Grübelnd saß Igor auf den Ledersitzen des großen Flughafens. Er hatte seine langen Beine übereinander geschlagen und den Arm nach hinten auf die Lehne gelegt, als würde er zu Hause vor dem Fernseher sitzen. Tatsächlich hing ein monströser Flachbildfernseher in der Wartehalle. Aktuelle Nachrichten zeigten Aktienkurse, irgendwelche Erdbeben und Anschläge quer über den Globus verteilt.
Es war nicht gesund, so viel Zeit zu haben. Zeit zum Nachdenken. Igor fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, dann durch das Haar. Plötzlich schaltete das Bild auf dem Schirm um und jemand drehte die Lautstärke auf.
Als Igor seinen Namen aus den Boxen hallen hörte, blickte er auf. Bilder vom gestrigen Spiel wurden eingeblendet. Seine Niederlage. Der Sender erlaubte sich die ungemeine Frechheit seine Fehlschüsse in Zeitlupe einzublenden, damit niemanden etwas entging. Es wurde aber noch schlimmer. Beschämt legte Igor sich die Hand auf die Stirn und bedeckte seine Augen.
Nicht viele Gäste saßen im Warteraum, doch die wenigen reichten vollkommen aus. Denn als Nächstes zeigte der Sender, was vor dem Spiel gelaufen war. Wie Igor tagsüber betrunken durch die Straßen und in einen Club torkelte. In Begleitung einiger knapp bekleideter Frauen. Die Sprecher amüsierten sich köstlich über seine Eskapaden.
„Konstantin, siehst du das? Und das vor dem entscheidenden Spiel. Stockbesoffen. In Gesellschaft zweifelhafter Frauen. Nicht zu fassen.“
„Na, immerhin waren die Damen attraktiv. Hübsch gekleidet, wenn du verstehst, was ich meine“, kicherte der Zweite und krümmte sich über den Tisch. Wie vulgär, dachte Igor sich. „Aber ich will hier nichts behaupten.“
„Hübsch und unmoralisch“, bekräftigte der andere.
Igor versank tiefer in den Ledersitzen. Nervös flogen seine Augen zwischen den wartenden Passagieren hin und her. Erneut drehte jemand die Lautstärke auf, sodass das höhnische Gelächter der Nachrichtensprecher grotesk von den Wänden widerhallte.
Verwirrt blickte der Brünette sich um. Sashas frecher Blick traf ihn wie ein Blitz. Dreist spielte er mit der Fernbedienung in seiner Hand. Zusammen mit seiner Kollegin Masha saß er in einem für die Mitarbeiter vorbehaltenen Golfcart.
Wütend starte Igor den Flughafenangestellten nieder, während sich jetzt nicht nur die Sprecher im Fernseher das Maul über ihn zerrissen. Das reichte. Frustriert griff er nach seiner Reisetasche und sprang auf. Bloß weg.
Ohne Sasha oder Masha eines zweiten Blickes zu würdigen, wollte Igor abhauen, doch ein Junge hielt ihn auf.
„Kann ich ein Foto mit dir machen?“, fragte der Kleine und rannte begeistert auf den Star zu.
Genervt seufzte Igor aus. Ihm war nicht danach, aber einem Fan sagte man nicht nein. Immerhin existierten sie noch. Er hatte im Grunde keine Wahl, wenn alle Augenpaare auf ihm lagen. Also nickte er.
Ein hörbares Schnauben zwang Igor dazu aufzublicken.
„Hey, Kleiner. Willst du dich auch mit mir fotografieren?“, rief Sasha.
„Warum? Bist du auch ein Fußballer?“, grinste der Junge über beide Ohren, in Vorfreude gleich zwei Volltreffer gelandet zu haben.
„Wenn der ein Fußballer ist, dann bin ich‘s auch. Immerhin krieg ich ein paar Tore geschossen.“
Igor verdrehte die Augen und machte das er wegkam. Das Gelächter verfolgte ihn selbst, als er aus Sashas Sichtfeld verschwunden war.
Ruhe kehrte ein. Das Licht war gedämpft und tauchte die Wartehalle in sanftes gelbes Grau. Die Deckenbeleuchtung spiegelte sich in der glatten Fußbodenoberfläche wieder, die jemand vor einer Stunde mit einem Fahrzeug gereinigt hatte.
Wie ein Tiger im Käfig lief Igor unruhig hin und her. Seine Schritte hallten gespenstisch von den Wänden wieder. Er war ganz allein. Die letzten Passagiere waren vor einer Weile abgeflogen.
Als hinge sein Leben davon ab, presste er das Handy fest an sein Ohr.
„Verspätet?“, fragte sein Manager am anderen Ende der Leitung.
„Ja, ich habe mich verspätet. Hab den Flug verpasst. Wie viel mal soll ich das noch wiederholen?“
„Warum rufst du dann erst jetzt an?“
Igor seufzte. Darauf hatte er keine Antwort. Weil es anstrengend war. Und er keine Lust hatte alles zu erklären. Und jetzt tat er es doch.
„Entschuldige“, sagte der Mann, als Igor seine Frage unbeantwortet ließ, „ich dachte bloß, du bist extra früh los. Was hast du denn die ganze Zeit getrieben?“
Seit Stunden steckte Igor auf dem Flughafen fest und langsam fiel ihm die Decke auf den Kopf. Gerne hätte er einen ordentlichen Drink zu sich genommen. Aber das würde seine Probleme nicht mindern. Vielleicht verschlimmern. Ganz sicher sogar, wenn er dieser unglaublichen Nervensäge begegnete.
„Hör mal, Peter“, erneut ignorierte Igor die Frage. „Hat sich Camilla gemeldet?“
Die Antwort am anderen Ende der Leitung machte ihn nicht glücklich. Er verzog das Gesicht zu einer leidvollen Grimasse. Automatisch sackte sein Körper noch ein wenig mehr in sich zusammen.
„Und“, sagte Igor leise, „hast du ihr gesagt, dass ich sie trotzdem liebe? Dass ich mir Sorgen-.“
„Ich hab es ihr gesagt.“
„Was hat sie gesagt?“
Bevor ihm sein Manager darauf antworten konnte, unterbrach ein bekannter Piepton ihre Unterhaltung. Leere Batterie. Warnend blinkte das Symbol rot auf seinem Display.
„Nein, nein, nein“, fluchte der Fußballer leise und streckte das Handy von sich, als wollte er es anflehen, den Tag nicht noch unerträglicher für ihn zu machen. Selbstverständlich wurden seine Bitten nicht erhört.
Während Igor in seiner Tasche nach dem Ladegerät wühlte, fuhr erneut ein Putzfahrzeug an ihm vorbei. Wenigstens darin hatte Sasha recht gehabt. Es wurde häufiger geputzt als in jedem Hotel. Igors Flüche wurden lauter. Warum kam ihm ständig dieser Idiot in den Kopf.
Mit einem leisen Aufschrei griff er sich ins Haar. Es war zum verrückt werden. Er musste wissen, was Camilla gesagt hatte. Aber sein verdammtes Ladegerät war ohne ihn nach Amerika geflogen.
Was sollte er tun? Er brauchte eine Lösung. Dringend. Seine Beine fühlten sich ganz weich an, wie Wackelpudding. Aber Jammern half ihm nicht weiter. Igor hängte sich seine Tasche um und begab sich auf die Suche. Nach Sasha.
Er musste nicht lange nach dem Blonden suchen. In einem angrenzenden Wartebereich saß Sasha auf den Sitzbänken, eine PSP in der Hand. Den Mund leicht geöffnet, konzentrierte er sich hingebungsvoll auf sein Spiel. Selbst als Igor sich mehrmals räusperte, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, reagierte Sasha nicht.
Verzweifelt starrte Igor zur Decke, dann zu Boden. Ihm war es sichtlich unangenehm Sasha um Hilfe zu bitten. Doch die Angst vor einer bösen Überraschung daheim half ihm über sein angekratztes Ego hinweg.
„Du hättest nicht zufällig ein Akkuladegerät für ein Handy?“, fragte er, dann räusperte er sich wieder und seine Stimme klang um einige Nuancen höher. „Für mich?“
„Oh“, sagte Sasha und ein Grinsen formierte sich auf seinen Lippen.
„Du kommst gerade rechtzeitig. Ich habe grad die Fußballliga gewonnen.“
Igor schwieg. Er ertrug die Demütigung mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte. Wen wunderte es, dass Sasha wieder eine fiese Bemerkung über Fußball parat hatte. Der Brünette wartete still ab.
Verwundert linste Sasha über den Rand des kleinen Bildschirms. Dann stand er auf und zeigte damit auf Igors Brust. Fast berühre das kleine Elektrogerät dessen Oberkörper. Offensichtlich war ihm die Unterwürfigkeit seines Gegenübers nicht entgangen.
„Du kannst es doch, wenn du willst“, sagte Sasha und suchte den Augenkontakt, den Igor ihm verwehrte.
„Ich muss dringend jemanden anrufen“, erklärte Igor kleinlaut.
„Also, wenn es so dringend ist, dann hier.“ Ohne nachzudenken zog Sasha sein Handy aus der Hosentasche und reichte es dem Brünetten. Instinktiv spürte er den Ernst der Lage. „Nimm meins.“
Igor wunderte sich darüber, dass kein schlauer Spruch folgte, mit dem er fest gerechnet hatte. Der Blonde musterte ihn, als Igor das Gesicht verzog, nicht aber nach dem Handy griff, das vor seiner Nase in der Luft schwebte. Sasha war recht groß, doch Igor überragte ihn um fast einen halben Kopf. Er konnte auf ihn herabsehen. Wenn es nur physisch wäre. Allerdings war ihm der Blonde weit überlegen.
„Ich muss ins Ausland telefonieren“, sagte Igor. „USA, um genau zu sein.“
Sofort zog Sasha sein Handy zurück, als würde ihn Igor gleich beißen.
„Könnte teuer werden.“
„Vermutlich.“
„Gut, dann suchen wir lieber“, schlug Sasha vor.
Wortlos folgte Igor dem Flugangestellten wie ein hungriger Straßenhund, nach einem Happen lechzend.