Aus der Ferne betrachtet.
Aus der Ferne betrachtet, sagt man, ist alles schön.
In der Ferne befindet man sich in einer Komfortzone. Man fühlt sich wohl, unverletzbar. Und man kann beobachten. Beobachten und lernen. Beobachten und sicher sein. Aus der Distanz andere Verhaltensweisen studieren, ohne selbst das Revier der anderen zu kreuzen und so in die Zielregion zu geraten. Indirekt teilnehmen. Unsichtbar teilnehmen. Alles aus einem sicheren Abstand heraus. Sicherheit.
Man kann nichts falsches sagen. Nichts falsches tun. Eine falsche Regung, ein falsche Geste, ein falsches Verziehen des Gesichtes, ein falsches Kräuseln der Nase - ein falsches Wort. Nur eine Sache kann alles zum Kippen, zum Schwanken und zum Fallen bringen. Das Kartenhaus, das mühsam Stock um Stock um Stock aufgebaut wurde, sinkt in sich zusammen und hinterlässt ein Karten-, nein, Scherben-, nein, ein Trümmermeer. Trümmer der Zeit, der Erinnerungen. Trümmer der vergebenen Chancen.
Unser Kartenhaus ist noch ganz klein. Windschief. Auf wackeligem Fundament. In einer Tornado Alley. Langsam nur Stück für Stück für Stück baue ich daran. Mit einer Pinzette fasse ich jede Karte an und lege sie behutsam auf den Stapel. In ständiger Angst, es könnte die letzte Karte sein.
Du hingegen, du machst es mit Leichtigkeit. Du bist ein Spieler, ein Charismat, ein Lebensvirtuose. Mit fliegenden Bewegungen baust du und baust du, bist der geborene Architekt. Baust Kuppeln aus Gold. Gold, das bei dem Anblick deines Lächelns zerfließt. So wie ich.
Jeden noch so kleinen Blick von mir bemerkst du. Erwiderst ihn. Spielst mit ihm, nimmst ihn in dir auf - ehe ich schnell wegsehe. Deine Blicke haben eine so deutliche Präsenz. Überschreiten sofort die Komfortzonenbegrenzung. Wie groß ist die Halbwertszeit eines Kartenhauses? Eine Sekunde, eine halbe Sekunde? Ein Fünftel einer Sekunde?
Manchmal, manchmal traue ich mich, nach einem kurzen Moment wieder zu dir zu schauen. Du lächelst. Dein goldschmelzendes Lächeln. Deine Grübchen sind auch aus der Ferne zu sehen. Du bist so schön.
Wie gerne möchte ich dir das sagen. Wie gerne möchte irgendwas sagen. Doch bist du nicht allein. Du sitzt nicht allein wie ich hier in diesem Raum. Deine Freunde sind um dich herum. Ihr lacht, ihr albert herum, ihr lacht so viel. Aus der Ferne daran teilzunehmen reicht mir. Deine Komfortzone ist nicht mein Revier. Ich bleibe auf dem Beobachterposten und warte. Ich bleibe in meiner Zone und du in deiner. Doch reicht es mir? Nein. Nein, ich warte. Warte, auf den richtigen Moment. Den richtigen Moment für die richtige Regung, für die richtige Geste, für das richtige Verziehen des Gesichtes, für das richtige Lächeln - für das richtige Wort.
Aber was ist das richtige Wort? Ich werde zu dir gehen und es sagen. Ich werde am besten Guten Tag sagen. - Nein, nein, viel zu formal, nicht passend.
Hallo. - Nein, zu weit weg, zu viel Abstand.
Hi. - Nein, das ist viel zu nah, viel zu plump.
Was soll ich nur sagen? Hey?
Hey...
Hey ist gut. Nicht formal, nicht zu distanziert, nicht zu aufdringlich und dennoch freundlich, fast freundschaftlich. Einfach nur:
Hey.
Und du wirst sagen: Hey.
Aber dann. Wie soll es dann weitergehen? Das ist nicht richtig. Viel zu kurz. Viel zu wenig Zeit mit dir. Hey alleine reicht nicht. Da muss noch etwas her.
Hey, wie geht es dir? Hey, wie geht's? Hey, alles frisch? Hey, what's up?
Nein, nein, nein. Ich sage hey. Und du sagst hey. Und ich sage wie geht's? Und du sagst gut, und dir? Und so weiter. Und weiter. So.
Weitermachen. Eine weitere Hürde. Ein weiter Weg. Weitergehen. Weitsichtig sein. Weiter warten.
Die Zeit ihren eigenen Lauf lassen. Man kann sie nicht beeinflussen, nur auf sie warten. Sie ist unabhängig, ewig existent, unveränderbar. Sekunden zu Minuten und zu Stunden laufen lassen. Jeden Tag, jede Nacht, jeden Moment. Fünfzig Sekunden, zwölf Minuten, eine halbe Stunde. Tick-tack, tick-tack, tick-tack, tick...
Um dich herum wird es sicherer. Für mich. Deine Freunde gehen nach und nach und nach, das Revier wird kleiner, doch du bist noch da. Du scheinst zu warten. Aber auf was? Auf was wartest du? Du nimmst das Glas und legst es an deine Lippen. Sie sind leicht rosig, weich. Nicht zu weich. Aber auch nicht zu hart. Du trinkst das starke, alkoholisierte, goldfarbende Getränk ohne ein Verziehen deiner Lippen ohne ein Blinzeln ohne ein Kräuseln deiner Nase oder deiner Stirnfalte.
Dein Atem nimmt die Aromen auf, dein Körper nimmt sie auf. Macht sie sich zu eigen. Verschmilzt deine Düfte mit den neuen Düften. Erfindet ein olfaktorisches Meisterwerk. Möchte sie einatmen. Diese herb-süße Note.
Du setzt das leere Glas ab und siehst zu mir rüber. Es fällt mir schwer, deinem Blick stand zu halten. Ich verglühe. Schmelze. Schlucke.
Du stehst auf.
Nein, halt. Nein, geh nicht weg.
Ich muss mich jetzt trauen. Bevor du weg bist. Tick-tack, tick-tack...
Schnell stehe ich auf, stolpere um ein Haar über meine eigenen Füße. Die eigene Komfortzonenbegrenzung zu überschreiten ist schwerer als gedacht. Nicht ablenken lassen. Tick-tack. Die Zeit lässt sich nicht anhalten, wenn ich nicht handel, ist es zu spät. Doch bewege ich mich wie in Zeitlupe. Alles geht so langsam. Ein Schritt, nach dem anderen. Nehme mit der Pinzette eine Karte. Vorsichtg bewege ich sie auf das Kartenhaus zu. Nicht mehr beobachten, handeln. In meinem Kopf gehe ich den Vorgang wie ein Mantra durch. Handeln. Nicht warten. Handeln.
"Hey."
Was? Hey?
Du stehst vor mir. Hast mich angesprochen. Deine Stimme ist so sanft. Eine verführerische Tiefe liegt in ihr. Siehst mich mit diesem Lächeln an. Bist ein kleines Stück größer als ich. Ich schaue zu dir hoch.
Bitte, sag noch etwas. Bitte. Ich will diese Stimme wieder hören. Doch vorher muss ich was sagen. Aber mein Herz schlägt so schnell. Es schnürt mir den Hals zu. Zerreißt mir die Brust. Dieses laute und starke Klopfen. Das Rauschen in meinen Ohren nimmt zu. Meine Wangen werden rot, ich spüre es. Mir ist so heiß. So heiß. Verglühe. Zerglühe. Schmelze. Meine Knie zerfließen. Zerfließen wie Gold bei eintausendsechsundsiebzig Grad.
"Hey."
Bringe ich schließlich heraus. Klingt meine Stimme zittrig? Zu hoch? Zu unsicher? Zu krächzend? Ich versuche, zu lächeln. Spüre die Muskeln um meine Mundwinkel zittern. Schnell, ich muss wegsehen. Ich kann doch so nicht standhalten. Reiß dich zusammen. Los.
Kann meinen Blick nicht von dir losreißen. Egal, wie sehr es mir widerstrebt, noch mehr widerstrebt es mir, mich von dir abzuwenden. Von deinen dunkelblauen Augen. Verliere mich in ihnen. Sie sind wie das Meer. Unergründlich tief. Geheimnisvoll. Und doch ist da etwas.
Etwas, das mich in Sicherheit wiegt. Mich aufnimmt. Auf einmal fühlt sich alles dennoch sicher an. Wie in meiner Komfortzone. Und so sehen wir uns an. Keine falsche Regung.
Kein falsches Wort.
"Wie geht's?"
"Gut. Jetzt."
Tick-tack. Tick-tack. Tick-tack. Die Halbwertszeit ist noch nicht abgelaufen. Die Zeit läuft weiter. Das Haus wird größer. Deine Komfortzone ist nun meine. Und meine deine.
Aus der Nähe betrachtet.
Aus der Nähe betrachtet, sage ich, ist alles schöner.