1 Causa (Ursache, Grund)
Lagerstadt Victoria, in der Nähe von Parma, Italien
An einem Februarmorgen des Jahres 1248, kurz vor Sonnenaufgang, begann das Töten.
Im Westen der Po-Ebene war der Himmel noch dunkel, doch im Osten glühte er bereits orange und violett. Die Nacht wich langsam aus den Straßen der kaiserlichen Stadt Victoria zurück, wie eine geschlagene Streitmacht, während das erste Licht des Tages über die Dächer kroch. Die Zinnen der hölzernen Wehrmauer standen als schwarze Umrisse vor dem flammenden Horizont.
Drei in dunkles Tuch gekleidete Gestalten schlichen verstohlen durch die Gassen und näherten sich einem der Stadttore. Lautlos meuchelten sie die Torwächter, wischten ihre Dolche ab und öffneten die Mannpforte neben dem Tor. Mehr und mehr Finsterlinge sickerten in die Stadt, huschten zu den Stadttoren und begannen ihr Vernichtungswerk. Nur wenige Herzschläge später brach die Hölle los.
Der Besatzung von Victoria blieb keine Zeit, um sich auf den Angriff vorzubereiten. Ein Gutteil der Männer wurde vom Dröhnen der Sturmglocke aus weinseligem Schlummer gerissen. Schlaftrunken griffen sie nach ihren Waffen und stolperten halb bekleidet auf die Straßen. Andere wiederum hielten den Alarm für eine Übung und verabschiedeten sich erst umständlich von ihren Dirnen, bevor sie ihren Kameraden zur Hilfe eilten. Doch da war es schon zu spät. Der Ansturm der Soldaten und Bürger aus Parma kannte kein Zögern und überrollte die Stadt Kaiser Federicos mit der Wucht einer Lawine.
In seinem Versteck verzog Rafael höhnisch die Lippen, während er sich auf dem Marktplatz umsah, der sich so unerwartet in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Wenigstens brauchte er sich dieses Mal keine Gedanken zu machen, wo er die Leiche verstecken sollte. Ein Toter mehr oder weniger fiel in diesem Gedränge nicht auf. So weit das Auge reichte, waren Ritter und Soldaten in erbitterte Zweikämpfe verwickelt und stolperten über die reglosen Leiber der ersten Gefallenen.
Harun stieß ihm das stumpfe Ende seines Wurfspießes in den Rücken. »Warum bleibst du stehen, Wurm?«, rief er über das Waffenklirren hinweg. »Vorwärts, geh weiter.«
Rafael fuhr mit einem so wilden Blick zu seinem Herrn herum, dass dieser unwillkürlich zurückwich.
Haruns Überraschung hielt jedoch nicht lange an. Er versetzte Rafael einen heftigen Stoß mit dem Spieß und sichelte ihm gleichzeitig mit einem Fußtritt die Beine weg. Rafael schlug schwer auf dem Boden auf.
»Du willst dich mit mir anlegen, du elendes Stück Dreck?«, spottete Harun. »Nur zu! Nichts bereitet mir mehr Freude, als dir eine Lektion in Demut zu erteilen.«
Rafael lag bäuchlings im Staub. Seine Rippen schmerzten und er konnte spüren, wie sein Herz wild in seiner Brust zu trommeln begann. Wenn er doch nur … Aber dann presste er die Kinnladen zusammen und würgte seinen Zorn hinunter. Demütig kroch er vorwärts und berührte mit der Stirn Haruns Schuhspitzen. Die vergangenen fünf Jahre hatten ihn schmerzhaft gelehrt, dass ein Sklave keine Würde mehr besaß und keinen eigenen Willen. Für ihn gab es keine Gerechtigkeit, niemanden, bei dem er sich beschweren konnte, keine Hilfe. Es gab nur Erniedrigung, Knechtschaft des Körpers und des Geistes, Unterjochung und Scham.»Nun mach schon. Hoch mit dir!« Sein Herr versetzte ihm einen aufmunternden Fußtritt. Rafael erhob sich eilig und nahm Dolch und Wurfmesser entgegen, die sein Herr ihm reichte. »Du weißt, was der Scheich von dir erwartet.«
Oh ja, das wusste er. Rafael verstaute die Waffen in seinem Gürtel. Seine Hände waren die eines Jungen, und trotzdem hatte er solche Taten damit begangen, dass keine Buße seine Seele noch vor der Hölle bewahren konnte. Eigentlich hätte ihm das etwas ausmachen müssen. Aber das tat es nicht.
»Töte den Herzog«, befahl Harun, »und du erhältst eine Woche lang Essensreste vom Tisch des Scheichs.«
Rafael starrte seinen Peiniger ungläubig an. Sich sieben Tage lang nicht mit den Ratten um die mageren Küchenabfälle balgen zu müssen, die man ihm für gewöhnlich zugestand, erschien ihm wie das Paradies auf Erden. Der Herzog musste ein wahrhaft gefürchteter Mann sein, wenn sein Tod eine Belohnung dieser Größe rechtfertigte. Harun wusste genau, dass er alles dafür tun würde, um sie sich zu verdienen.
Entschlossen wandte Rafael sich wieder seinen Beobachtungen zu. Hörner wurden geblasen. Gruppen von Feldkämpfern und Sarazenenkriegern in den kaiserlichen Farben kreuzten sein Blickfeld. Sie alle liefen zielstrebig zum Palast und Rafael schloss sich ihnen an. Wenn er Glück hatte, führten ihn die Sarazenen direkt zu seinem Opfer.
Der Palast war so groß und prunkvoll, dass Rafael einen Augenblick zu träumen glaubte. Doch die Zerstörung war echt. Alle Türen waren aufgebrochen und hingen zersplittert in ihren Angeln. Polternder Lärm verriet, wo die Plünderung noch in vollem Gange war. Die Sarazenen hielten eine kurze Beratung ab, teilten sich in zwei Gruppen und hasteten in verschiedene Richtungen davon.
Rafael zögerte. Welcher Gruppe sollte er folgen? Der Herzog gehörte zu den engsten Gefolgsmännern des Kaisers. Welche Aufgabe würde ihm bei der Verteidigung der Stadt zufallen?
Die Schatzkammer, schoss es ihm durch den Kopf. Der Palast war verloren und nun galt es für die Kaiserlichen, wenigstens den Kronschatz in Sicherheit zu bringen.
Sein Blick erfasste eine plötzliche Bewegung und er riss den Kopf herum. Geschosse mit brennendem Pech prasselten auf die Straße nieder. Rafael spürte den Luftzug an seinem Gesicht und hörte das seufzende Zischen des Schaftes, als ein Pfeil dicht an ihm vorbei surrte. Nicht stehen bleiben!
Er wandte sich um und rannte los. In der Schatzkammer schlug ihm Grölen entgegen. Junge Parmenser durchwühlten die Räume, rafften Prunkgewänder, Goldschmuck und Zierrat zusammen.
»Verschwinde! Wir waren zuerst hier!«
Rafaels Enttäuschung schlug um in Wut. Er hatte fest darauf gebaut den Herzog dort zu finden, wo das Kampfgetümmel am dichtesten war. Nun schwand seine Hoffnung dahin und er überlegte fieberhaft, was er tun sollte.
Inzwischen stand beinahe die halbe Stadt in Flammen. Die Luft war von Rauch und Hitze erfüllt und schmerzte in seinen Lungen. Schwerfälliger als zuvor setzte er sich in Bewegung und trabte eine Gasse mit dicht beieinanderstehenden Häusern entlang.
Plünderer warfen unbrauchbaren Hausrat aus den Fenstern auf die Straße, und etwas schlug wie ein gigantischer Hammer gegen seine Beine. Er fiel vornüber, kam, durch die Wucht des Aufpralls weitergerissen, noch einmal auf die Füße und stürzte ein zweites Mal. Sein Kopf schlug gegen etwas Hartes und alles wurde dunkel.
Als Rafael aus seiner Ohnmacht erwachte, lag er bäuchlings im stinkenden Morast einer Gosse und hatte Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden. Von allen Seiten drangen Geräusche auf ihn ein; kreischende Stimmen, Gelächter, splitterndes Holz. Das dröhnende Sturmgeläut der Kirchenglocken quälte sein Trommelfell. Trotzdem war es immer noch besser, als die Schreie der Verletzten und Sterbenden, die durch die Straßen gellten.
Du schaffst es nicht. Du bist so gut wie tot. Du fährst mit uns zur Hölle.
Rafael blendete das Läuten und die Schreie in seinem Kopf aus. Er konnte sich noch immer die Belohnung verdienen, wenn er nur wollte.
Und er wollte!
Mühsam richtete er sich auf Hände und Knie auf und kroch auf den nächsten dunklen Hauseingang zu. Seine Glieder fühlten sich seltsam an – taub und gleichzeitig leicht und er zitterte vor Überanstrengung und Müdigkeit.
Wahrscheinlich bemerkte er deshalb die vier Kriegsknechte in abgerissenen Lederharnischen erst dann, als sie sein Versteck schon eingekreist hatten.
Dem Ersten schleuderte er sein Wurfmesser entgegen und zerfetzte ihm mit einem tödlichen Treffer die Kehle.
Aber da er nicht genug Fleisch auf den Knochen und zu wenig Kraft in seinem mageren Körper hatte, war es den drei verbleibenden Männern ein Leichtes, ihn zu überwältigen.
Innerhalb kürzester Zeit hing er mit dem Kopf nach unten über einem halbhohen Mauervorsprung. Seine Arme wurden von je einem Mann festgehalten, während der Dritte mit der flachen Hand auf seinen Hintern klatschte, spielerische Klapse, die dennoch in Rafaels Ohren widerhallten wie Donner.
»Sieh einer an, was haben wir denn da für ein Vögelchen?«, sagte der Mann, der seinen linken Arm festhielt. »Was meinst du, Tadeo, ist so ein hübsches Kerlchen nicht genauso gut wie die Kaiserhuren, die sie uns weggenommen haben?«
»Na und ob!« Die Männer brachen in grölendes Gelächter aus.
Rafael stieß einen animalischen Laut voller Wildheit und Zorn aus und begann, sich wie eine in die Ecke gedrängte Wildkatze zu wehren. Trotzdem spürte er, wie Tadeo ihm die Lumpen vom Körper riss, schwielige Hände gierig über seine nackte Haut strichen. Er wusste, was passieren würde. Wenn er nur ein bisschen mehr Kraft gehabt hätte…
Aber so gab es kein Entkommen. Seine Schreie würden ungehört verhallen, Rufe um Hilfe unbeachtet bleiben. Niemand würde zuhören. Niemand würde es kümmern.
Der Mann zu seiner Rechten kicherte. »Nun mach schon, Tadeo!«, drängte er. »Wir wolln auch mal drankommen.«
Tadeo warf seinen Leibriemen auf den Boden und ließ Beinlinge und Bruche fallen, sein Atem ging in schweren Stößen, Schweiß lief von seiner Stirn. Seine Hand sauste noch einmal klatschend auf Rafaels Hinterteil nieder, bevor er mit einem einzigen, harten Stoß in ihn eindrang.
Rafael blieb stumm. Doch etwas Dunkles, Schweres, Brodelndes schien aus den Tiefen seiner Seele emporzuschießen, seine Gedanken hinwegzufegen und ihn mit Kraft zu erfüllen. Der Schmerz erlosch, verschwand und wurde von etwas Neuem, Fremden und Bösen abgelöst. Mit einem gellenden Schrei bäumte er sich auf und versuchte seinen Peiniger abzuschütteln.
Tadeo versetzte ihm einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und steigerte das Tempo seiner Bewegungen. Bei jedem schmerzhaften Stoß schrammte Rafaels nackter Bauch über die raue Kante der Mauer, bis er das Gefühl hatte, sein ganzer Körper stünde in Flammen. Schweiß lief ihm in die Augen. Ihm wurde schwindelig. Dunkelheit griff nach ihm. Rafael war es recht.
Ein Kampfschrei ertönte, begleitet vom Geräusch donnernder Hufe. Einer der Kriegsknechte stieß einen Warnruf aus und ließ hastig Rafaels Arm los. Seine Hand fuhr an den Griff seiner Waffe. Tadeo grunzte, zog sich hastig zurück und riss sein Schwert aus der Scheide.
Ein dunkler Schatten glitt über die Gruppe hinweg. Der dritte Mann griff ebenfalls nach seiner Waffe und Rafael war plötzlich frei. Er wälzte sich von der Mauer und ließ sich in den Staub fallen, wo er keuchend nach Atem rang.
Wütende Schreie erfüllten die Luft. Rafael sah einen Mann in der grünen Kluft eines Jägers vom Pferd springen, das Schwert in der Hand. Das gut trainierte Tier trabte noch aus der Gefahrenzone, bevor es stehen blieb und seinem Herrn einen Blick zuwarf.
Benommen starrte Rafael den fremden Mann an. Wo kam dieser so plötzlich her? Und was noch viel wichtiger war – auf wessen Seite stand er?
Tadeo riss seine Waffe hoch, aber er war zu langsam. Der Jäger legte die linke Hand hinter der Rechten ans Heft und schwang die Klinge. Es war eine einzige fließende Bewegung – so schnell, dass Rafaels Blick ihr kaum zu folgen vermochte. Alles, was er sah, war das Blitzen von Stahl. Im nächsten Moment flog der Kopf Tadeos mit einigem Schwung nach links und landete auf der Erde, wo er holpernd weiterrollte, bis er mit einem unangenehmen »Plock« an eine Hauswand stieß und liegen blieb. Rafael starrte entgeistert auf seinen kopflosen Peiniger, dessen Leib blutüberströmt im Staub lag – der Arm mit dem Schwert immer noch drohend erhoben.
Die beiden anderen Fußknechte erwachten mit einem Ruck aus ihrer Erstarrung, tauschten einen Blick und griffen den Jäger von zwei Seiten gleichzeitig an. Rafael reagierte, ohne zu denken. Er robbte vorwärts, umklammerte die Beine eines Knechtes und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Neben ihm wich der Jäger mit einem tollkühnen Satz der Waffe des dritten Angreifers aus und ließ gleichzeitig sein Schwert auf Rafaels Gegner niedersausen.
Funken stoben, als die Klinge gegen die Metallbeschläge seines Lederharnischs prallte. Der Getroffene schrie auf, ließ seine Waffe fallen und ging in die Knie. Rafael sprang auf seinen Rücken und umklammerte mit dem rechten Arm seinen Hals, während seine Linke nach dem Dolch am Gürtel des Mannes tastete. Der Fremde konzentrierte sich ganz auf den dritten Fußknecht und durchbohrte ihn im gleichen Augenblick mit dem Schwert, in dem auch Rafael den Dolch in den Hals seines Gegners stieß. Er drehte die Klinge, schlitzte die Kehle auf und durchtrennte die Hauptschlagader. Der Mann starb auf den Knien.
Für einen langen Augenblick starrten der magere, mit Schrammen übersäte Junge und sein Retter sich über die Leichen der Männer hinweg an.
Rafael wusste nicht genau, was er von dem Mann halten sollte. Er trug die einfache Kleidung eines Jägers, aber sein Schwert war kostbar. Und er wusste besser damit umzugehen, als man es von einem einfachen Waidmann erwarten durfte. Der Jäger stieß einen lauten Pfiff aus. Der Rappe trabte heran und sein Besitzer schwang sich in den Sattel. In diesem Moment entdeckte Rafael das Wappen. Erregung packte ihn. Sein Retter war der Herzog, den er töten sollte!
Los jetzt! Eine Woche lang anständiges Essen! So leicht kannst du es dir nie mehr verdienen!
Mit einem verzweifelten Satz schwang er sich hinter dem Reiter aufs Pferd und presste ihm die Klinge seines Dolches an die Kehle. »Eine falsche Bewegung und du stirbst.«
Der Rappe tänzelte nervös, aber Rafael ließ sich davon nicht beirren. Der Herzog dagegen wirkte wie erstarrt. »Was willst du?«, fragte er gepresst.
Rafael zögerte. Eine berauschende Idee formte sich in seinem Kopf. Dieser Mann war mächtig genug, um seinem Herrn Furcht einzuflößen. Vielleicht konnte er ihm helfen, der Sklaverei zu entkommen.
»Freiheit«, sagte Rafael.
»Freiheit?«
»Ja. Wenn du mir hilfst, sie zu erlangen, werde ich dir treu dienen bis in den Tod.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann töte ich dich und stehle dein Pferd.«
»Meine Männer werden dich ergreifen und dich umbringen.«
Langsam schüttelte Rafael den Kopf. »Sie werden mich nicht fangen.«
Jetzt lachte der Mann kurz und trocken: »Junge, du weißt nicht, mit wem du dich anlegst.«
Im nächsten Moment schoss stechender Schmerz durch Rafaels Handgelenk. Sein Dolch flog in hohem Bogen davon und er landete unsanft auf dem Boden. Verblüfft starrte er Pferd und Reiter an. Er hätte schwören können, dass sich die Vorderhufe des Rappen eben noch in der Luft befunden hatten. Aber nun stand er da, ließ den Kopf hängen wie ein müder Karrengaul und sah aus, als könne ihn kein Wässerchen trüben.
Der Herzog musterte ihn unter zusammengezogenen Brauen und in seinem Blick lag eine Härte, die zuvor noch nicht da gewesen war. »Steh auf«, befahl er.
Unsicher kam Rafael auf die Füße. Er begriff noch immer nicht so recht, wie es diesem Fremden gelungen war, ihn derart zu übertölpeln.
»Du bist dünn wie eine Weidenrute, Junge. Kommst du aus Parma?«
»Nein. Ich bin …« Rafael verstummte. Die Haut an seinem Hals war gerötet, wund gescheuert und blutig und verriet deutlicher als jedes Wort, dass er für gewöhnlich einen eisernen Sklavenring trug.
Der Reiter sah ihn wortlos an. Aber die Schärfe in seinem Blick war einem Schmerz gewichen, den Rafael nicht zu deuten wusste.
»Ich kann dir helfen, die Stadt zu verlassen«, sagte der Herzog. »Aber für deine Dienste habe ich keine Verwendung.«
Rafael kämpfte zähneknirschend gegen das Aufwallen hilfloser Wut an, das diese Worte in ihm auslösten. Aus der Stadt zu entkommen, war nicht genug. Harun würde ihn finden. Er fand ihn jedes Mal, wenn er floh und dann…
»Ich werde sein, was immer mein Herr wünscht.« Rafael brachte die Worte über seine steifen Lippen, selbst überrascht, wie leicht sie ihm fielen, wie einfach er die letzten Fetzen seines Stolzes abzuschütteln vermochte. »Ich werde tun, was immer mein Herr von mir verlangt.«
»Hast du keine Familie, zu der ich dich bringen könnte?«
Rafael schüttelte den Kopf, obwohl es gelogen war. Aber sein eigener Vater hatte ihn an Harun verkauft und er wollte nie mehr im Leben etwas mit dem Mann zu tun haben.
Der Herzog seufzte. »Du versuchst besser nicht noch einmal, mich umzubringen.«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Gut denn«, sagte der Reiter und streckte ihm die Hand entgegen. »Steig auf. Ich bringe dich erst einmal von hier fort. Vielleicht können sie am kaiserlichen Hof etwas mit dir anfangen.«
Rafael wagte kaum, zu atmen. Mit wild pochendem Herzen ergriff er die dargebotene Hand und ließ sich auf das Pferd heben. Freiheit, dachte er benommen. Der vage, flüchtige Traum dieses Wortes hatte ihn zu jeder Stunde seiner Gefangenschaft verfolgt. Jetzt hielt seine Zukunft auf einmal wieder Möglichkeiten und Aussichten bereit, die über den einfachen Wunsch hinausgingen, nicht bei einem seiner Aufträge getötet zu werden. Die Erkenntnis traf ihn mit zu Kopfe steigender Macht.
Ja, dieses Mal würde er seine Freiheit finden.
Und nicht einmal der Teufel persönlich sollte versuchen, ihn daran zu hindern.
Rodéna, Sizilien, drei Monate später
Roana Isabella von Morra! Himmel, Herrgott! Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«
Gandar von Rodéna starrte entgeistert seine knapp dreizehnjährige Nichte an, die ihn gerade mit der Rücksichtslosigkeit und Gewandtheit eines erfahrenen Straßenräubers entwaffnet hatte. »Das war gegen alle Regeln!«
»Oh«, machte Roana. »Immer, wenn du verlierst, berufst du dich auf irgendwelche unsinnigen Regeln, mein Herr. Freut es dich nicht, dass ich inzwischen mit dem Dolch wirklich gut bin? Dass mir die Männer endlich den Respekt zollen, den sie mir schuldig sind?«
Gandar wischte sich mit dem Ärmel seiner gepolsterten Schutzkleidung den Schweiß von der Stirn. »So war das nicht gedacht, Bella.«
»Aber du hast selbst vorgeschlagen, mich zu trainieren, Oheim.«
»Ich weiß.«
»Und? Bedauerst du den Entschluss?«
»Ja und nein. Ich wollte, dass du in der Lage bist, dich zu verteidigen, für den Fall dass …«
»Sprich weiter«, sagte Roana. »Sprich es aus.«
»Lieber nicht.«
»– dass mich ein Mann wieder einmal mit einem Loch verwechselt, in das er brutal sein Ding reinstecken und so lang drin herumstoßen darf, bis er endlich kommt und seinen ganzen Samen in mich hinein spritzt. Wolltest du das sagen?«
»Bella …«, setzte Gandar an und wusste plötzlich nicht mehr weiter. Er forschte in diesem vollwangigen, ansprechenden Gesicht. Es war ein hübsches, ein wirklich hübsches Gesicht – bis auf die Augen.
Diese zu hellen, wilden Augen, die auch bei schwächstem Licht zu glitzern schienen. Wie eine blank polierte Schwertklinge, dachte Gandar, oder schillerndes undurchsichtiges Wasser, an dessen glatter Oberfläche alles abprallt, und auf dessen Grund man nie sehen kann.
»Inzwischen bin ich in der Lage, mich zu verteidigen.«
»Verteidigen nennst du das?«, fragte Gandar aufgebracht. »Deine Reflexe sind völlig außer Kontrolle geraten!«
»Inwiefern?« Roana sah ihn abwartend an und ihre Augen waren kalt und still. Seine Nichte hatte eine Art, einen Menschen, ohne zu blinzeln, so unergründlich und ausdruckslos anzustarren, dass es Gandar plötzlich schwerfiel, ihr das zu sagen, was er zu sagen hatte.
»Die … Reaktion setzt nicht ein, solange du siehst, wer auf dich zukommt; wenn es den Überraschungseffekt nicht gibt. Aber du kannst nicht immer dafür sorgen, dass du mit dem Rücken zur Wand stehst, wenn du unter Menschen gehst. Ich wage kaum, mir auszumalen, was geschehen könnte, sollte jemand den Fehler machen, von hinten an dich heranzutreten.«
Roana sah ihn an. »Er würde es bereuen.«
Ich werde meine Augen nicht senken!, wütete Gandar im Stillen. Ich nicht! Auf keinen Fall!
Aber er tat es doch; und musste alle seine Willenskraft einsetzen, um Roana wieder ins Gesicht zu schauen. »Aber dann könnte es schon zu spät sein. Und es wäre genauso gut möglich, dass du es bist, Roana, die dabei umkommt.«
»Aber mein Herr! Wie, um Christi willen, kommst du auf die Idee, dass mir das etwas ausmachen würde?«