Daniel blickte Marius unschlüssig hinterher, als dieser davon radelte.
Hatte er irgendetwas getan oder gesagt, was verursacht hatte, dass der plötzlich, von einer auf die andere Sekunde, so schlechte Laune bekommen hatte? Eigentlich hatte der dunkelhaarige Jugendliche angenommen, dass Marius gern mit ihm zusammen war. Sie hatten Spaß gehabt und er, Daniel, hatte in dieser kurzen Zeit mehr gelacht als manchmal über Tage hinweg mit den Leuten, die er seine Freunde nannte.
»Hm, Sergio. Kannst du dir das erklären?«
Die kleine Dogge wedelte mit ihrem Stummelschwänzchen und tollte vorneweg, als der Junge sich in Richtung Zuhause aufmachte. Daniel kam nicht drumherum, seine Gedanken wanderten wieder zu dieser Situation am See und die feindselige Reaktion Franziskas, mit der er im Kindergarten fast so etwas wie befreundet gewesen war, gab ihm noch immer Rätsel auf.
Er hatte Marius und seine Clique über Jahre vom Rand aus beobachtet und, auch wenn er sich heute manchmal schäbig und fast ein bisschen verrückt vorkam, Eigenschaften am Verhalten des Dunkelblonden bemerkt, die den anderen womöglich verborgen geblieben waren, weil es für sie normal war. Weil er sich einfach immer so verhielt.
Doch für Daniel waren es kleine Marker, die Marius zu etwas Besonderem machten. Eben ein Junge, den man gern zum Freund hätte.
Da sie das aber niemals waren, war es für Daniel umso aufschlussreicher gewesen, dass Marius offenbar gern Zeit mit ihm verbracht hatte. Vielleicht, ganz sicher sogar, hatte er es sich nur eingebildet, dass der Andere versucht hatte, Wege zu finden, den Heimweg zu verlängern. Warum sonst kommt man auf die Idee, einen Hund in einem Bach zu waschen?
Andererseits war Marius schon immer ein spontaner Typ gewesen, der tat, was ihm plötzlich in den Sinn kam, ob andere dem Gedankengang nun folgen konnten oder nicht. Und er hatte daheim nichts, auf das er sich freuen konnte. Da würde Daniel sich auch lieber draußen mit jemandem herumtreiben, den man ganz zufällig nicht hasste.
Obwohl es ihn nichts anging, konnte er nicht verhindern, dass Franziskas Worte ihm in den Sinn kamen: »Damit keiner dahinter kommt, dass du in Wahrheit den da willst.«
Hatte er tatsächlich das Recht, auch nur darüber nachzudenken? Es war ganz allein Marius’ Angelegenheit, wenn er wirklich auf Jungs stand. Weder seine Freunde noch er, Daniel, hatten ein Anrecht darauf, sich irgendein Urteil darüber zu bilden.
Ohne es bewusst darauf anzulegen, eröffneten sich ihm Momente und Situationen vor seinem geistigen Auge - Marius, der sich gegen seine Freunde aufgelehnt hatte, um Daniel vor der Peinlichkeit der Nacktheit zu bewahren und sie offen aufgefordert hatte, ihn in Ruhe zu lassen und nicht mehr bei dem lächerlichen Spitznamen zu nennen. Die Tatsache, dass der Dunkelblonde offenbar peinlich berührt gewesen war, als Franziska ihm unterstellt hatte, auf Daniel zu stehen. Marius, der ihn bei der Hand genommen hatte, um ihn unter das Regenversteck zu ziehen und der ihn am Bach für einen Moment lang so angesehen hatte, als würde er etwas sagen wollen, das auszusprechen er sich nicht wagte.
Daniel seufzte. Ein komisches Gefühl wühlte in seinem Magen. Wie schon vorhin, als sie für einen Moment das Thema hatten, dachte er, dass es eigentlich angemessener wäre, anders zu reagieren.
Eigentlich sollte er doch angewidert sein, schon allein beim Gedanken daran, dass Marius wirklich ein Schwuler sein könnte, weil das schließlich nicht normal war und sich so etwas hier, bei den anständigen Bewohnern von Lengwede, nicht gehörte.
Er wünschte sich manchmal, dass es anders wäre, seine Heimat etwas offener, aber das war es auch schon - ein frommer Wunsch.
Daniel wusste mit Bestimmtheit, dass ein Homosexueller hier nicht willkommen sein würde, egal aus welcher Familie er oder sie stammte.
Die Försters waren einst eine der führenden Familien im Ort gewesen. Das mochte sich verlaufen haben in den letzten fünfzig Jahren, doch ein gewisses Ansehen hatten sie noch immer. Sonst würde man die Kapriolen und Unverschämtheiten des alten Heinrich nicht immer wieder hinnehmen. Der gute Ruf von dessen Vater Erich hatte noch immer etwas Gewicht. Doch das würde für die Leute hier nicht mehr zählen, wenn Marius tatsächlich ein Schwuler wäre.
Aber war das tatsächlich der Grund, warum er trotz seiner Beliebtheit in der Schule und seines athletischen Aussehens erst eine Freundin gehabt hatte?
Daniel hatte, von seinem Spähposten am Rand, natürlich auch das mitbekommen. In einem Nest wie Lengwede wusste schließlich jeder, mit wem welcher Bursche zusammen war, denn die einzigen Geheimnisse in einer solchen Gemeinde betrafen Geld. Darüber sprach man nicht.
Daniel hatte das Mädchen, das für wenige Wochen zu Marius gehörte, nicht leiden können. Sie hatte mit ihm geprahlt, als wäre er ein modisches Accessoire, das zu besitzen sich lohnen würde.
Aber der dunkelhaarige Jugendliche war generell schon immer etwas eifersüchtig auf alle gewesen, die sich mit Marius gut verstanden. Daniel hatte schon vor Jahren aufgehört, sich deswegen etwas vorzumachen. Er beneidete jeden, der zum weiteren oder engeren Kreis des Dunkelblonden gehörte.
Und wenn er nun davon ausging, dass Marius schwul sein könnte, was sagte dieses Empfinden, die Eifersucht, der anhaltende jahrelange Wunsch, mit ihm befreundet zu sein, über ihn selbst aus? Wenn es ihn, Daniel, schon über ihr ganzes Leben hinweg so zu Marius hinzog, machte ihn das nicht vielleicht auch zu einem ‚warmen Bruder‘, wie sein Vater es abfällig nannte?
Der Dunkelhaarige lachte gehässig, sodass der Hund, der gemächlich neben ihm getrottet war, zu ihm aufblickte. Daniel schimpfte sich selbst einen Dummkopf, dass er das auch nur dachte. Man wurde nicht schwul gemacht, man wurde so geboren. Wenn Marius heute so fühlte, dann hatte er es schon immer getan, es war nur möglich, dass es ihm nicht bewusst gewesen war.
»Ich sollte lieber zu grübeln aufhören, Sergio. Es bringt mich ja doch nicht weiter«, seufzte der Jugendliche.
Was brachten ihm Spekulationen?
Er glaubte außerdem zu wissen, dass Marius mit ihm auch nicht darüber reden würde. Weil es einfach verdammt peinlich war, der Gedanke, dass sie beide ... Daniel schüttelte den Kopf und ignorierte das komische Hüpfen in seinem Magen.
Der Junge öffnete die Tür zum Hof seines Elternhauses und schob sein Rad hinein. Sergio stürmte, wild kläffend, auf den Grund, der ihm gehörte und schnüffelte eifrig an allen Ecken, um sicherzugehen, dass das Revier noch immer seins war, während der Jugendliche das Fahrrad verstaute und ihm eine Weile dabei zusah.
»Daniel!«
Der Jugendliche seufzte leise, als er die resolute Stimme seines Vaters über die Veranda schallen hörte, und sah auf die Uhr. Einen Fluch ausstoßend fiel Daniel das Tennistraining wieder ein, was er vollkommen vergessen hatte, weil er mit Marius gegangen war. Der Dunkelhaarige hatte vor dem Sport eigentlich nur schnell die Runde mit Sergio machen wollen.
Daniel erhob sich, streifte die Schuhe an der Matte ab und betrat das Haus, bereit, sich dem Urteil seines Vaters zu stellen. Dieser erwartete ihn bereits, über den Rand der schmalen Brille starrend und den Mund seltsam vorgeschoben, wie immer, wenn er in Besserwisserstimmung war.
»Verrätst du mir, wo du jetzt erst herkommst? Fred war hier, um dich abzuholen und ich musste ihn weiterschicken, weil du dich herumgetrieben hast!«
»Entschuldige ... ich kam ins Gewitter, als ich am Hundeplatz hinten war. Ich musste es abwarten.« Daniel fiel auf, dass es, obwohl er die Wahrheit sagte, wie eine Lüge klang.
Friedrich Heinemann zog eine seiner Augenbrauen hoch. Offenbar war das keine adäquate Rechtfertigung für ihn. »Was hast du dahinten zu suchen? Du hättest über den Schlamau gehen können, dann wärst du in fünfzehn Minuten wieder hier gewesen und ich hätte nicht eine Tennisstunde umsonst bezahlt! Wo hast du nur deinen Kopf, Junge ...«
Daniel nickte nur, denn er war es bereits gewohnt, dass beinahe alles, was er tat, nie genug war. Er machte diesen blöden Sport nur, weil sein Vater es wollte, während er selbst es albern fand, die dämlichen Klamotten hasste und genervt war von den aufgeblasenen Teenies, die sich gaben wie Dreißigjährige, obwohl nichts von dem, mit dem sie angaben, ihr eigener Verdienst war.
»Entschuldigung. Das nächste Mal passe ich besser auf«, sagte der Jugendliche tonlos, was sein Vater mit einem Nicken quittierte und eine Handbewegung machte, als würde er einen Angestellten oder einen Diener entlassen.
Daniel wandte sich ab und stieg die Treppe hoch, betrat sein Zimmer und schaltete den Fernseher ein. Auf dem Bett sitzend grübelte er über das nach, was Marius gesagt hatte. Seine Familie sei so kaputt und ob jemand wie Daniel denn einen Grund hätte, wütend zu sein.
Die grünen Augen über seinen Besitz schweifen lassend, kam er zu dem Schluss, dass er oberflächlich betrachtet wirklich ein reiches Kind war.
Sein Zimmer war sicher zweimal so groß wie das der meisten Kids im Ort, er hatte unzählige Bücher, besaß mehrere Spielekonsolen mit echt guten Games, sogar eine kostbare Gitarre, einen Spitzencomputer, einen Laptop und sogar bereits ein Auto, auch wenn er es noch nicht fahren durfte. Sein Kleiderschrank war voller Marken- und Designerklamotten und er bekam ziemlich viel Taschengeld. Doch was brachte ihm das?
Er war im Grunde immer allein. Seine Freunde leisteten ihm zwar Gesellschaft, aber nur, solange alles im grünen Bereich war. Sobald er schlecht drauf war, jemanden zum Reden oder nur zum Auskotzen brauchte, waren sie alle hyperbeschäftigt. Zu beschäftigt für ihn.
Seine vielen Bücher waren bereits abgegriffen, weil er sie alle mehrmals gelesen hatte, da war niemand, der ihm beim Videospielen Gesellschaft leistete und es gab noch nie jemanden, für den er auf der Gitarre hätte spielen können, obwohl er es beherrschte.
Was also brachte all das Zeug, wenn niemand zum Teilen da war? Und bei einer Sammlung von annähernd dreihundert dicken Wälzern bedeutete das auch nur, dass er sonst nichts zu tun hatte in seiner kargen freien Zeit. Daniel besuchte einen Tennisverein, in dem er niemanden mochte, machte einen Sport, den er doof fand und kannte mehr Tutoren aus Sprachkursen als Gleichaltrige. Dass er von den meisten Jugendlichen seines Heimatdorfes schikaniert wurde, weil sein Vater so ein aufgeblasener Ochsenfrosch war, setzte dem Ganzen die Krone auf.
Daniel fand schon, dass es auch in seinem scheinbar perfekten Leben Dinge gab, wegen denen er durchaus wütend sein konnte. Doch das zeigte er nicht nach außen. Hatte er nie getan. Das war nicht seine Art.
Daniel war kein mutiger Typ, keiner der aufstand und laut seine Meinung sagte, sondern einer von denen, die stumm litten. Zu spüren bekamen das seine Fingernägel, die er manchmal bis aufs Blut zerbiss.
In seinem Zuhause lag einiges im Argen, was natürlich niemand wusste. Die erste Familie im Ort, wer würde schon erwarten, was hinter verschlossenen Türen abging?
Er seufzte, als er sich erinnerte, dass er erst vor einer Stunde drauf und dran gewesen war, Marius sein Herz auszuschütten über all diese Dinge. Ausgerechnet dem, der genug eigene Sorgen hatte und sich sicher nicht für die Kinkerlitzchen des ‚Dorfprinzen’ interessierte. Was waren seine Probleme schon gegen die von Marius, der von seinem cholerischen Vater geschlagen wurde?
Gedankenverloren begann Daniel, an seinen Nägeln zu kauen, während er auf den Fernseher starrte, ohne zu sehen, was dort lief. Wann immer sich der Stress anhäufte, konnte er nicht anders und knabberte so lange, bis er sich beruhigt hatte oder der erlösende Schmerz ihn zwang, damit aufzuhören. Auch dieses Mal dauerte es nicht lange, bis er Blut auf seiner Zunge schmecken konnte. Er lutschte noch einen Moment, um die Wunde zu verschließen, bevor er die Finger reumütig an der Bettwäsche trocknete.
Seine Mutter hasste es, dass er an den Nägeln kaute und rügte ihn in einer Tour deswegen, bezeichnete es als kindisch und nötigte ihn immer wieder, damit aufzuhören. Sie hatte nicht verstanden, dass es Stress abbaute.
Warum sollte sie auch? Sie sah nicht, was sie und ihr Mann ihrem Sohn zumuteten und glaubten nicht, dass er litt. Er hatte ja schließlich alles nur vom Feinsten und er war ein Heinemann.
Als würde der Name allein etwas ausrichten. Bei seinen Klassenkameraden hatte es ihm eher Schande gebracht. Oder Schmarotzer, die versuchten, sich in seine Nähe zu bringen, um ihren eigenen Vorteil auszubauen, ihn auszunutzen und solche Dinge. Und Daniel, eigentlich ein unsicherer Junge, der nur früh gelernt hatte, diese Seite zu verstecken, musste schon immer höllisch aufpassen, dass seine Einsamkeit ihn nicht dazu trieb, auf diese falschen Freunde hereinzufallen.
Das war auch so ein Grund, warum er, je älter er wurde, noch mehr mit Marius befreundet sein wollte. Bei ihm hatte er immer das Gefühl gehabt, dass es völlig egal war, wie viel Taschengeld er bekam, dass er ihn ganz unabhängig von diesen Dingen mögen könnte. Einfach ihn als Mensch, ohne den dussligen Namen oder den vermeintlichen Stand in der Gemeinde.
Daniel seufzte. Warum konnte er nicht endlich aufhören, daran zu denken und Marius als jemanden zu glorifizieren, der er gar nicht war?
Dieser hatte schließlich bewiesen, dass er nicht so war, war zusammen mit seiner Clique die letzten Jahre dafür verantwortlich gewesen, dass Daniel immer wieder irgendwelche blöden Streiche gespielt worden waren, sie hatten ihn verhöhnt, geärgert, ihm lächerliche Spitznamen gegeben.
Hätte Marius das getan, wenn er wirklich so wäre, wie Daniel immer fantasiert hatte?
Ja, als Kind war er immer dafür gewesen, dass er, Daniel, mitspielen durfte, aber er war dabei nicht wirklich ausdauernd gewesen. Er hatte seinen Freunden früher auch öfter den Wind aus den Segeln genommen, wenn es um besonders fiese Streiche ging. Aber dennoch hatte er bei all diesen Sachen mitgemacht.
Marius war ebenso daran beteiligt gewesen, aus Daniel einen unsicheren Jugendlichen zu machen, der sich inzwischen wirklich etwas hinter seinem Namen und einer Fassade versteckte, wie alle anderen.
Doch das war Vergangenheit. Sie hatten beide beschlossen, das hinter sich zu lassen und einander heute eine neue Chance zu geben. Sie waren keine Kinder mehr, denn diese machten Fehler, ohne an die Folgen zu denken.
Daniel wollte derjenige sein, dem Marius sich anvertraute. Es war ein frommer Wunsch, denn immerhin war Ralf Weinmann dessen bester Freund. Aber der dunkelhaarige Jugendliche glaubte zu wissen, dass Marius Ralf nichts über die Sache mit seiner sexuellen Orientierung erzählen würde. Dafür waren die Jungs aus der Clique zu sehr damit beschäftigt, abfällige Homowitze zu machen.
Daniel würde das nicht tun, denn er betrachtete sich als aufgeklärt und hatte sich, aufgrund seiner umfassenden Büchersammlung, schon das eine oder andere Mal damit beschäftigt. Ihn schreckte das nicht ab, egal was die Lengweder sagten oder glaubten oder welche moralischen Werte sie vertraten.
Leise auflachend schüttelte er den Kopf. Was war er doch für ein Trottel, Marius in seinen Gedanken bereits zu einem Schwulen zu machen, obwohl er das gar nicht wusste. Wie sehr konnte eine blöde Bemerkung einer zurückgewiesenen Frau doch den Verstand anregen.
Marius hatte Recht. Wenn das schon bei Daniel so rasant gegangen war und sich so intensiv gesteigert hatte, was würde dann erst bei den Leuten passieren, die das für unnormal oder widerlich hielten? Das kleinste Gerücht könnte zu einer Flutwelle werden, die ungebremst auf den dunkelblonden Teenager zurollen würde.
Daniel kippte gelangweilt und müde auf die Seite und musste unwillkürlich kichern, als er sich daran erinnerte, wie Marius versucht hatte, Sergio ohne seine Hilfe zu baden. Dass die Stimmung so plötzlich gekippt war, bedauerte der Junge wirklich und nahm sich vor, den Anderen darauf anzusprechen. Denn es konnte ja nur an ihm gelegen haben, schließlich hatten sie sich zuvor so gut verstanden.
Daniel glaubte nicht, dass es daher rührte, dass Marius sich unwohl gefühlt hatte, weil er nach Seewasser gerochen hatte. Denn so schlimm war das gar nicht gewesen.
Und er würde ihn fragen, was er hatte sagen wollen, bevor er so abrupt die Flucht ergriffen hatte.
Schließlich hatten sie gesagt, sie würden einen Neustart versuchen und noch mal ganz neu anfangen.
Daniel wollte das wirklich.