vor den dunklen Grabstein stellte, flüsterte sie: "Danke... für alles!" Der kleine Geist schaute in ihr Gesicht. Das Lächeln, dass er so lange vermisst hatte, war auf ihr Gesicht zurückgekehrt, zwar schwach, aber dennoch unverkennbar. In diesem Moment wusste er, dass alles wieder gut werden würde. Dies erfüllte ihn mit einem tiefen Gefühl des Glücks und der Erleichterung. Er folgte seiner Freundin nicht zum Tor, als sie sich zum gehen wandte, doch er schaute ihr lange hinterher. Wie schon viele Male zuvor begann seine Gestalt weiter zu verblassen, doch dieses Mal war es anders. Es war endgültiger. Lange genug hatte er sein Dasein hier gefristet ohne gehen zu können, weil seine Freunde noch nicht bereit gewesen waren, ihn gehen zu lassen. Sie hatten ihn festgehalten und deshalb hatte er sie noch nicht verlassen können. Nun war es dem letzten seiner Freundin gelungen, ihn loszulassen und es zu akzeptieren, dass er nicht wiederkehren würde. Nun war die Zeit gekommen, um weiterzuziehen. Er hatte keinen Grund mehr zu bleiben, jetzt wo er wusste, dass alle Menschen, die ihm im Leben so viel Halt und Freude gegeben hatten, bereit waren, für das Leben ohne ihn. Man würde seinen Namen wieder mit einem Lächeln aussprechen und Freude über die vielen Erinnerungen an all die schönen gemeinsamen Stunden mit ihm überwog endlich die Trauer über seinen Verlust. "Es geht ihnen endlich wieder gut..", dachte der kleine Geist. Mit einem Lächeln wurde er blasser und blasser. Er verschwand, den Blick fest auf die flackernde Kerzenflamme gerichtet. Ihr zuckendes Licht war noch immer nicht erloschen, als die Nacht sich über den Friedhof senkte auf dem ein kleiner Geist nach langer Zeit endlich seinen Frieden gefunden hatte.