»Na, bist du auch auf der Flucht?« Marius, der nassgeschwitzt und außer Atem war, lächelte schief, als er sich wieder aufrichtete.
»Auf ... der Flucht? Du etwa?«
»Wenn ich könnte, wäre ich es.« Der dunkelblonde Jugendliche wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht und den Nacken trocken und atmete tief durch.
»Offenbar. Bei dieser Hitze laufen zu gehen, dafür hast du ... sicher einen triftigen Grund.« Daniel hörte selbst, wie distanziert und unsicher sich seine Stimme anhörte. Da es Marius den ganzen Tag über zu peinlich vor seinen Freunden gewesen war, mit ihm zu reden, empfand der es als besser, wieder mehr auf Abstand zu gehen. Er wollte von dem Dunkelblonden nicht wie ein verruchtes kleines Geheimnis behandelt werden.
»Hast du was?«
»Warum?« Daniel fühlte sich ertappt und stopfte, damit er Marius nicht ansehen musste, sein Handy in die Hosentasche.
»Du klingst ... hm ... bist du sauer?«
»Sollte ich?«
»Daniel!«
Der Jugendliche seufzte und hob den Kopf. »Na, ich ... finde es nur komisch, dass du mich erst stehen lässt, dann ignorierst, aber kaum sind wir an einem Ort, wo uns keiner sieht, ist alles wieder ganz normal? Wenn du dich schämst, mit mir zu reden, dann ... ich brauch das nicht.«
»Tut mir leid«, Marius klang ehrlich aufrichtig und Daniel seufzte nur wieder. »So ist es aber nicht. Ich schäme mich nicht.«
»Dann ist es wegen Franziska und ihrem blöden Gerede?«
»Denk‘ schon. Ich will einfach nicht, dass da Gerüchte aufkommen, weil sie so bescheuert ist.«
Der Dunkelhaarige nickte leicht. »Also ... ist es doch nicht ganz so weit her mit deinem ‚Ich lasse mir nichts verbieten’.« Daniel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wischte es aber gleich wieder von seinem Gesicht. Er glaubte, sich vage vorstellen zu können, wie es sein musste, einen Vater wie Heinrich Förster zu haben, dem schon wegen weniger die Hand auszurutschen drohte.
»Vielleicht nicht. Aber ich muss mir das selbst sagen, weil ich sonst ... ich will nicht so werden wie meine Mutter und niemals so wie mein Vater. Wenn ich nicht wenigstens versuche, meinen eigenen Willen zu behalten, kann ich mir gleich einen Strick nehmen. Mein Leben ist gerade wirklich richtig beschissen, kompliziert, schwierig ... einfach zum Kotzen.«
»Wollen wir uns dahinten ein bisschen hinsetzen? Am Wasser? Dann kann Sergio baden ...«
»Und ich mich waschen. Mann, wir laufen uns auch immer nur dann über den Weg, wenn ich stinke wie ein Iltis.« Marius lachte und nickte als Antwort auf Daniels Frage.
Gemeinsam folgten sie dem Weg zwischen den Weiden einige Meter, bis sie an das kleine Wasserreservoir gelangten, das den Kühen als Tränke diente. Eigentlich war es nur eine Ausbuchtung des Grabens, der sich rund um und durch Lengwede schlängelte. Dadurch, dass der kleine Bach das Reservoir an zwei Seiten speiste, war das Wasser immer in Bewegung und daher sauber und sehr klar.
Die Jungen ließen sich ins weiche Gras fallen und verschnauften, während Sergio genau das tat, was Daniel vermutet hatte. Der Hund stürzte sich ans Ufer, schnupperte und war mit einem Satz bis zur Brust drin. Es war nicht tief, würde den Jungen gerade einmal bis zu den Waden gehen, doch für eine französische Bulldogge war es etwas anderes.
»Hast du nicht gesagt, er badet nicht gern?«
»Zuhause in der Wanne draußen nicht, nein. Mit Shampoo und Brause, das mag er nicht. Das lässt er nur im Hundesalon zu, weil er offensichtlich weiß, dass er sich da benehmen muss. Aber so ein Tümpel, das ist was anderes. Da kann er sich im schlimmsten Fall dreckiger als vorher machen. Wenn er zum Beispiel durch diesen grünen Schaum spaziert, der sich manchmal oben drauf sammelt oder so. Richtig eklig.«
Marius lachte, zog die Schuhe aus und rutschte weiter ans Ufer heran, um seine Füße ins Wasser zu halten. Die Muskeln in seinen Beinen und in seinem ganzen Körper brannten von seinem Marathon so sehr, dass er wohlig seufzte, als das kühle Nass seine Haut berührte.
Er zog sich sein ärmelloses Shirt über den Kopf und tauchte es ein. Es war feucht vom Schweiß und würde sich wunderbar anfühlen, wenn er es anschließend kühl vom Wasser wieder anziehen konnte.
Als er plötzlich die Fingerspitzen von Daniel auf seiner Haut spüren konnte, genau an der Stelle, an der er am Nachmittag gegen die Tür geprallt war, zuckte Marius zusammen. Er zischte und wandte sich erschrocken zu dem anderen Jungen um, der ehrlich erschüttert aussah, von der Prellung aufblickte und ihm ins Gesicht sah.
»War das dein Vater?«
»Die übliche Auseinandersetzung: Vater besoffen, Mutter paralysiert, Kind spielt den Helden und kriegt die Dresche. Ist schon gut.« Marius wrang das T-Shirt aus und zog es wieder an. Er wollte nicht, dass Daniel noch länger auf die Spuren des wunderbaren Familienlebens im Hause Förster starren konnte.
»Sicher? Es sieht aus, als würde es sehr weh tun.«
»Ich bin doch nicht aus Zucker«, Marius hörte zu seinem eigenen Ärger, wie verstopft seine Stimme klang, als würde etwas auf seine Nase drücken.
»Vielleicht ... hm ...« Daniel erhob sich, krempelte die Hose hoch und zog die Schuhe aus, bevor er barfuß in den kleinen Teich stieg, in dem Sergio wie ein Krokodil auf der Lauer lag und Libellen beobachtete. Dem Hund war es ebenfalls zu warm.
Der Dunkelhaarige zog ein Stofftuch aus der Hosentasche und tauchte es ein, spülte es einige Male aus und wrang das überschüssige Wasser aus, bevor er sich neben Marius ans Ufer hockte und beherzt dessen T-Shirt am Rücken hochzog.
Dieser, durch diese ungewohnte und plötzliche Intimität verwirrt und aufgeregt, wollte protestieren, doch der Andere zischte nur und legte das kalte Taschentuch auf die Stelle, die bereits blau zu werden begann und morgen sicher richtig wehtun würde, wenn Marius die Prellung nicht kühlte.
»Mecker’ nich’«, brummte Daniel und strich das Tuch auf der Haut glatt. Marius glaubte, an seinem eigenen Herzen ersticken zu müssen, das so heftig schlug, dass der Andere, dessen Hände über seinen Rücken strichen, es spüren musste.
»Ist das besser? Wenn du das nicht kühlst, kannst du dich morgen nicht bewegen.«
Der dunkelblonde Jugendliche war froh, dass der Tag bereits in den Abend übergegangen war und die Sonne sich allmählich rot färbte. Er wollte unter keinen Umständen, dass Daniel bemerkte, dass er seinetwegen so knallrot angelaufen war.
»So«, seufzte der Dunkelhaarige und setzte sich wieder neben Marius, »beschissen, kompliziert und schwierig also?«
»Genau mein Leben. Ja. Aber ich will dich damit nich’ nerven ...«
»Tust du nicht ... weißt du ... mit meinen Leuten rede ich nie über ... wirklich ernste Dinge. Da tut jeder so, als wäre das Leben ein Zuckerwatteland und es gäbe keine schlimmeren Probleme als eingetrockneter Nagellack, ein halbes Kilo zuviel auf der Waage oder ein leerer Tank.«
»Tiefschürfend ...«
»Ja. Also ... wenn du reden willst. Ich weiß nicht, ob ich zuhören kann, ich hatte kaum die Gelegenheit dazu. Aber ich biete mich an.«
Marius seufzte. »Ich habe das Gefühl, du kannst auch einen Kummerkasten gebrauchen?«
»Wer braucht den nicht hin und wieder? Aber ich bin‘s nicht, der eine frische Prellung auf dem Rücken hat. Mein Schlimmstes heute war ein Rüffel, weil Sergio etwas Matsch ins Wohnzimmer getragen hat, da ich vergessen hab, die Tür zu schließen ... ich glaube, du hast gewonnen.«
»Es ist kein Wettstreit. Weißt du, ich glaube nicht, dass ich größere Probleme habe, nur weil mein Vater ein cholerischer Penner ist. Es gibt viele Arten, wie Eltern ihre Kinder misshandeln können und nicht jede hat was mit körperlicher Gewalt zu tun ...«
»Da hast du Recht.«
Die beiden schwiegen eine Weile, hörten dem leisen Gluckern des Wassers zu, dem Hecheln des Hundes, der inzwischen am Ufer in der Sonne lag und sein Fell trocknen ließ und dem Zirpen der Grillen im hohen Gras. Es war schön, friedlich und Marius wünschte sich, nie mehr woanders sein zu müssen als hier, auf einer Weide weitab von Lengwede, seinen Eltern, seinen Sorgen, zusammen mit Daniel und dem Sonnenuntergang.
»Als ich ein Kind war, war alles so viel einfacher«, fing der Dunkelblonde nach einigen Minuten wieder ein Gespräch an. »Niemand machte sich Sorgen um verletzte Gefühle. Wenn es Streit gab, schmollte man eine Weile und spielte dann doch wieder miteinander, denn was hätte man sonst machen sollen? Hier ist es viel zu langweilig gewesen, um allein rumzuhängen ... aber wann hat sich das geändert? Ab wann wurde alles so scheiße?«
»Als ich das erste Mal ‚Alice im Wunderland’ mit Kathrin und Monique spielen und ein Kleid anziehen sollte. Ab da wurde es das«, Daniel lachte einen Moment gehässig, was Marius zum Grinsen brachte.
»Ein Kleid?«
»Ja ... sie meinten, ich sei nicht lustig genug, um den verrückten Hutmacher zu spielen, also haben sie mich kurzerhand zu einer Dienstmagd gemacht. Nicht eine der anderen Figuren, die viel spannender gewesen wären, nein. Eine unbedeutende Magd. Und so verlief das Spiel dann auch. Die beiden haben hin und her gespielt und ich stand am Rand. Ich habe die meiste Zeit nur zugesehen. Das ist irgendwie die Geschichte meines Lebens ... immer am Rand, niemals wirklich dabei.«
Marius streckte sich im duftigen Gras aus und verschränkte die Arme hinter dem Nacken.
»Wir waren wirklich beschissen zu dir. Wenn ich das heute so höre und versuche, mir vorzustellen, wie sich das angefühlt hat, zerfrisst es mich richtig. Warum waren wir eigentlich so blöd? Wir haben genau das weitergelebt, was unsere Väter schon falsch gemacht haben. Die beiden konnten sich nicht ab und wir haben das weiter lebendig gehalten, ohne einander wirklich zu kennen. Das ist doch echt krank ...«
»Umso besser, dass wir versuchen, etwas zu ändern, oder?«
Der dunkelblonde Jugendliche wandte den Kopf zu Daniel um, der die Beine im Schneidersitz verschränkt hatte und in die Abendsonne blickte. Es schmerzte Marius, ihn so zu sehen. Der Dunkelhaarige war so hübsch und wirkte so traurig und zerbrechlich. Marius hätte gern eine Zeitmaschine gehabt, um all das Unrecht wiedergutzumachen, das der Andere von ihm und seinen Freunden zu erdulden gehabt hatte. Oder eine neue Gelegenheit, jetzt in ihrer Gegenwart etwas zurückzugeben, damit Daniel sich besser fühlte, weniger wie ein Zaungast, dessen Gesellschaft niemand wirklich wollte.
»Ich will dich dabei haben. Immer.«
Der Dunkelhaarige wandte überrascht den Kopf und blickte Marius ins Gesicht, der verlegen aussah und rote Wangen hatte.
»Wie?«
Der dunkelblonde Teenager biss sich auf die Zunge. Die Aussage war ihm herausgerutscht, bevor er sie hatte stoppen können und dieses Mal konnte er es nicht auf die Sonne schieben, dass er rot geworden war.
»Na ... du denkst, dass keiner Wert auf dich legt ... also ... ich hab genug falsch gemacht. Also ...« Marius haspelte und seufzte schließlich.
»Das ist nett von dir.«
»Ich bin nett.«
Daniel zwinkerte. »Nur warst du es nicht immer zu mir.«
»Ich sage ja, als ich ein Kind war, war vieles, was heute kompliziert ist, viel einfacher ...«
»Also musstest du erst siebzehn werden, um dein Gewissen zu entdecken?«
»Oder was anderes«, murmelte Marius, woraufhin ihn sein Gegenüber verwundert ansah.
»Was meinst du?«
»Nichts ...«
»Weißt du, ich bin gut darin, Geheimnisse für mich zu behalten ... also ...«
Marius setzte sich wieder auf und fuhr sich durch die Haare. Er seufzte, denn alles in ihm schrie danach, über die Dinge zu reden, die ihm auf der Seele lagen. Doch konnte er ausgerechnet dem Objekt seiner Sehnsucht erzählen, dass all die blöden Sachen, die Franziska über ihn erzählte, der Wahrheit entsprachen? Vor allem, dass er nachts von Sachen träumte, die er sich nicht einmal wagen würde, laut auszusprechen und dass er eigentlich nichts mehr wollte, als von jemandem in den Arm genommen zu werden, weil er das Gefühl hatte, allmählich den Halt zu verlieren?
Zu seinem eigenen Schock konnte er sich aufschluchzen hören und schlug die Hände vors Gesicht.
»Hey ...« Erschrocken wandte sich Daniel zu Marius um und hatte die Hände unschlüssig erhoben. Er wusste nicht, was er tun sollte. Der erste Impuls wäre eine Umarmung, als natürliche Reaktion, wenn jemand weinte. Doch so eng befreundet waren sie nicht und er wusste nicht, ob das Marius recht wäre. Also legte er ihm nur die Hände an die Unterarme. »Alles okay? ... Hm ... dumme Frage, tut mir leid.«
Marius entzog sich der Berührung und wischte sich energisch über die Augen. »Alles gut. Ich hab nur ... ein bisschen viel Stress und Druck gerade. Ist okay. Sorry. Ich wollte nich’, dass du dich unwohl fühlst.«
»Ist schon gut ...«
»Nee, ist es nicht. Mein Vater sagt, ein Mann, der weint, ist ein Schwächling. Und ich bin keiner!«
»Das ist doch idiotisch! Hast du wegen deiner Chromosomen keine Gefühle? Sind deine Nerven aus Stahl, dass es nie passieren kann, dass sie reißen? Niemand muss sich für Tränen schämen. Dein Alter hat kein Herz, das ist alles.«
Marius lächelte Daniel an. Es gefiel ihm, wie der über Heinrich herzog.
»Danke.«
»Wofür?«
»Ich weiß nicht ... irgendwie ... ist es jetzt besser.«
Der Dunkelhaarige grinste. »Vielleicht ist das das Geheimnis der Frauen. Sie lästern total viel, weinen öfter und sind deswegen seltener gestresst. Vielleicht sollten wir uns daran ein Beispiel nehmen.«
»Deine Freunde machen das doch auch.«
»Und damit hast du den Beweis. Die haben sonst nix zum Nachdenken, also schaffen sie sich etwas, in dem sie über andere richten.«
»Es muss wirklich wunderbar sein, wenn man sich über nichts weiter Sorgen machen muss als über seine First World Problems und warum man nicht noch mehr in den Arsch geschoben bekommt ...« Marius streckte sich wieder aus. Der kleine Gefühlsausbruch war zwar irre peinlich gewesen, doch es hatte ihn tatsächlich etwas erleichtert. Nur für eine Sekunde etwas von dem Druck nach außen abgeben zu können, nicht damit allein zu sein, das war unglaublich hilfreich gewesen.
»Na ja ... findest du denn, ich hätte auch nur solche Probleme?« Daniel sprach leise.
»Ich weiß nicht. Du hast mir nix davon erzählt. Aber du passt nicht in ihre Verhaltensschablone und ... du wirkst oft unglücklich. Also denk‘ ich mal, du sorgst dich über wichtigere Sachen als darüber, welches Auto du zum Geburtstag bekommst.«
»Ich wirke unglücklich?«
Marius nickte. »Ja. Und wir sind daran bestimmt nicht unschuldig. Mann, irgendwann hack‘ ich mir aus Reue noch ‘nen Arm ab.«
»Und dann? Damit ist weder mir geholfen noch dir«, Daniel schmunzelte.
»Ich weiß. Und die Scham wird auch nicht weggehen.«
»Aber ... es ist nicht das, was dich so belastet, oder? Also ... denn das würde mich echt stören. Ich will nicht der Grund dafür sein, dass du so angespannt bist. Und ... ich möchte auch nicht, dass du aus Mitleid deine Zeit mit mir verbringst.«
Marius lachte unwillkürlich. Wenn es mal nur das wäre, dachte er spöttisch. Das wäre so viel leichter zuzugeben als die Wahrheit.
Daniel zog verwundert die Augenbrauen hoch, was ihn so süß aussehen ließ, dass der dunkelblonde Jugendliche zu grinsen anfing. »Nein. Nein, glaub mal, das ist es nicht.«
»Sicher?«
»Ja ... also ...«, Marius räusperte sich, »irgendwie hat es schon mit dir zu tun, aber nicht so, wie du denkst. Ich bereue, dass wir so gemein zu dir waren, wo es viel einfacher gewesen wäre, alle Kumpels zu sein. Aber ich hänge nicht aus Mitleid gern mit dir rum. Ich finde es ... angenehm, mal allein mit jemandem zu sein. Mit all den anderen ist es manchmal so unglaublich laut, mit dir ist es das nicht.«
»Also ... suchst du meine Gesellschaft, weil ich langweilig bin?«
Marius lachte wieder. »Quatsch! Warum sollte ich denn das tun? Du bist nicht langweilig. Wirklich nicht.«
Daniel schaute unsicher auf seine Finger.
»Denkst du das? Dass ich nur versuche, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen und dich fallen lasse, sobald ich meine, genug getan zu haben?«
Der Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern und Marius seufzte. Er schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch.
»Nein. Ich mag dich, okay?«