Auf dem weiteren Ritt zu Gandars befestigter Villa schwiegen alle drei. Rafael vermochte sich nicht zu erinnern, wann er sich das letzte Mal so erschöpft und ausgelaugt gefühlt hatte. Er wusste, dass er durch die Anstrengung des Reitens mehr Kraft verbrauchte, als er sich leisten konnte. Er kämpfte gegen das übermächtige Verlangen, einfach die Augen zu schließen und sich auf den Hals seines Pferdes sinken zu lassen.
»Hast du Fieber, Rafael?«, fragte Peire.
Rafael wandte den Kopf und sah Peire stirnrunzelnd an. Er hatte nicht gemerkt, dass der Sänger an seiner Seite aufgetaucht war. Ein deutliches Anzeichen für den Grad seiner Erschöpfung.
»Noch nicht«, sagte er nach einer Weile.
Peire grinste schief. »Damit wartest du auch besser, bis wir in Rodéna sind.«
Rafael erwiderte nichts. Verstohlen sah er zu Roana hinüber. Sie saß stocksteif im Sattel und schien Peires Worte gar nicht wahrgenommen zu haben, denn sie starrte blicklos vor sich hin. Im ersten Augenblick schien es Rafael, dass sie weinte, doch als er genauer hinsah, waren ihre Augen trocken und ausdruckslos.
»Eine Silbermünze für deine Gedanken«, sagte er.
»Das wäre ein schlechter Handel.«
Rafael gab sich keine Mühe sein mokantes Lächeln zu verbergen. »Ich glaube, du machst absichtlich ein Drama aus Gandars Abwesenheit, um von deiner bevorstehenden Heimreise abzulenken, Roana.«
Roana wandte den Kopf. Der Blick, mit dem sie Rafaels Gesicht musterte, war finster. »Falls es deine Absicht war, mich mit deinem Argwohn zu kränken, hast du dein Ziel erreicht.«
»Und falls es deine Absicht war, mit deiner Arroganz meinen Argwohn zu nähren, hast du ebenfalls dein Ziel erreicht«, konterte Rafael.
»Dann können wir ja beide zufrieden sein«, knurrte sie. »Und da habe ich doch tatsächlich für einen Augenblick angenommen, in dir jemanden gefunden zu haben, der meine Bedenken teilt. Aber wie es scheint, kennst du den Herzog längst nicht so gut, wie ich dachte.«
Rafael betrachtete sie kopfschüttelnd. »Welches Spiel spielst du, Roana?«
Sie lachte leise und hart und in einem Ton, der Rafael erschauern ließ, verschränkte die Hände über dem Sattelknauf und sah ihn an. »Ich meine es ernst. Wir werden Gandar nicht wiedersehen, wenn wir nichts unternehmen, weißt du das?«
Rafael antwortete nicht.
Roana schien sein Schweigen als Zustimmung zu deuten. »Du weißt es. Gandar ist innerlich schon tot. In Rodéna haben sie es nur noch nicht erkannt. Oder vielleicht haben sie es doch erkannt und wollen es nur nicht wahrhaben. Gandar ist schon tot. Ein lebender Toter, der bisher nur seinen Leuten zuliebe noch nicht umgefallen ist. Aber diesmal wird ihn nichts mehr halten.«
»Du sprichst in Rätseln«, gab Rafael zurück.
»Du weißt nicht, was in Navas passiert ist, Rafael?«, fragte sie erstaunt. »Dabei war es doch eine der Schauergeschichten, die man sich monatelang in Rodéna abends nach dem Essen erzählte. Das heißt, wenn der Herzog nicht in der Nähe war.« Sie sah Rafael an, und obwohl er sich bemühte, desinteressiert zu wirken, huschte ein triumphierendes Lächeln über ihre Züge, und sie fuhr fort. »Um die Burg meines Vaters zu retten, begab Gandar sich als Geisel in die Hand der Belagerer. Deren Anführer hielt sich jedoch nicht an die Absprachen und verkaufte Gandar an seinen Feind, den Kardinal Valo. Der hat ihn in Navas in ein schauriges Kellerloch gesperrt und vier Monate Rache an ihm genommen. Weiß der Teufel für was. Als Ahmad ihn endlich befreien konnte, war Gandar mehr tot als lebendig. Und als er sich erholt hatte, war er … nicht mehr derselbe Mann.«
»Ach ja?«, spottete Rafael. »Du glaubst doch nicht etwa, dass vier Monate Haft in einem höllischen Kerker danach einfach – vorbei sind?« Er war wütend, weil sie ihm diese erschütternde Episode im Plauderton erzählte, aber mehr noch darüber, dass sie etwas so Persönliches über Gandar gewusst hatte, er aber nicht.
»Nein, natürlich nicht. Ich kenne die Geister aus Gandars Vergangenheit, weißt du? Schreckliche Wesen sind das, die seine Träume heimsuchen, seit wir aus diesem Höllenlos zurückgekehrt sind und…«
Erschrocken schlug Roana die Hand vor den Mund und erstickte die restlichen Worte in ihrer Kehle.
»Wie bitte?«, fragte Rafael verdutzt. »Du warst mit in Navas? Was hattest du da zu suchen?«
Roana fuhr mit einer abgehackten Bewegung herum. »Wir müssen schneller reiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir bei diesem Schneckentempo jemals ankommen.«
»Du willst es nicht sagen, wie?«, fragte Rafael in einer Mischung aus Ungeduld und erneut aufflammender Wut.
Roana nickte. »Stimmt. Es gibt Geheimnisse, die an Schrecken gewinnen, wenn man sie lüftet. Wenn du nicht weißt, wovon ich rede, ist es besser, wir belassen es dabei.«
Rafael antwortete nicht. Es gab tausend Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, aber er zog es vor, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig er über Gandars Vergangenheit wusste. Nach dem, was Roana angedeutet hatte, stand sie dem Herzog näher, als ihm bewusst gewesen war. Dafür wollte er sie hassen, wollte seinem Zorn freien Lauf lassen, aber er konnte es nicht. Seine Gefühle waren in Unordnung.
Zwischen Roanas Brauen erschien eine steile Falte. »Du bist verärgert«, stellte sie fest. »Warum?«
Rafael runzelte die Stirn, starrte einen Moment den Mähnenkamm seines Pferdes an, als gäbe es dort etwas Auffälliges zu entdecken, und hob dann ruckartig den Blick.
»Ich möchte keine Rätsel hören«, sagte er scharf. »Einer von uns weiß mehr über Gandars Verschwinden, als er bisher zugegeben hat. Und ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird.«
Roana lächelte und klatschte in die Hände. »Bravo Malik al Maut. Jetzt hast du es mir aber gegeben. Ich wusste gar nicht, dass du einen so ausgeprägten Sinn für Dramatik hast.« Sie lachte leise und wurde übergangslos ernst, ehe Rafael zu einer Erwiderung ansetzen konnte.
»Aber du hast recht, Rafael. Vielleicht weiß ich tatsächlich mehr über Gandars Verschwinden; zumindest habe ich einen Verdacht, was den möglichen Auslöser für sein seltsames Verhalten angeht. Ich muss in Rodéna nur noch einiges nachprüfen.«
»Dann … glaubst du tatsächlich, dass der Herzog absichtlich verschwunden ist?«, fragte Rafael überrascht. »Dass er sein Haus, seine Güter, die Menschen, die von ihm abhängig sind, einfach im Stich lässt, ohne ein Wort der Erklärung?«
»Wäre es anders, wäre ich jetzt nicht hier, oder? Selbst ich bin nicht verrückt genug, ohne triftigen Grund alleine nach Triormani zu reiten.«
»Komm zur Sache«, knurrte Rafael. »Wurde Gandar bedroht?«
»Bedroht?«, fragte Roana. »Von wem denn? Der Herzog hat keine Feinde. Nicht mehr.«
Oh doch, dachte Rafael, die hat er. Mächtige Feinde. Gegner, die vor nichts zurückschrecken, was ihren Zielen dient, weder vor Entführung noch vor Erpressung.
Das Schwierige daran war, dass Gandar von der Bedrohung nichts ahnte. Dieses Wissen lastete wie ein Felsen auf Rafael, aber daran konnte er nichts ändern. Es gab Kämpfe, die er alleine ausfechten musste.
»Woher weißt du das alles, Roana?», fragte er. »Woher weißt du, dass Gandar in Gefahr ist, wenn du nicht einmal sicher bist, ob er seine Ländereien tatsächlich verlassen hat? Was, wenn er nur einen Umritt macht, um bei seinen Bauern nach dem Rechten zu sehen?«
»Ich weiß es und das muss genügen«, antwortete Roana scharf.
Rafael schüttelte wütend den Kopf. »Das muss es nicht, Roana. Du glaubst, dass Gandar fahrlässig sein Leben aufs Spiel setzt, aus Gründen die –«
»Du wählst die falschen Worte, Rafael«, sagte sie ruhig. »Ich glaube es nicht. Ich weiß es. Aus irgendeinem Grund hatte Gandar keine Wahl. Und du vergisst, dass ihm sein eigenes Leben nicht mehr allzu viel wert ist, seit er aus Navas zurückgekehrt ist.«
Rafael sah sie an. »Was ist in Navas geschehen, Roana?«
Roana antwortete nicht. Ihre Mundwinkel zuckten, und ihre Hände verkrampften sich so stark um die Zügel, dass die Nägel tief in die Haut schnitten und ein dünner Blutstropfen hervorquoll. Sie bemerkte es nicht einmal.
»Roana …«, murmelte Rafael.
Alarmiert wandte sie ihm das Gesicht zu und musterte ihn besorgt.
»Hör auf, mich so anzustarren«, fuhr Rafael sie an. »Ich werde dir nicht den Gefallen tun, ohnmächtig vom Pferd zu kippen.«
»Nett von dir, mir das zu sagen. Es erleichtert ein Mädchen doch ungemein, einen großen, starken Beschützer an seiner Seite zu wissen.«
Die Art, in der sie die Worte aussprach, reizte Rafael noch mehr. »Irgendjemand hat es versäumt, dir ein paar Manieren einzubläuen.«
Roana lächelte überheblich. »Das möchtest du jetzt wohl nachholen? Denke nicht einmal daran!«
Sie rief nach dem Sänger. Sobald Peire an ihrer Seite erschien, befahl sie ohne Umschweife: »Reite nach Rodéna voraus und lass eine Sänfte bereit machen. Man soll uns entgegenreiten und …«
»Ich brauche … keine Sänfte«, murmelte Rafael. Seine Worte klangen lahm und hilflos, und genauso fühlte er sich. Er wusste, dass Roana recht hatte, auch ohne die Schmerzen, ohne die Schweißtropfen, die auf seiner Stirn standen. Er wandte sich dem Sänger zu und sagte ihm leise ein paar Worte. Peire warf seinem Freund einen besorgten Seitenblick zu. »Du bittest mich tatsächlich, Nael zu suchen? Himmel, warum hast du mir nicht gesagt, wie schlecht es dir geht?«
»Betrachte es als Vorsichtsmaßnahme«, murmelte Rafael. »Genauso wie Nael es anscheinend als Vorsichtsmaßnahme betrachtet, uns folgen.«
»Wie bitte? Nael folgt uns?«
Rafael nickte knapp. »Seit Triormani.«
»Seltsam«, bemerkte Peire. »Warum tut er das?«
»Seine Gründe sind mir im Augenblick ziemlich gleichgültig, das kannst du mir glauben.«
Peire stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor er sein Pferd wendete und davongaloppierte.
Rafael und Roana ritten im Schritt weiter. »Wer ist Nael?«, fragte sie.
»Ein Medicus.«
»Und? Weiter?«
Er verzog keine Miene und ignorierte ihre Frage, aber aus den Augenwinkeln beobachtete er verstohlen ihr Gesicht.
Roanas Augen verdunkelten sich, nahmen eine rauchgraue, glanzlose Farbe an. »Ich frage nicht gerne zweimal«, fuhr sie ihn an. »Was ist dieser Nael – Freund oder Feind?«
Rafael gab keine Antwort. Die Umstände seiner Bekanntschaft mit Nael gingen niemanden etwas an, schon gar nicht Roana.
»Na gut«, sagte Roana mit einer matten, ausdruckslosen Stimme voll tödlicher Gelassenheit, »ich hatte mich schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, du wärst ein klein wenig anders als die anderen und jetzt –«
»Welche anderen?«, fragte Rafael scharf. »Und wie anders?«
»Anders als die meisten anderen Männer. Klüger. Denn in Bezug auf das, was ein Mädchen – eine Frau – empfindet, sind die männlichen Wesen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, nicht eben – sehr klug. Wenn dir also daran gelegen ist, nicht mit meinem Dolch zwischen den Rippen zu enden –«
»Himmel, Roana!«
»– solltest du einiges über mich wissen«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »So zum Beispiel, dass es meiner Meinung nach keine Rechtfertigung dafür gibt, eine Edelfrau wie einen Gegenstand zu behandeln. Genau das hast du nämlich getan. Stell keine Fragen, Roana, schweig still, Roana, in die Ecke mit dir, bis zum nächsten Gebrauch –«
»Da magst du recht haben«, gab er gelassen zurück. »Aber schau dich doch einmal an. Deine Launen wechseln schneller als das Wetter. Du bist wild, unberechenbar, vulgär, – also kurzum etwas, was man am besten nur mit der Kohlenzange anfasst – und da erwartest du, dass ich dich wie eine Edelfrau behandle?«
»Ich bedauere, nicht besser gezielt zu haben«, sagte sie mit kaum verhohlener Wut.
Er zog nur vielsagend die Brauen hoch.
»Es würde mir wirklich Spaß machen, dir den Bauch aufzuschlitzen. Ganz langsam. Nur wäre es leider ein zu kompliziert, das Peire oder den Anderen zu erklären. Also bist du sicher. Im Augenblick jedenfalls.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du hast mich einmal überrascht, Roana. Das gelingt dir kein zweites Mal.«
»Bist du dir da sicher?«
Rafael antwortete nicht. Er wandte den Blick von ihrem Gesicht und ließ ihn langsam an ihrem Körper hinabgleiten. Herausfordernd.
Roana atmete hörbar ein. Für einen winzigen Moment glaubte Rafael beinahe, so etwas wie Erregung in ihren Augen zu sehen, bevor sie ihn wütend anfunkelte. »Ich weiß, was du bezweckst«, zischte sie. »Spar es dir. Das mag bei anderen Frauen funktionieren, bei mir jedoch nicht.«
Rafael unterdrückte den Impuls, zu grinsen, aber er war nicht schnell genug. Roana schnappte wütend nach Luft und setzte zu einer ohne Zweifel bissigen Erwiderung an, wobei sie jedoch von lauten Zurufen unterbrochen wurde.
Eine Gruppe Bediensteter in den herzoglichen Farben trabte heran, allen voran Hauptmann Amaro. Wie sich herausstellte, führte er einen von drei Trupps, deren Aufgabe es war, nach Roana zu suchen.
»Der Herzog kann wirklich stolz auf euch sein«, spöttelte Rafael. »Immerhin habt ihr Madonna Roanas Fehlen schon nach einem Tag bemerkt.«
Amaro machte eine unbestimmte Geste, die weder zustimmte, noch verneinte. »Sie verschwindet öfter, ohne zu sagen, wohin, Herr. Wir haben uns angewöhnt, uns erst Sorgen zu machen, wenn sie länger als einen Tag fortbleibt.«
»Das hört mir auf«, sagte Rafael. »Hast du verstanden, Roana?«
Amaro konnte sich ein kleines Siegerlächeln nicht versagen. Roana dagegen sah aus, als wolle sie mit den Fäusten auf ihn losgehen. Er konnte sehen, wie viel Mühe es sie kostete, nicht auf Amaro loszugehen.
»Lasst uns weiterreiten«, sagte er. Seine Stimme klang plötzlich so matt, wie er sich fühlte. Seine Hände zitterten und vielleicht waren seine Augen glasig, denn Roana starrte ihn einen Moment lang beinahe erschrocken an. Rafael winkte ab und trieb sein Pferd vorwärts. Er konnte es sich nicht erlauben, seiner Erschöpfung nachzugeben, bevor sie Gandars Villa erreicht hatten.
Mit einem Seufzer der Erleichterung brachte er sein Pferd schließlich vor dem Stallgebäude zum Stehen. Er zitterte jetzt beinahe am ganzen Körper und die Aufgabe, sein Bein über die Kruppe seines Hengstes zu schwingen, erschien ihm unlösbar.
Roana winkte zwei Stallknechte herbei. »Helft ihm vom Pferd«, befahl sie knapp. »Aber seid vorsichtig. Seine Schulter ist verletzt.«
Rafael wollte protestieren, aber Roanas herausfordernder Blick brachte ihn dazu, sich widerstandslos helfen zu lassen. Den Triumph, ihn mit der Nase voran im Staub landen zu sehen, konnte er ihr unmöglich gönnen.
Roana griff nach den Zügeln von Rafaels Pferd, aber Amaro kam ihr zuvor. Roana sagte nichts dazu, wenn es ihr auch schwerfiel, den Hauptmann nicht mit harschen Worten zurechtzuweisen. Sie begann, sich allmählich wie ein Kind zu fühlen, das an einem unsichtbaren Gängelband herumgeführt wurde und dem jeder sagen zu müssen glaubte, was es zu tun und zu lassen hatte.
Schweigend griff sie nach den Zügeln ihres eigenen Pferdes und führte es in den Stall.
Vier Tagesritte entfernt, tief in den Wäldern Kalabriens, saß Gandar von Rodéna auf einem umgestürzten Baumstamm und entfernte die Verkleidung, die ihn in einen hinkenden Greis mit zottigen grauen Haaren verwandelt hatte. Auf dem Festland war es nicht mehr notwendig, sich unkenntlich zu machen. Hierwürde er nicht auffallen. Auf Sizilien dagegen war der Herzog von Rodi ein vertrauter Anblick. Er hatte nicht riskieren wollen, dass sich jemand erinnerte, ihn auf dem Weg nach Messina oder auf der Fähre zum Festland gesehen zu haben. Ahmad kannte seine Gewohnheiten und er war sehr geschickt darin, einzelne Mosaikteilchen zu einem Bild zusammenzufügen. Seine Reise durfte keine Spuren hinterlassen. Sein Abschied von Rodéna war so endgültig, wie ein Schritt über den Rand der Erdscheibe.
Ich gehe.
Ich bin fort …
Nichts bleibt zurück.
Mit einem tiefen Seufzer vergrub Gandar das Gesicht in den Händen. Ohne dich, liebste Gwen, bin ich ein elend unglücklicher Mann. Nächtelang hab ich mit dem einzigen Brief von dir in der Hand geschlafen, so oft, dass das Pergament vom Schweiß meiner Haut aufgeweicht wurde. Oft sehe ich dich des Nachts neben meinem Bett stehen. Ich springe auf, um dich zu umarmen, und muss nur allzu bald feststellen, dass die dunklen Stunden mir etwas vorgegaukelt haben. Ich weine, wenn ich merke, dass ich nichts in Händen halte …
Gandar ließ die Arme sinken und sah einem Käfer zu, der zu seinen Füßen im Moos krabbelte. Seine Brust schmerzte, eine tiefe, unheilbare Wunde. Stundenlang, so schien es, saß er da und starrte zu Boden.
Die Nachmittagssonne kroch zwischen die Bäume und blendete ihn. Schwerfällig erhob er sich, bestieg sein Pferd und griff nach dem Zügel seines Packpferdes.
Bald Gwen … bald bin ich ein freier Mann und nichts soll mich je wieder von dir trennen.
Was Gandar jedoch völlig außer Acht ließ, war die Tatsache, dass er zwei Pferde bei sich hatte, die Ahmad ebenso gut kannte wie seine Gewohnheiten.
Gandars Villa thronte auf einer felsigen Anhöhe. Sie war aus grauen Steinen, mit spitzen gotischen Bögen, hohen Fenstern mit bleigefasstem Glas, und jeder Raum war von Licht überschwemmt. Überall gab es große Kamine gegen die winterliche Kälte und der Innenhof war in ein Blumenparadies verwandelt worden. Er war mit einer komplizierten Konstruktion aus Balken und bleigefasstem Glas überdeckt, damit Zipporas Vögel frei umherfliegen konnten. Ahmad schickte nach Apulien und sogar nach Afrika, um immer neue und schönere Sorten zu bekommen. Die Vögel zwitscherten und sangen und zeigten ihre wunderbaren Federn.
Roanas Lieblingsplatz war eine von üppigen Pflanzen umgebene Nische, in der ein arabischer Diwan stand.
Im Augenblick jedoch fühlte sie sich viel zu ruhelos, um sich auf das Buch zu konzentrieren, das sie sich aus ihrer Kammer mitgebracht hatte. Seit ihrer Ankunft war ein ganzer Tag vergangen. Vierundzwanzig Stunden, in denen sie weder von Gandar, noch von Rafael etwas gehört hatte.
Roana stand auf, legte ihr Buch zur Seite und schlenderte durch den Hof. Die Morgensonne fiel durch das unterteilte Glas, und das Licht warf ein Schachbrettmuster über den Boden.
Wieder und wieder stellte sie sich die Frage, welchen Grund Gandar haben konnte, sie zu ihren Eltern zurückzuschicken. Wie konnte er ihr das nur antun? Oder Judith, ihrer Mutter, die beim Anblick der leblosen Eisaugen ihrer Tochter jedes Mal zurückzuckte – auch wenn sie sich die größte Mühe gab, es niemanden, vor allem nicht Roana – merken zu lassen.
Ihre Eltern konnten mit ihr nichts anfangen. Sie war einfach nicht wie andere junge Frauen, würde es nie mehr sein. Anfangs hatte ihr Vater noch versucht, sie zu verheiraten. Zugegeben, es waren an-genehme junge Männer gewesen, die er ihr präsentiert hatte. Aber nachdem sie den Ersten beinahe entmannt und dem Nächsten einen Dolch an die Halsschlagader gesetzt hatte, während er versuchte, ihr die Hand zu küssen, waren diese Pläne schleunigst fallen gelassen worden. Seitdem verbrachte sie die meiste Zeit mit ihrem Oheim Gandar oder auf ihrem eigenen kleinen Gut, das er ihr im vergangenen Frühjahr geschenkt hatte.
»Madonna Roana?«
Roana wirbelte herum. Zu sehr in ihre trüben Gedanken versunken, hatte sie nicht bemerkt, dass Zippora, die Frau des Hauhofmeisters hereingekommen war.
»Rafael lässt anfragen, ob drei Tage genügen, um dein Gepäck vorzubereiten«, sagte Zippora.
»Ich habe nicht die Absicht, abzureisen«, beschied ihr Roana knapp.
Zippora hob begütigend die Hand und betrachtete sie mit ärgerlicher Miene. »Nun erschlage nicht gleich den Boten für die Nachricht, die er überbringt. Rafael möchte, dass du –«
»Ich glaube nicht, dass er mir etwas zu sagen hat«, fiel Roana ihr ins Wort. »Weder gehört ihm Rodéna, noch ist er mein Verwandter.«
»Aber er ist der Stellvertreter des Herzogs. Solange Gandar nicht da ist, hat Rafael das Kommando.«
»Das gibt ihn noch lange nicht das Recht, über mich zu bestimmen.«
Zippora seufzte und streckte den Arm aus. Ein neugieriger Vogel trippelte heran und landete zutraulich auf ihrer Hand. Geistesabwesend reichte sie dem Tier ein wenig Futter.
»Dom Gandar hat diesmal gar nichts davon erwähnt, dass Rafael nach Rodéna kommen will«, bemerkte sie beiläufig. »Wusstest du etwas davon?«
»Nein.«
»Nicht? Trotzdem hast du genau zum rechten Zeitpunkt die Flucht ergriffen? Seltsam …«
»Wer behauptet denn so etwas?« Roana tat, als falle sie aus allen Wolken.
Zippora stieß hörbar die Luft aus. »Mir steht nicht der Sinn danach, mich von dir für dumm verkaufen zu lassen. Dom Gandar mag ja glauben, dass sich deine unsinnige Furcht vor Männern gebessert hat. Mir dagegen machst du nichts vor. Du bist davongelaufen.«
Roana lächelte schmallippig. »Großspurige Finsterlinge wie Rafael jagen mir keine Angst ein.«
»Oh nein, sie versetzen dich regelrecht in Panik«, konterte Zippora. »Bei Allah, ich bin es leid, Zeugin deiner Feigheit sein zu müssen! Du stehst da mit tragischer Miene und unterstellst jedem Mann unlautere Absichten, aber du hast dir niemals, nicht einen Herzschlag lang, die Mühe gemacht, einen von ihnen näher kennenzulernen. Du …«
»Jetzt gehst du zu weit, Zippora«.
»Dann nenne mir einen einzigen, glaubwürdigen Grund, wieso du ohne Eskorte und in Verkleidung davongeritten bist.«
»Ich glaube kaum, dass ich verpflichtet bin, meine Privatangelegenheiten mit dir zu erörtern«, gab Roana verdrossen zurück.
Zippora warf den Vogel in die Luft und sah zu, wie er in einem Wirbel farbenprächtiger Federn davonflatterte.
»Privatangelegenheiten gibt es für deinesgleichen schon lange nicht mehr«, entgegnete sie. »Deshalb sagst du mir jetzt besser, wo du warst.«
Roana ging auf die Frage nicht ein. »Kommt es dir nicht seltsam vor, dass Gandar allein unterwegs ist? Ein Herzog ohne Begleitritter – das gehört sich doch nicht …«
Zippora vollführte eine wegwerfende Geste. »Deine Bedenken kommen ein wenig zu spät, meinst du nicht? Obendrein sind sie vollkommen unbegründet. Ich … wir wissen doch beide, warum Gandar von Zeit zu Zeit in die Einsamkeit flüchten muss … Missgönnst du ihm die Möglichkeit, seinen Seelenfrieden zu erhalten?«
»Nein, natürlich nicht.«
Zippora betrachtete sie einen Moment mit zur Seite geneigtem Kopf. »Wie kommt es eigentlich, dass du so genau über Herzog Gandars Angelegenheiten Bescheid weißt? Du warst in Triormani, hab ich recht? Bei meinem Bruder.«
»Ahmad ist nicht in Triormani, Zippora.«
»Also warst du tatsächlich da. Oh ihr Götter! Wie kann ein Mensch nur über so wenig Verstand verfügen wie du!«
Roana schnitt eine Grimasse. »Wärst du wohl so nett, Zippora, mich dieses eine Mal mit deiner Predigt zu verschonen? Ich finde es bedenklich, dass weder der Herzog noch dein Bruder da sind, wo sie zu sein hätten. Nicht einmal Ridwân konnte mir sagen, wohin sein Herr geritten ist …«
»Es sind Männer, Roana. Sie sind uns Frauen keine Rechenschaft schuldig.«
»Oh, erspare mir die klugen Reden. Sage mir lieber, was du über Gandars Pläne weißt.«
»Gar nichts weiß ich darüber«, entgegnete Zippora. Es klang ungehalten. »Bist du deshalb ohne angemessene Begleitung nach Triormani geritten, nur um meinen Bruder auszufragen?«
»Es war die nächstliegende Lösung.«
»Was für ein dummer Zufall, dabei ausgerechnet Rafael in die Arme zu laufen«, spöttelte Zippora. »Dem einzigen Mann, der sich nicht verpflichtet fühlen muss, Rücksicht auf deine Launen zu nehmen.«
»Herrgott noch mal, Zippora! Du stellst es immer so dar, als hätte ich eine anstößige Krankheit. Wann begreifst du endlich, dass ich eine erwachsene Frau bin, die durchaus in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen?«
»Wenn du anfängst, dich wie eine solche zu benehmen.«
Roana runzelte die Stirn. Sie wünschte sich, Zippora könnte einmal etwas sagen, ohne es mit einem Vorwurf zu verbinden.
»Großartig. Ich ziehe mir ein Kleid an, reite im Damensattel und verlasse Rodéna niemals ohne angemessene Eskorte. Wir wollen doch nicht, dass Gandars Männer sich nutzlos fühlen, weil ich ihren Schutz nicht brauche, nicht wahr?«
»Du brauchst ihn sehr wohl. Denn in Zukunft wirst du auf diese schrecklichen Dolche verzichten, die du überall an deinem Körper zu verstecken pflegst. Es gehört sich nicht für eine Dame, sich bis an die Zähne zu bewaffnen.«
»Ach? Hat Rafael sich etwa darüber beschwert?« fragte Roana trocken.
»Rafael? Warum sollte er …« Zippora schlug sich mit einem erstickten Laut die Hand vor den Mund. »Oh Allah«, murmelte sie vor sich hin. »Oh, allmächtiger Schöpfer …«
Roana warf ihr einen kurzen Blick zu. »Wenn du möchtest, dass ich dir weiter folgen kann, dann hör auf, dich in Rätseln auszudrücken«, sagte sie kühl.
»Rafael hat eine frische Messerwunde. Aber er will mir nicht sagen, wie er sie sich zugezogen hat.«
Roana spürte einen Schauer ihren Rücken hinabrieseln und wandte sich schweigend ab.
»Du … du hast doch nicht etwa damit zu tun?« Zippora konnte die bange Frage offenbar nicht länger zurückhalten, sie brach regelrecht aus ihr hervor.
Roana hob hilflos die Schultern und nickte. »Der verdammte Kerl hat sich von hinten an mich herangeschlichen«, erklärte sie. »Ich war nicht … in der Lage, meine Reaktion zu kontrollieren …«
»Oh!«, hauchte Zippora. Sonst nichts. Aber Roana sah, wie ihre Hände anfingen, krampfhaft an dem Gürtel ihres Gewandes zu zupfen, begannen ihn zu verdrehen.
»Tu das nicht«, sagte Roana. »Du machst ihn ja kaputt.«
»Darum sorgst du dich, Roana? Um einen – Gürtel?«, flüsterte Zippora. Sie weinte jetzt, war aber gleichzeitig aufs Äußerste bemüht, ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren.
»Zippora –«
»Sag mir doch bitte: machst du das alles vorsätzlich, oder kannst du einfach nicht anders? Nein, sag es mir lieber nicht; es gibt kaum etwas, dass mich weniger interessiert. Ich hoffe, du bist glücklich mit dem, was du aus dir gemacht hast. Nein, das ist gelogen. Ich hoffe, dir ist so elend zumute, dass du dir am liebsten die Kehle durchschneiden möchtest. Du übergeschnapptes, verdorbenes Weibsstück!«
»Nicht Zippora! Oh, bitte nicht! Bitte!«
Aber Zippora hörte weder die gestammelten Bitten, noch sah sie die Qual in Roanas Augen, weil sie just diesen Augenblick wählte, um aus dem Hof zu stürmen, als seien alle Teufel der Hölle hinter ihr her.
Roana sank auf dem Diwan zusammen. Ihre Augen brannten und wollten schier überquellen und sie wischte ärgerlich daran herum. Trübe und bittere Gedanken gingen ihr durch den Kopf: In was bin ich da nur hineingeraten? Oh süßer Jesus, in was?
Rafael war im Dunkel seiner Bewusstlosigkeit gefangen. Aber dieses Dunkel war erfüllt von tosendem Lärm und blendendem Weiß; wirbelnden Schneemassen, die donnernd zu Tale fuhren, unter den Männern hin, über sie fort, als schmettere das Erdreich selbst sie in den Schlund der Hölle. Er versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, um nichts mehr hören zu müssen; aber so sehr er es versuchte, es gelang ihm einfach nicht. Irgendetwas musste mit seinen Armen geschehen sein, weil er sie nicht heben konnte. Schweiß trat auf seine Stirn, so strengte er sich an; aber die Arme lagen wie tot neben ihm. Die Masse auf seiner Brust wurde immer schwerer, presste alle Luft aus seinen Lungen. Panik überkam ihn– plötzlich aber, auf unerklärliche Weise schoben Zeit und Raum sich durcheinander, und es gab keine donnernden Lawinen mehr.
Rafael erkannte das Kloster seines Vaters, ein lang gestrecktes Gebäude, abweisend und trutzig, wie die gezackten Gipfel der schneebedeckten Berge, die es umgaben. Dann sah er sich selbst, den Knaben Rafael, in einer eisigen Zelle des Klosters, dem sein Vater als Abt vorstand. Seine kleine Schwester Ravena stand neben ihm – ein Mädchen, feingliedrig und zart mit einer schier überbordenden Fülle schwarzer Locken; sie weinte vor Hunger still vor sich hin. Und daran war er schuld. Er war zu nichts nutze. Zu dumm, um die einfachsten Aufgaben zu erledigen. Nicht gut genug. Am Anfang hatte er sich noch geweigert, seinem Vater zu glauben. Doch der Abt hatte schlagkräftige und sehr überzeugende Argumente für seine Behauptungen gehabt, die jedes Mal neu zur Anwendung kamen, wenn Rafael Anzeichen dafür zeigte, zu vergessen, was er war: ein Sklave ohne eigenen Willen, nicht besser als Dreck.
Für jeden noch so kleinen Fehler wurden seine und Ravenas ohnehin knappe Essensration noch weiter gekürzt. Und er machte inzwischen ständig Fehler. Heute hatte er einen schweren Bottich in den Brunnen fallen lassen, weil ihm schwindelig geworden war vor Erschöpfung, während er versucht hatte, ihn hochzuziehen.
Mit einem Blick, der ganz verschwommen war vor mühsam unterdrückten Tränen, starrte er auf die dünne Scheibe Brot, die er zum Abendessen bekommen hatte. Bohrender Schmerz fraß in seinen Eingeweiden, aber daran war er inzwischen schon gewöhnt. Die bebenden Lippen fest aufeinanderpressend, gab er das Brot seiner Schwester.
Wie damals sah er ihren dankbaren Blick, mit dem sie in das Brot hineinbiss und es gierig hinunterschluckte.
Plötzlich presste sie sich an ihn, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie ihn sehr, sehr lieb habe. Dann rollte sie sich auf dem Boden im Stroh zusammen und war augenblicklich eingeschlafen. Er aber saß die halbe Nacht da, zitterte wie von Schüttelfrost befallen und weinte. Schließlich übermannte ihn die Erschöpfung.
Und Rafael lag wieder im feuchten Stroh seiner Zelle, umgeben von Finsternis und Stille, hörte aus der Ferne das an- und abschwellende Murmeln Psalmen betender Mönche und – wie den Nachhall einer Glocke über allem, das bellende Gelächter seines Vaters …
Das Geräusch vermischte sich auf wunderbare Weise mit dem sanften Rascheln und Flüstern des Weinlaubes vor dem Fenster und mit den wirren Geräuschen in seinem Kopf. Er lauschte lange, bis er nicht mehr unterscheiden konnte, was von allem Gelächter und was die Stimme des Windes war und sank schließlich in einen tiefen Schlummer.
Als er das nächste Mal erwachte, war wieder Morgen, und er begriff, wo er wirklich war. Er erkannte deutlich die schweren, eichenen Balken seiner Kammer, sah seine Gewänder am Haken und Peires müde Gestalt, die erschöpft auf seinem Bettrand schlief.
Er versuchte, sich aufzusetzen, vergaß aber dabei, dass er alles, was er tat, derzeit langsam tun musste. Bei der Ankunft in Rodéna war seine Schulterwunde wieder aufgebrochen und er hatte soviel Blut verloren, dass ihm von der kleinsten Anstrengung schwarz vor Augen wurde.
Kleine Hämmer begannen in seinem Kopf zu arbeiten und er glitt willig in das Dunkel der Bewusstlosigkeit zurück.
Wieder war er, ohne Sinn für Zeit und Raum, in der kalten Mönchszelle und schlief den Schlaf der Erschöpfung, während angstvolles Gekreische und lautes Weinen die Stille des Klosters durchschnitt. Rafael nahm es wohl irgendwie wahr, aber er war längst noch nicht wach genug, um zu begreifen, was tatsächlich vorging.
Eine Gruppe reisender Kaufleute mit Packtieren und Dienern war im Gästehaus des Klosters abgestiegen. Man hatte ihn den ganzen Tag hin und her gescheucht, mit schweren Bierkrügen und Tränkeimern, mit Platten voller Essen, von dem er nichts nehmen durfte und Eimern mit heißem Wasser. Also öffneten sich seine müden, von dunklen Ringen gesäumten und tief in ihren Höhlen liegenden Augen ganz langsam und begannen allmählich, erst eine Spur von Verstehen, dann von Schrecken zu spiegeln, als er endlich erkannte, dass es Ravena war, die so schrie. Er rannte aus der Zelle, wobei ihn – seltsamerweise – niemand aufhielt. Was Rafael zuerst sah, als er durch das Tor in den Kreuzgang stürmte, war die nackte und gefesselte Ravena, die von drei fremden Männern begutachtet wurde wie eine Ziege auf dem Markt.
Mit einem wilden Knurren stürzte er sich auf den Mann, der Ravenas flache Brustwarzen betastete und biss ihn in die linke Hand. Was sich als Fehler erwies. Denn die Rechte des Mannes explodierte mit offener Handfläche gegen seine Wange und schickte ihn zu Boden. Sein vom Hunger brennender Magen revoltierte. Ein schreckliches, trockenes Würgen begann ihn zu schütteln, aber sein Magen enthielt kaum noch etwas, was er hätte von sich geben können.
Die Männer standen um ihn herum und lachten – alle Gesichter merkwürdig undeutlich und fremd bis auf eines!
Als er dieses eine Gesicht erkannte, stieß Rafael einen wilden Schrei aus, einen Laut voll wollüstiger Raserei, der wie ein tierisches Knurren begann und zu einem schmerzhaften, zitternden Stöhnen anschwoll. Während er schrie, richtete er sich auf seinem Lager auf, und jemand, der neben ihm saß und ihn beobachtete, drückte ihn sanft zurück. Für einen kurzen Moment erkannte er Zipporas trauriges Gesicht klar vor sich. Er öffnete den Mund, wollte ihr etwas Tröstliches sagen …
Er sagte es nicht; die Gegenwart verschwamm, er war wieder im Kreuzgang des Klosters. Der Mann, den er gebissen hatte, stand jetzt an der Seite seines Vaters, flüsterte mit ihm und bewegte dabei die Finger, wie um einen Betrag anzuzeigen.
»Nehmt sie beide, oder lasst es«, erwiderte sein Vater kalt.
»Das Mädchen ist zu jung«, sagte der Mann. »Mit dem Jungen lässt sie vielleicht etwas anfangen. Wie alt ist er?«
»Acht Sommer.«
Rafael starrte voller Schrecken auf die Männer, als er begriff, was vorging. Sein Vater war dabei, ihn an Sklavenhändler zu verkaufen! Der Gedanke, von Ravena getrennt zu werden, erfüllte ihn mit einer schrecklichen, alles überwältigenden Furcht, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. So schlecht es ihnen im Kloster auch ging, hier waren sie wenigstens zusammen. Ehe die Männer auch nur blinzeln konnten, war er auf den Füßen und flitzte wie ein Wiesel zwischen ihnen hindurch. Aber dann hatte er Pech. Bruder Julian, der sich sonst selten außerhalb seines Skriptoriums sehen ließ, musste just in dem Augenblick zum Tor hereinkommen, als Rafael zu entwischen versuchte. Er griff sich den Jungen und schmetterte ihn gegen eine der steinernen Säulen. Rafael ging zu Boden. Und obwohl er halb betäubt war, versuchte er sogleich auf allen vieren davon zu kriechen.
Ein schriller Angstschrei Ravenas stoppte ihn. Sein Vater hatte die Haare des Mädchens gepackt und hielt ihr sein Speisemesser an die entblößte Kehle.
»Zwei von Euch Burschen gehen mal dort rüber und halten den kleinen Bastard. Seht zu, dass er sich nicht davon macht. Bruder Julian, hol mir ein Paar Fußeisen«, befahl sein Vater.
Zwei der Sklavenhändler packten ihn bei den Armen und zerrten ihn auf die Füße. Aber Rafael setzte sich nicht einmal zur Wehr. Er stand einfach da, bleich im Gesicht und völlig apathisch.
Sein Vater ließ das Messer sinken. »Ich sehe, dass du das bisschen Verstand in deinem Kopf ausnahmsweise zum Denken benutzt«, sagte er boshaft grinsend. »Aber ich erklär's noch mal klar und deutlich, damit du es auch wirklich kapierst, du kleiner Bastard: Ein Mucks von dir und ich steche dein süßes Schwesterlein ab wie ein Schwein.« Er wandte sich den Sklavenhändlern zu. »Und jetzt schafft mir das Balg aus den Augen.«
Als Rafael die Augen aufschlug, war es heller Tag. Zippora saß an seinem Bett und hielt seine Hand. Ihre schwarzen Augen waren umflort und glitzerten feucht. »Ich mag deine Tränen nicht«, flüsterte Rafael.
Sie lachte silberhell, verstummte jedoch sofort wieder und strich ihm behutsam eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wie fühlst du dich?«
»Müde. Noch nicht ganz von dieser Welt«, erwiderte er zögernd. »Warum weinst du?«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht … bin ich einfach nur schrecklich dumm.«
»Das bist du nicht«, sagte Rafael. Noch ein wenig unbeholfen stützte er sich auf die Ellenbogen und versuchte, sich aufzurichten. Sie half ihm dabei, schob ihm Polster und Kissen in den Rücken, bis er bequem saß.
»Deine Haare sind beinahe eine Handbreit gewachsen, seit du Rodéna verlassen hast«, stellte sie fest, während ihre Finger damit beschäftigt waren, die wirren, schwarzen Strähnen zu glätten. »So lange wie dieses Mal warst du noch nie fort.«
»Du hast mich doch nicht etwa vermisst?«, fragte er sarkastisch. Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk und schoben ihre Hand beiseite. »Für gewöhnlich kümmert es dich doch einen Dreck, wann ich komme oder gehe.«
»Für gewöhnlich kommst du auch nicht mit der frischen Narbe einer lebensgefährlichen Verletzung nach Hause«, fuhr sie ihn an. »Dein Medicus wollte mir nichts darüber sagen, aber ich konnte es seinem Gesicht ansehen, wie knapp du dem Tod entgangen bist …«
»Ich werde mich nicht vor dir rechtfertigen. Ich bin niemand der …«
»Ich weiß«, sie winkte ab, legte ihm einen Moment die Hand auf den Arm und ließ sie sinken, als sie merkte, wie er sich unter der Berührung versteifte. »Ich weiß.«
»Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen. Wie du siehst, lebe ich noch.«
Sie seufzte. »Ach, Rafael. Geh in dich. Das kannst du nicht ernst meinen. So herzlos bist du nicht.«
Er zog eine Braue in die Höhe. »Wollen wir darüber jetzt wirklich diskutieren?«
Sie starrte ihn an, mit Augen, die dunkel und so voller Qual waren, dass er sie am liebsten in den Arm genommen und ihr versichert hätte, dass er bereit war, sein unstetes Leben aufzugeben. Aber das wäre eine Lüge gewesen. Er wusste das und sie würde es ebenfalls wissen. Dieses eine Mal noch, dachte er. Dieses eine Mal ist für mich und Ravena. Und danach … Er hatte keine Ahnung, was danach kommen würde. Er wusste nur, dass er es verdammt leid war, zu töten. Immer öfter träumte er davon, sterbend auf einer schlammigen, stinkenden Straße in irgendeinem gottverlassenen Ort zu liegen und von den Leuten angestarrt zu werden, als sei er ein tollwütiger Wolf. Es erschien ihm oft wie ein makabrer Witz, dass es ihn nicht schon längst erwischt hatte. Wahrscheinlich war er deshalb nicht gestorben, weil es ihm egal war, ob er starb. Dadurch war er unbesiegbar geworden.
Vermutlich war das auch der einzige Grund, warum es sein Vater noch nicht geschafft hatte, ihn zu töten – obwohl Lucca ihn mit nahezu unerbittlichem Hass verfolgte.
Auch das war etwas, was Rafael verdammt leid war – nicht zu wissen, warum ihn sein eigener Vater so sehr hasste. Es gab nur einen Grund, weshalb er sich noch nicht auf den entscheidenden Kampf eingelassen hatte – weil Lucca seine einzige Verbindung zu Ravena darstellte.
Rafael wandte sich Zippora zu, blickte ihr direkt in die Augen und stellte fest, dass sie unmerklich zurückschreckte. Genau, wie er es beabsichtigt hatte. Wenn dass, was Ahmad einmal gesagt hatte, stimmte, und Augen wirklich die Spiegel der Seele waren, dann war völlig klar, warum es nur wenige Menschen gab, die ihn ansehen konnten, ohne zusammenzufahren und sich zurückzuziehen. Seine Seele war so schwarz wie die Hölle.
»Du kannst nichts mehr ändern, Zippora«, sagte er absichtlich kalt. »Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ich Feinde habe, die nicht ruhen werden, bis ich tot bin.«
»Aber warum, Rafael …?«, presste Zippora mühsam hervor. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und wandte sich von ihm ab, als könne sie seinen Anblick nicht länger ertragen.
Betroffen streckte er die Hand nach ihr aus. »Weine nicht. Oh Zippora, bitte wein doch nicht!«
»Du sagst mir das? Du?«, fragte Zippora ungläubig.
»Ja. Es ist schon seltsam, nicht wahr? Ich, dem weder Gewalt noch Tod etwas ausmachen, kann es nicht mit ansehen, wie du weinst.«
Zippora wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann starrte sie Rafael an. Und sagte: »Ach, schon gut. Ich verzeihe dir. Nein, eigentlich verzeihe ich dir nicht, denn ich war ja auf dich gar nicht böse. Nur traurig – sehr, sehr traurig. Weil ich nicht mehr weiß, was ich glauben soll. Weil ich nicht mehr weiß, wer du bist. Weil ich plötzlich nicht mehr weghören kann, wenn sie all diese – schlimmen Dinge über dich erzählen. Ich war mir so sicher, dass ich dich kenne wie einen Sohn – aber dann kommst du mit einer Narbe zurück, bei deren Anblick mir das Herz stehen bleiben will und eine beharrliche Stimme flüstert mir Zweifel ins Ohr. Du siehst mich an mit einer Kälte im Blick, die vorher nicht da war und ich beginne, mich zu fragen, welchem Teufel du deine Seele verschrieben hast. Ich …«
»Du übertreibst, Zippora.«
»Ich fürchte nicht, Rafael. Aber dennoch bin ich froh, dass du jetzt hier bist. Weil es bedeutet, dass ich mir zumindest für eine kleine Weile keine Sorgen machen muss.«
»Ich kann nicht lange bleiben.«
»Ist es wahr, dass du Madonna Roana nach Morra bringen sollst?«
»Dom Gandar hat mich darum gebeten, ja.«
Zippora sah ihn aufmerksam an. »Wie konnte der Herzog das tun – wo doch niemand wusste, wo du warst?«
»Dom Gandar weiß immer, wie er mich erreichen kann.«
»So? Und?«
»Was – und?«
»Du und Madonna Roana. Ich frage mich, ob das gut geht.«
»Warum nicht?«
»Roana hat Angst vor dir.«
»Das sollte sie auch.«
Zippora verharrte mitten in der Bewegung. »Rafael«, begann sie langsam, fast tonlos. »Roana hat mir gestanden, was sie getan hat. Ich … ich frage mich, ob du vorhast, sie dafür zu – bestrafen …«
»Vielleicht.«
»Rafael«, flüsterte Zippora, »ich kann es kaum ertragen, zu hören, wie du so etwas sagst. Das kannst du Dom Gandar nicht antun. Er vertraut dir. Er würde Madonna Roana mit seinem Leben verteidigen. Und wenn er sie in deine Obhut gegeben hat, dann erwartet er von dir, dass du das ebenfalls tust.«
Rafael schnaubte. »So, glaubst du das?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es. Und du weißt es ebenfalls. Du kennst Dom Gandar.« Zippora beugte sich über Rafael und machte sich an seinem Verband zu schaffen.
»Nein«, sagte er grimmig. »Ich bezweifle, dass ich ihn wirklich kenne. Jedenfalls nicht so gut, wie ich bisher gedacht habe. Aber sage mir eines«, er wechselte übergangslos das Thema. »Was weißt du über Navas?«
Zippora hielt mitten in der Bewegung inne und sah Rafael einen langen Augenblick nachdenklich an. »Ich weiß nicht sehr viel«, erklärte sie zögernd, »du solltest besser Ahmad danach fragen …«
»Ich frage aber dich.«
Sie seufzte. »Warum jetzt? Nach so langer Zeit?«
»Weil ich nie erfahren habe, wie es Ahmad gelungen ist, Gandar zu befreien. Ich kenne die Festung. Da kommt niemand hinein. Und was ist mit den Gerüchten, die besagen, dass eine Frau bei Dom Gandars Befreiung eine maßgebliche Rolle gespielt hat? War Roana diese Frau?«
»Das ist unwahrscheinlich.«
»Warum, Zippora?«
»Sie war damals noch ein Kind, ein kleines Mädchen, noch nicht einmal alt genug, um verheiratet zu werden.«
»Wie alt ist sie jetzt? Zweiundzwanzig? Dreiund-zwanzig?«
Zippora seufzte hörbar.
»Verzeihung!«, sagte Rafael spöttisch. »Ich gebe ihr also offenbar ein paar Jahre zu viel?«
»Mehr als nur ein paar. Sie ist gerade einmal neunzehn Sommer alt.«
Rafael runzelte die Stirn. »Dann war sie in dem Jahr, als Dom Gandar gefangen genommen wurde, erst zwölf. Sie kommt also tatsächlich nicht infrage. Aber – wer dann?«
»Niemand weiß das genau, Rafael«, sagte Zippora. »Und du solltest die Dinge, die dir gerade durch den Kopf gehen, besser nicht aussprechen.«
»Woher willst du wissen, was ich denke, Zippora?«
»Manchmal bist du leicht zu durchschauen. Aber jetzt sitz still. Dein Medicus hat mir aufgetragen, heute deinen Verband zu wechseln.«
Mit einem ungeduldigen Seufzer ließ er sich in die Kissen zurücksinken. »Es … ist ungewöhnlich, dass über Dom Gandars Rettung so wenige Einzelheiten bekannt sind – findest du nicht?«
»Rafael«, begann Zippora. »Über die Umstände von Dom Gandars Gefangenschaft weiß ich nichts. Und ich will auch gar nichts davon wissen. Das könnte ich nicht aushalten …«
»Warum nicht, Zippora?«
»Es würde mich vernichten«, flüsterte sie. »Oh Rafael, du kennst Dom Gandar ja nicht anders! Du bist an sein schreckliches Schweigen gewöhnt. An diesen Blick eines der Hölle entstiegenen Engels … Ich dagegen erkenne den Unterschied und kann nichts daran ändern, und ich frage mich, ob der Schmerz darüber jemals nachlassen wird …«
Behutsam löste Zippora den alten Verband von der Wunde und warf ihn in eine bereitstehende Schüssel. »Ich hatte gehofft, die Zeit würde über vieles hinweggehen«, fuhr sie fort. »Zumal Dom Gandar keine körperlichen Schäden zurückbehalten hat.«
»Manchmal sind die körperlichen Wunden weit weniger schlimm, als jene, die sich in die Seele brennen «, murmelte Rafael.
»Ich weiß«, sagte Zippora. »Schließlich habe ich oft genug an deinem Bett gesessen, wenn du angefangen hast, im Schlaf zu schreien und zu toben, erinnerst du dich denn nicht?« Zippora seufzte. »Und dennoch genau das ist der Grund, warum ich nicht aufhöre, zu hoffen, dass auch bei ihm die Zeit das beste Heilmittel ist…«
»Zeit ist nicht von Bedeutung«, erwiderte Rafael hitzig. »Solche Erinnerungen wird man ein Leben lang nicht mehr los.«
Zippora hatte stirnrunzelnd gelauscht. »Du meinst – es gibt keine Hoffnung, dass Gandar jemals wieder der wird, der er vor der Gefangenschaft war?«
»Kaum. Im Gegenteil, Zippora. Ich halte es sogar für möglich, dass Dom Gandar versuchen könnte, sich etwas anzutun. Du nicht?«
»Nein«, flüsterte Zippora, »das will er nicht. Oder nicht mehr. Kann sein, dass er es gleich nach seiner Rückkehr aus dem Kerker gewollt hat. Aber er hat es nicht getan. Warum also jetzt?«
Weil es, dachte Rafael mit einem Gefühl wie Würgen im Hals, da noch diese Geschichte mit Madonna Gwenfrewi gibt, von der nur ich weiß … und eben Ahmad. Der ja gleichfalls verschwunden ist …
Sein Gesichtsausdruck schien Zippora nicht zu gefallen, denn sie sah ihn beinahe entsetzt an. »Rafael«, stieß sie hervor. »Du … du hast doch nichts mit Gandars … Abwesenheit zu tun, oder?«
Es gab nicht viel, was Rafael aus der Ruhe zu bringen vermochte, aber nun weiteten sich seine Augen, und er packte Zippora beim Arm. »Was?«
Zippora beugte sich vor. Arabisch sprechend, schnell, ausdruckslos, sagte sie: »Denke nicht, dass ich einfältig bin, Rafael. Ich weiß sehr gut, wozu du fähig bist. Der fürchterliche Junge von damals schlummert noch immer unter deiner geschliffenen Fassade. Bei den Göttern, Engel des Todes! Am Anfang dachte ich tatsächlich, jemand hätte sich einen üblen Scherz erlaubt. Einem Kind einen derartigen Namen anzuhängen! Aber es war kein Scherz. Der Name war passend für dich. Vielleicht ist er es ja heute noch. Vielleicht hast du einfach deine Methoden verfeinert, mit denen du dir nimmst, was du willst. Und vielleicht willst du ja jetzt Rodéna?«
»Zippora«, stieß er hervor. »Was redest du da?«
Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht beinahe das seine berührte. »Ich? Nur die Wahrheit. Oder willst du noch mehr? Das Herzogtum vielleicht?«
Rafael hob den Kopf und sah sie an. Sehr direkt. »Beleidigungen kann ich ertragen«, sagte er. »Sogar von dir. Aber dass du mir zutraust, mich an Gandar zu vergreifen – dass ist ein bisschen zu viel.«
»Oh«, machte sie. »Höre ich da so etwas wie Empfindlichkeit aus deinen Worten? Fein! Sprechen wir nicht mehr davon. Erzähle mir stattdessen lieber, welches Unglück du Roana zugedacht hast.«
»Zippora, nicht.«
Sie starrte ihn entgeistert an. Ihre Augen waren jetzt riesig groß, ihr dunkles Gesicht kreideweiß.
»Allah, Allah, was habe ich getan?«, jammerte sie. »Ich bin ein dummes Luder, das vor Kummer nicht mehr weiß, was es redet …«
»Zippora – hör auf!«, sagte er mit Nachdruck.
»Oh, Rafael, Rafael, ich schäme mich, es ist unerträglich, wie ich mich schäme, all die schlimmen Dinge, die ich dir an den Kopf geworfen habe …«
»Ja, du weißt genau, was du sagen musst, um mich zu treffen«, sagte er tonlos. »Aber nur zu, Zippora. Wenn du schon versuchst, mich mit deinen Worten zu vernichten, dann sei wenigstens gründlich …«
Ganz langsam erhob sie sich von der Bettkante. Blieb leise weinend vor ihm stehen. Sank schluchzend auf die Knie.
»Sieh nur«, flüsterte sie. »Ich liege auf den Knien, Rafael. Wie sonst soll ich mich noch vor dir erniedrigen, mich demütigen, damit du mir vergibst? Soll ich dir die Füße küssen?«
»Nein«, sagte er heiser. »Lass uns nicht mehr darüber sprechen, ja?«
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, voll unausgesprochener Fragen und Anschuldigungen.
Mit einem Mal fühlte sich Rafael dumpf vor Trauer. Er wollte seine Ruhe, und mehr als alles andere sehnte er sich nach der vorbehaltslosen Kameradschaft mit seinem Ziehvater. Es machte ihm zu schaffen, dass Zippora ihn derart skrupelloser Habgier bezichtigte, und so war das Letzte, was er jetzt wollte, ihre Gesellschaft. Er räusperte sich. »Besser, du gehst jetzt, Zippora.«
»Rafael«, flüsterte Zippora mit gebrochener Stimme, »du könntest dich nicht vielleicht doch erweichen lassen, mir zu vergeben – wenn ich bettle?«
Das Schweigen zwischen ihnen wog zentnerschwer. Sein Seufzen, das diese Stille schließlich durchbrach, war wie das Kräuseln einer stillen Wasserfläche. »Ich könnte schon, Zippora. Aber ich will nicht. Und das ist mein letztes Wort.«