Daniel wandte den Blick zu Marius, der aussah, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Du siehst ehrlich gesagt gar nicht danach aus gerade ...«
»Doch, ich meine es aber so ... ich bin nur ... ich will nicht, dass du ... das falsch verstehst, wenn ich das so sage ...«
»Weil du glaubst, dass ich glaube, was Franziska gesagt hat, und wenn du sagst, du magst mich, soll das in echt heißen, dass du mich nageln willst?« Daniel konnte sich ein schmales Grinsen nicht verkneifen und Marius lächelte schief.
»Irgendwie ... ja?«
»Magst du deine anderen Freunde?«
»Klar.«
»Aber bei mir ist‘s dir peinlich, wenn du das so sagst. Für Franziska wäre das bestimmt ein weiteres Indiz«, der dunkelhaarige Jugendliche zwinkerte und atmete durch. Zu wissen, dass der Andere es ernst meinte, erleichterte ihn sonderbar.
Marius seufzte schwer. Daniel hatte recht. Bei keinem anderen seiner Freunde würde er auch nur mit der Wimper zucken, ein ‚Ich mag dich’ herauszuhauen, aber bei dem Dunkelhaarigen hatte er richtig Anlauf nehmen müssen – und hätte gern mehr gesagt als nur das. Denn Marius mochte ihn nicht nur, wie man einen Kumpel mochte. Sondern so, wie ein Junge ein Mädchen mögen sollte, wenn alles normal lief. Und auch, dass er ihn gern ‚nageln’ würde, obwohl er das höflicher ausgedrückt hätte.
»Sag mal«, setzte Daniel an, »ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber: Nehmen wir mal an, rein theoretisch, Franziskas Gelaber trifft nun zu und du ... na ... also, würdest du es mir sagen?«
»Warum? Was würdest du mir darauf antworten? Ich würde gar nichts sagen, wenn ich nicht sicher wäre, nicht gegen eine Wand zu laufen. Denn keiner hat Bock auf eine Abfuhr. Und auf so eine schon gar nicht!«
»Das nicht, aber ... man kann nicht ewig alles in sich hineinfressen, sonst reißt einem irgendwann der Faden und man tut sich was an oder so. Ich will nur sagen, dass ich niemanden verurteilen würde. Auch wenn ich eigentlich so erzogen worden bin. Ich denke nur, dass es bestimmt schon schwer genug ist, mit so einer Situation allein dazustehen und wenn man dann niemanden hat, dem man sich anvertrauen kann ...«
Marius seufzte. »Du denkst, ich bin schwul, oder?«
»Ich ... ich weiß nicht«, Daniel rieb sich über das Gesicht und lächelte schief, »ich hab seit dem Vorfall am See einen Floh im Ohr und ... ich beobachte dich und du wirkst so angespannt und übervorsichtig. Du scheinst solche Angst zu haben, dass irgendwelche Gerüchte aufkommen und reagierst so gereizt und wütend auf jeden Verdacht und jeden Spruch von Franziska ... ich meine, sie würde mich vermutlich auch nerven, aber ... Tut mir leid. Ich wollte nicht davon anfangen. Machen deine Freunde bestimmt schon zur Genüge.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Alter.«
»Huh?«
»Die Frage von vorhin, die rein theoretische. Was würdest du mir antworten, wenn ich dich bitten würde, mein fester Freund zu sein?«
Daniel sah Marius einen Moment verdattert an und dieser konnte die Räder hinter dessen Stirn förmlich hören. Im Magen des Dunkelblonden hingegen tummelten sich gerade Millionen Würmer, die wühlten und drückten und ihm Übelkeit bescherten. Ein großer Teil von ihm hatte Angst vor dem, was der Andere sagen würde.
»Äh ... also ...«, der Dunkelhaarige lief rot an, ganz eindeutig und es lag nicht an der Sonne, »k-keine Ahnung ...«
»Das ist schon mal kein Nein. Beruhigt mich ja schon fast«, Marius grinste und hasste sich dafür, dass sein Herz raste, weil Daniel so nervös reagiert hatte.
»Wir haben vielleicht Themen«, murmelte der dunkelhaarige Jugendliche und sah auf die Uhr. »Oh ... es wird wohl allmählich Zeit. Es ist gleich acht. Ich muss heim zum Essen.«
Marius richtete sich auf und streckte sich, was ihn aufgrund der Rückenprellung leise stöhnen ließ. Er fummelte sich das inzwischen fast trockene Taschentuch von der Haut und reichte es Daniel rüber. »Danke dafür. Ich mach mir zuhause ein Kühlakku fertig.«
»Gern geschehen. Gehst du den Weg über den Feldweg zurück, oder ...?«
Der dunkelblonde Teenager erhob sich und blickte über die Weiden. Lengwede lag etwas über einen Kilometer querfeldein entfernt und man konnte die äußeren Anwesen am Ortsrand zwischen einigen Bäumen erkennen.
»Mir egal, ich kann auch mit dir mitgehen, wenn du nicht allein gehen willst«, der Jugendliche grinste und Daniel, der sich gerade Gras von der Hose putzte, schmunzelte. Die Laune des Förster-Jungen hatte einen ziemlichen Schlenker in die bessere Richtung gemacht.
»Dann über den Friedhof zurück. Da ist die Straße besser.«
»Oder wir staksen über die Weide ...«
»Um in Kuhfladen zu treten? Sergio wälzt sich da nur drin und das willst du nicht in einem Graben auswaschen, das versprech’ ich dir.«
»Ewww ...«
»Genau!« Daniel grinste und machte dem Hund Beine, der ein Nickerchen gemacht hatte, während die beiden Jungen sich unterhalten hatten.
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Daniel fühlte sich entspannt und ausgeglichen, als er sich am Tor von Marius verabschiedete, Sergio in die Tür schob und die hinter sich schloss. Der Spaziergang, die getankte Sonne und nicht zuletzt die Zeit mit dem dunkelblonden Teenager hatten seine Laune wieder gebessert. Er fütterte den Hund und gab ihm frisches Wasser, bevor er müde das Haus betrat und seine Schuhe in den Schrank stellte.
»Kannst du mir sagen, seit wann du dich mit dem Förster-Bengel abgibst, bitte?«, schnarrte die Stimme von Friedrich aus der Küche zu dem Jugendlichen hinüber und dieser zuckte leicht. Ein schweres Gefühl, wie das, bei etwas Unrechtem ertappt worden zu sein, breitete sich in seinem Magen aus und er wandte sich an seinen Vater.
»Wir sind nur ein Stück gegangen. Ich hab ihn zufällig getroffen.«
»Nachdem du dich Stunden mit dem Hund herumgetrieben hast, anstatt deine Hausaufgaben zu machen.«
»Es sind ohnehin bald Ferien ...«
»Spielt das eine Rolle? Pflichten sind Pflichten und Ausreden sind etwas für Faulpelze wie diesen Marius und seine nichtsnutzigen Kumpane. Ich will nicht, dass du dich mit einem von denen abgibst und dass deren Ungezogenheiten auf dich abfärben, hast du mich verstanden?«
»Aber ...«
»Nichts aber! Gib mir keine Widerworte, Junge! Halte dich an deine Freunde und nicht an dieses Gesindel, das dich nur zu Dummheiten verführt. Du bist etwas Besseres als sie, also benimm’ dich entsprechend! Erst recht bist du besser als jeder von den Försters. Dieses Pack hätte man schon vor Jahren aus dem Dorf vertreiben sollen. Mein Sohn wird nicht mit einem von ihnen herumlaufen, verstehen wir uns da?«
Daniel biss sich auf die Lippe. Wenn die Leute in Lengwede wüssten, wie Friedrich insgeheim über sie alle dachte, würden sie ihn nicht jedes Mal wieder zum Bürgermeister wählen.
»Hast du deine Stimme verloren?«
»Nein. Ich hab dich verstanden ...«
»Das möchte ich dir auch geraten haben. Sehe ich dich noch einmal mit diesem Bengel, dann kannst du was erleben. Und jetzt holst du deine Versäumnisse nach, vorher bekommst du kein Abendessen!«
Daniel nickte leicht und das gute Gefühl, das er noch gehabt hatte, als er das Haus betrat, war nun einem kümmerlichen Empfinden gewichen, einem Druck und einer hilflosen Machtlosigkeit seinem Vater gegenüber, der alles mit Gewalt zu beherrschen versuchte und nicht davor zurückschreckte, unlautere Mittel einzusetzen, um seine Ziele zu erreichen.
Er würde Daniel so mit Pflichten zupacken, dass dieser außer für die Schule und Tennis keine Zeit mehr haben würde, das Haus zu verlassen. Und das alles nur, um zu verhindern, dass er sich mit Leuten traf, die in Friedrichs Augen Abschaum waren. Dass diese Menschen ihm, Daniel, vielleicht gut tun könnten, spielte dabei keine Rolle, das zählte nicht.
Mit hängenden Schultern und dem nagenden Wunsch, an den kleinen Weiler zurückzukehren, stieg der Jugendliche die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, setzte sich seufzend an seinen Schreibtisch und begann, seine Hausaufgaben zu machen, den knurrenden Magen ignorierend.
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Währenddessen betrat Marius sein Elternhaus, die Schuhe in die Ecke feuernd und vor sich hin grinsend.
Daniel hatte total verlegen auf die Frage nach einer Beziehung mit ihm reagiert. Das war, wenn man es genau betrachtete, gar keine so schlechte Sache. Er hatte keine Abscheu gezeigt, nicht mit Bestimmung gesagt, dass er sich niemals auf einen Mann einlassen würde oder dass das widerlich sei. Nein, er war rot geworden und hatte gestottert.
Der dunkelblonde Jugendliche wusste natürlich, dass sie nur theoretisch gesprochen hatten, aber es hatte gereicht, um seine Anspannung und die schlechte Laune zu lindern.
Leise stöhnend ging er ins Badezimmer und zog das T-Shirt aus. Die Prellung am Rücken hatte wirklich eine interessante Farbe angenommen und tat weh. Er hatte eine mega gemütliche Nacht vor sich, in der er nicht wissen würde, wie er sich hinlegen sollte, ohne Schmerzen zu haben.
Lächelnd erinnerte er sich daran, dass Daniel ihn berührt hatte. Das war schön gewesen. Viel besser als jedes Gefummel, was seine damalige Freundin Janine an ihm veranstaltet hatte. Bei ihr war niemals ein Stromschlag durch seinen Körper gefahren und hatte ihn zusammenzucken lassen, weil es sich so intensiv angefühlt hatte.
Murrend verließ er das Badezimmer wieder, nachdem er sich gewaschen hatte. Er wollte sich frische Kleidung anziehen und von seinen Eltern weder etwas hören noch sehen. Und das tat er auch nicht.
Offenbar saßen sie beide zur Abwechslung mal einträchtig im Wohnzimmer und sahen eine Vorabend-Quizshow. Das mochten sie beide, da bestand kein Grund, sich zu zoffen.
Der Duft des Abendessens lag schwer im Flur. Marius war viel zu spät zuhause gewesen und Heinrich hatte wie immer nicht auf seinen Sproß warten wollen. Aber dem war es nur recht.
So konnte er ungestört auf seinem Zimmer vor dem Fernseher essen und musste nicht die ganze Zeit den ungewaschenen Mief seines Vaters ertragen, der mehr soff als aß und ständig rülpste.
Der Jugendliche machte sich einen Teller zurecht und legte die noch immer warmen Kartoffeln mit etwas Soße und Hähnchen darauf. Ohne Bescheid zu sagen, dass er da war, trabte er die Treppe hinauf, stellte alles ab und machte den Fernseher an, bevor er sich Schlafsachen anzog.
Es war zwar erst kurz vor halb Neun, doch er hatte sein Ziel erreicht, hatte sich total ausgepowert durch seinen Marathon und würde zeitig zu Bett gehen.
Vor sich hin grinsend sah er sich einen Krimi an und verzehrte sein Essen. Er hatte nicht damit gerechnet, Daniel zu treffen, doch es war gut gewesen. Die Gefühle, die er in Marius auslöste, hatten diesem so viel Druck gemacht, dass er davon krank geworden war. Und heute hatte Daniel ihm einen großen Teil dieser Sorgen genommen, einfach nur, weil er da gewesen war und sie zusammengesessen hatten.
Marius wünschte sich, offen mit Daniel über diese Dinge reden zu können, denn offenbar war der der Einzige, der das nicht mit einem ‚Ihh, wirklich?!’ beantworten würde. Doch konnte er das wirklich tun? Konnte Marius riskieren, dass der Dunkelhaarige dahinter kam, was er für ihn empfand und dass die Frage gar nicht so theoretisch gewesen war?
Daniel schien offenbar ohnehin davon auszugehen, dass der dunkelblonde Jugendliche schwul war, weil es ihm gelang, die unterschwelligen Zeichen, die Marius gab, richtig zu deuten, was dessen Freunden nicht gelang.
Der Dunkelhaarige war es gewöhnt, am Rand zu stehen, das hatte er selbst gesagt. Solche Leute entwickelten sich zu unglaublich aufmerksamen Beobachtern mit einer sehr dünnen Haut, die Schwingungen zu lesen vermochten und Stimmungen gut einschätzen konnten. Daniel hatte Marius gelesen wie ein offenes Buch.
Der dunkelblonde Jugendliche wünschte, er könnte das andersherum auch. Ihm war der Heinemann-Junge ein Rätsel und Marius fragte sich, was in dessen Leben so schlimm war, dass es ihn so unglücklich machte. Oberflächlich betrachtet sollte er nämlich sehr glücklich sein, auch wenn sein Vater Friedrich ‚Großmaul’ Heinemann war.
Marius glaubte Daniel, wenn dieser sagte, dass es nicht nur mit den Schikanen von ihm und seinen Freunden zusammenhing. Denn die waren zwar fies und sicher nervig gewesen, aber geschahen nicht rund um die Uhr. Das allein würde nicht ausreichen, um so eine depressive Stimmung hervorzurufen, dessen war sich Marius sicher. Also lagen die Wurzeln vielleicht, ebenso wie bei dem Dunkelblonden, in der Familie. Nur dass die Wunden, die die Heinemanns ihrem Sohn zufügten, nicht so deutlich auf der Haut zu sehen waren wie die Verletzungen, die Marius einstecken musste.
Über das Gegrübel und durch die Schwere seines Magens schlief der Jugendliche schließlich bei laufendem Fernseher ein.
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Daniel hatte sich bis nach elf durch seine Hausaufgaben gequält, eine Interpretation zu einem Sonett von Shakespeare geschrieben, Biologie-Aufgaben bearbeitet und ein Arbeitsblatt für den Mathematik-Leistungskurs, den er besuchte, abgearbeitet. Er war müde und sein Rücken in der Zeit steif geworden.
Er hatte, weil es mucksmäuschenstill in seinem Zimmer gewesen war, gehört, dass seine Eltern um ihre übliche Zeit, gegen halb elf, zu Bett gegangen waren und beschloss, sich endlich etwas zu essen zu holen, denn mit einem vor Hunger röhrenden Magen würde er kein Auge zubekommen. Eine Dusche würde er auch noch nehmen. Das Gute daran, dass sein Schlafzimmer im ersten Stock und das seiner Eltern im Erdgeschoss lag, war die Tatsache, dass die sich nicht daran stören konnten, wenn er vor dem Schlafen gehen noch sein Badezimmer benutzte. Das Haus und die Leitungen waren gut isoliert, es war absolut nichts zu hören.
Daniel war sich nämlich sicher, dass sein Vater ihn aus der Dusche zerren und anbrüllen würde, wenn das Geräusch der Wasserrohre ihn wecken würde.
Leise und auf nackten Sohlen ging der Jugendliche über die mit Teppich ausgelegten Stufen nach unten und machte sich in der Küche ein Sandwich. Vom Abendessen war nichts mehr da. Vermutlich eine weitere Strafe von Friedrich dafür, dass sein Sohn sich mit dem ‚Dorfabschaum’ herumgetrieben hatte. Eher würde dieser Mann gute Lebensmittel ins Klo kippen, als nachzugeben.
Doch Daniel hatte beschlossen, sich davon nichts kaputt machen zu lassen. Es war schwierig genug, in dieser Familie und unter den absurd hohen Anforderungen seiner Eltern zu leben und sich zu entfalten. Er wollte nicht, dass der Hass, den Friedrich auf den alten Heinrich empfand, seine Beziehung zu Marius beeinflusste.
Daniel musste unwillkürlich grinsen. Beziehung ... der Dunkelblonde hatte ihn gefragt, was er antworten würde, wenn die Anschuldigungen von Franziska wahr wären. Und das Gefühl, was ihn in dieser Sekunde durchflutet hatte, war eigentlich Antwort genug gewesen.
Doch er hatte nichts davon gesagt, denn wie stünde er denn dann da? Es sollte nicht so sein. Daniel sollte sich lieber eine Freundin suchen - allerdings erst, wenn er mit Schule und Studium fertig war, denn vorher würde Friedrich ihm eh alles verderben, weil er das für Zeitverschwendung hielt.
Es lief vermutlich ohnehin darauf hinaus, dass seine Eltern irgendwann entscheiden würden, welches Mädchen die richtige Frau an Daniels Seite war. Denn sie hielten ihn für viel zu unreif, um sich eine ordentliche Partnerin zu suchen und meinten stets, dass ausnahmslos jede Frau, die sich an Daniel heranwerfen würde, nur scharf darauf wäre, in die Familie der Heinemanns einzuheiraten.
Als wäre das so eine große Errungenschaft und Daniel selbst nicht liebenswert genug, um jemanden zu finden, der ihn auch nehmen würde, wenn er nicht der Erbe des Hofes und des Vermögens wäre.
Der Jugendliche seufzte. Vermutlich würde er niemals frei sein und immer unter der Knute seines Vaters stehen. Daniel hoffte so sehr, dass seine Zukunft etwas anderes für ihn vorsah.
Mit dem Teller in der Hand und einer Flasche Saft unter dem Arm stieg er wieder hinauf, setzte sich auf sein Bett und schaltete den Fernseher ein.
Er sollte aufhören, über all diese düsteren Aussichten nachzudenken. Er konnte doch nichts dagegen tun. Der Name, den er trug, war sein Schicksal und sein Fluch und es gab kein Entrinnen.
Unbewusst fing Daniel an, an seinen Fingernägeln zu knabbern.