Es war ein lauer Spätsommerabend, die Sonne ging gerade unter und warf lange, dunkle Schatten auf die Terrasse. Die gemütliche Blockhütte aus massivem Holz erstrahlte vom Schein beleuchtet in sämtlichen Gelb- und Brauntönen, die die Natur zu bieten hat, und inmitten der umgebenden Weiden und Wiesen, durch deren saftig grünes Gras seichte Brisen des Abendwindes säuselten, sah sie aus, als wäre sie geradewegs dem Pinsel eines talentierten Malers entsprungen.
Ein älteres Paar saß in Lehnstühlen davor. Der Mann paffte eine Naturkrautpfeife und schnitzte, während die Frau den Kindern – ein Junge und ein Mädchen, die so vertieft in ihr Rätselspiel waren, dass sie das farbenprächtige Naturschauspiel des Tagesendes gar nicht wahrnahmen – zusah und gelegentlich ein paar kleine Hinweise und Tipps einwarf, um ihnen zu helfen. Seit mehreren Stunden spielten die Kinder nun schon mit einer Ausdauer, die die alte Dame lächeln ließ.
„Hey, wo ist denn die Sonne hin?“, bemerkte das Mädchen plötzlich die schwindende Helligkeit.
„Endlich untergegangen“, entgegnete ihr Bruder trocken.
„Aber gestern war sie doch jetzt noch da“, bemerkte die Kleine mit quengelndem Unterton und versuchte, die letzten warmen Sonnenstrahlen zu erhaschen. „Und als wir mit Großmutter und Großvater am großen Wasser waren, hat sie sogar noch geschienen, als wir schlafen sollten.“
„Der Herbst kündigt sich an, Liebes“, warf die alte Frau ein. „Die Tage werden kürzer. Schau dort, der Mond geht schon langsam auf.“
Schmollend zog ihre Enkelin daraufhin die Mundwinkel nach unten.
„Ich mag den Mond nicht.“
„Ich aber. Da ist es wenigstens nicht so heiß“, widersprach ihr der Junge.
Im Gegensatz zu seiner Schwester fühlte er sich in der Kühle der Schatten wohler als im prallen Sonnenschein. Die Mittagszeit verbrachte er oft ganz im Haus, verließ es nur selten und nie ohne Kappe und Sichtschutz. In den Abendstunden allerdings blühte der Kleine richtig auf, erwachte förmlich zum Leben.
„Mir ist kalt“, jammerte das Mädchen.
„Mimose“, stichelte ihr Bruder.
„Ich will die Sonne wieder, die ist viel schöner.“
„Ist sie nicht.“
„Doch! Wenn die Sonne scheint, ist es schön warm, alles blüht und den Tieren geht es gut. Alles ist bunt, man kann viel draußen spielen und außerdem ist sie viel wichtiger als dein doofer Mond!“
„Stimmt nicht! Nachts ist es viel besser, alles ist schön ruhig, kein Lärm, keine Hitze. Die Natur kann sich erholen und heilen, was deine blöde Sonne kaputtgemacht hat. Und nur damit du’s weißt, der Mond ist wichtig zum Leben!“
Mit verschränkten Armen schaute der wenig ältere Junge seine gut einen Kopf kleinere Schwester an, die ihm aber trotzig die Stirn bot.
„Gar nicht wahr! Niemand braucht den Mond, die Sonne schenkt Leben. Hast du beim Naturunterricht nicht aufgepasst?“
„Die lügen doch“, murrte der Junge.
„Da sagst du nur, weil du weißt, dass ich Recht habe. Außer meinem komischen Bruder mag niemand den Mond!“
„Stimmt nicht. Großmutter mag ihn und Großvater auch.“
„Lügner! Sie mögen die Sonne. Großmutter hat es mir selber gesagt.“
„Hört doch auf zu zanken Kinder.“
Die alte Frau war aufgestanden und trat langsam an die Streithähne heran.
„Ihr habt beide Recht und auch wieder nicht“, lächelte sie.
Verwirrt sahen sich die Kleinen an.
„Wie meinst du das, Großmutter?“, fragte der Junge zuerst.
„Nun, es stimmt. Sie sind beide wunderschön, vor allem, wenn sie – wie jetzt – aufeinandertreffen. Doch wenn ihr glaubt, wir könnten ohne einen von ihnen existieren, dann irrt ihr. Sonne und Mond – sie beide sind wichtig zum Leben. Und wer von ihnen wichtiger oder schöner ist, vermag kein Mensch zu beurteilen.“
„Doch ich!“, warf das Mädchen kess ein.
Die Worte ihrer Großmutter stellte keines der Kinder zufrieden und beide beharrten auch weiterhin auf ihrem Standpunkt.
„Die Sonne ist tausend-millionen-unendlich viel Mal schöner als der blöde, graue Mond.“
„Nein! – Doch! – Nein! – Doch!“
„Der Mond! – Die Sonne! – Mond! – Sonne! – Mond!! – Du bist doof!“
Unbeachtet des Disputes seiner Enkel paffte der alte Mann seine Kräuterpfeife seelenruhig zu Ende und blickte verträumt zum Horizont. Es war nun schon so viele Jahre her. So vieles hatte sich in den letzten zwei Generationen verändert, und doch waren die beiden Kinder in diesem Punkt so verschieden. Langsam stand er auf, nahm seinen Gehstock von der Wand und ging ins Innere der Hütte.
„Warum erzählst du ihnen nicht die Geschichte? Ich kümmere mich derweil ums Essen“, raunte er seiner Frau im Vorbeigehen leise, aber doch so laut, dass seine Enkel es hören konnten, zu.
„Eine Geschichte? – Was für eine Geschichte?“
Beide Kinder sahen sie mit großen Augen erwartungsvoll an. Die Aussicht auf eine der spannenden Erzählungen ihrer Großmutter über Dinge aus längst vergangenen Tagen ließ sie ihren Streit auf der Stelle vergessen.
„Eine Geschichte über die Sonne und den Mond“, antwortete die alte Dame.
Lächelnd setzte sie sich wieder in ihren Lehnstuhl zurück, schlug eine sommerliche Decke über die Knie und wartete, bis es sich die Kinder ihr zu Füßen auf Kissen bequem gemacht hatten.
„Es ist nicht wirklich eine Geschichte, vielmehr ist das, was ich euch erzählen möchte, wirklich geschehen. Nicht viele Menschen wissen heute noch davon, doch ich denke, es ist an der Zeit, dass ihr es erfahrt. Also passt gut auf.“
Die alte Frau wusste, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Enkel gewonnen hatte und mit einem Blick zum Horizont begann sie mit fester Stimme zu erzählen.
„Vor langer, langer Zeit – viele, viele Jahre bevor ihr geboren wurdet – sah unsere Welt anders aus, als wir sie jetzt kennen. Nur noch wenige der alten Schriften existieren heute noch. Viele gingen mit der Zeit verloren, doch die, welche noch erhalten sind, berichten von drei goldenen Kugeln des Tages …“
„Drei Sonnen!“, warf das Mädchen entzückt ein.
„… und drei silbernen Kugeln des Nachts.“
„Drei Monde … toll“, murmelte der Junge.
„Damals lebten die Menschen in größeren Sippen, so genannten Clans. Einige zogen in weiten Gebieten umher, andere ließen sich an einem bestimmten Ort nieder. Eigentlich waren diese Clans Menschen wie ihr und ich, doch gab es einige wenige, die eine besondere Gabe hatten.“
„Sie konnten zaubern?“
Die Augen des kleinen Mädchens wurden größer und strahlten. Sie war sehr fantasievoll und glaubte nur zu gern an besondere, außergewöhnliche Dinge.
„Nein, keine Zauberer, Liebes. Obwohl man eine gewisse Art von Magie nicht leugnen kann. Es waren vielmehr …“
Der Blick der Großmutter schweifte über die Hügel und Baumgruppen zur matten Mondscheibe, die sich langsam über die Wiesen schob, während sie nachdenklich summte und nach den richtigen Worten suchte.