Der Freitagnachmittag kam und läutete das Wochenende und das alljährlich an einem Samstag im Juni stattfindende Sommerfest in Lengwede ein.
Ralf und die anderen hatten den ganzen Tag in der Schule Pläne geschmiedet, ob sie hingehen würden, wann die beste Zeit wäre, ob der alte Rosenthal, dem die Gaststätte im Ort gehörte, ihnen wohl etwas von dem Freibier ausschenken würde und wenn nicht, wo sie dann welches besorgen konnten.
Marius war eigentlich kein großer Fan von solchen öffentlichen Zur-Schau-Stellungen der ‚dörflichen Gemeinschaft’, bei denen sich die Prominenz feiern ließ, weil sie ein paar Fässer kostenloses Bier springen ließ, Spanferkel stiftete oder das Ganze einfach sponserte. Andererseits hatte er nichts gegen ein gratis Essen, also würde er sich das sicher nicht entgehen lassen. Das hatte zwar etwas doppelmoralisches, aber das war dem Jugendlichen herzlich egal.
Wenn die feinen Familien Lengwedes das taten und brauchten, um sich wieder wichtig zu fühlen, sah er nicht ein, dass er das nicht ausnutzen sollte.
Die Prellung war inzwischen dunkelblau geworden und als Ralf Marius am Morgen zur Begrüßung auf den Rücken gehauen hatte, war dieser zusammengezuckt und hatte so laut aufgestöhnt, dass seine ganze Clique ihn verwundert angesehen hatte. Marius hatte sich damit entschuldigt, dass er in der Nacht schlecht gelegen hatte, doch der Gesichtsausdruck seines besten Freundes hatte ihm klar gemacht, dass dieser ihm nicht glaubte. Immerhin kannte Ralf Heinrichs Ausbrüche und war selbst oft nur um Haaresbreite drumherum gekommen, sich selbst mal eine zu fangen.
Doch niemand war weiter darauf eingegangen. Sie alle wussten, dass Marius nicht gern darüber sprach, was bei ihm zuhause los war und so nötigten sie ihn nicht dazu. Stattdessen planten sie den Samstag.
Marius hatte sich Daniels Befürchtung, es könnte dem Dunkelblonden peinlich sein, sich mit ihm angefreundet zu haben, zu Herzen genommen. Um dem Heinemann-Jungen zu beweisen, dass es nicht so war, hatte er diesen bei seiner Ankunft an der Bushaltestelle ebenfalls mit einem direkt an ihn gerichteten ‚Guten Morgen’ begrüßt.
Marius war aus dem Augenwinkel aufgefallen, wie Franziska zu feixen begonnen hatte, doch aus irgendeinem Grund hatte ihn das viel weniger gekümmert als noch am Tag zuvor. Er hatte nur Daniels Lächeln bemerkt und wie wohlig sich das in seiner Brust angefühlt hatte. Es hatte wie ein Schutzschild gewirkt, das ihn über den Tag brachte und spitze Bemerkungen einfach hatte abprallen lassen.
So war es nicht verwunderlich, dass Marius nach Schulschluss, als sie aus dem Bus in Lengwede stiegen, tiefenentspannt war. Das schwere Gefühl der Last auf seiner Brust war gelindert worden, als hätte man ihm einen Felsbrocken vom Rücken genommen.
»Machen wir noch etwas?« Die Jugendlichen sahen einander an. Freitagnachmittag und Frühsommerwetter waren immerhin die perfekte Kombination.
»Ich kann nicht«, musste Marius passen. »Ich muss den Rasen mähen. Mein Alter springt schon im Dreieck deswegen, denn das hätte ich letztes Wochenende schon machen sollen. Und meine Oma will ihr Schlafzimmer malern, da soll ich auch helfen ...«
»Okay. Und ihr?« Ralf sah wie ein sehr unzufriedenes Pony aus. Es wurmte ihn, dass seine Leute immer etwas anderes zu tun hatten, wo er viel lieber etwas unternehmen wollen würde.
Die Jugendlichen besprachen sich, während Marius sich reihum verabschiedete und nach Hause trabte. Er hatte keine Lust auf die Gartenarbeit, aber lieber machte er sie als wieder eine Ohrfeige zu kassieren.
Es war still auf dem Förster’schen Hof, als der Jugendliche diesen betrat. Er stellte fest, dass der Trecker und auch das Auto nicht da waren. Das Haus fand er leer vor.
Vermutlich war der Alte tatsächlich mal draußen auf dem Feld und seine Mutter war sicher zum Einkaufen gefahren. Auch die Körbe waren weg, die sonst in der Ecke in der Küche standen.
Dem Jungen konnte das nur Recht sein. Ein paar Stunden seine Ruhe zu haben, kein Gemecker, kein Gezeter, keine Mutter, die an ihm herumzupfte und übertrieben Interesse heuchelte, das bedeutete ihm viel mehr als es das tun sollte.
Er fand es fast traurig, dass er es so derartig genoss, elternfrei zu haben. Bei einem Teenager war diese Abnabelung bestimmt normal, doch er hatte es bereits als Kind genossen, sturmfrei zu haben. Eine Weile allein in dem Haus zu sein und machen zu können, was er wollte, ohne dass Angelika ihn rügte, weil er Unordnung machte oder Heinrich brüllte, er solle mit dem Krach aufhören. Marius fragte sich oft, wie es wohl war, wenn man ganz normale, liebevolle Eltern hatte.
Nachdem er einen Happen gegessen hatte, verließ er das Haus in Räuberzivil und holte den Rasenmäher aus der Garage. Heinrich hatte den kleinen Trecker eigenhändig wieder hineinfahren müssen, nachdem Hannelore Marius am vergangenen Samstag zu sich genommen hatte, damit dieser sich etwas erholen konnte. Das hatte dem grobschlächtigen Mann nicht gefallen und er hatte noch zwei Tage danach darüber gemeckert. Dementsprechend fand Marius den Mäher auch vor - liederlich irgendwo in einer Ecke abgestellt und nicht abgedeckt.
Normalerweise hegte Heinrich seine Maschinen mehr als seine Familie. Dass er das dieses Mal nicht getan hatte, zeigte nur, wie immens wütend er gewesen sein musste.
Der Jugendliche fuhr den Trecker auf den Hof und öffnete das hölzerne Tor in der Durchfahrt, die auf den hinteren Garten führte. Er mochte dieses Fleckchen Erde.
Es war eine große Wiese, vielleicht zwei Drittel so groß wie ein Fußballfeld und bestand zu einem überwiegenden Teil aus Rasenfläche, auf dem im Moment unzählige wilde Blumen wuchsen. Als Marius’ Großvater Erich in Heinrichs Alter gewesen war, war das alles einmal Anbaufläche. Er hatte dort sein eigenes Gemüse gezogen, für die Familie und ein Teil für die damals stattfindenden Bauernmärkte. Als diese abgeschafft worden waren, hatte Erich Förster beschlossen, umzugraben und Rasen gepflanzt, um mit seiner Frau darauf picknicken zu können oder Sonntags in der Sonne zu sitzen. Sogar einen kleinen Grillplatz mit Dach und eine kleine Zeughütte mit intakter Stromversorgung und einer einfachen Toilette hatte er eigenhändig gebaut. Heinrich hingegen nutzte all das kaum, denn er hatte keine Freunde außer den zwei anderen ortsbekannten Säufern, die lieber in der Kneipe hockten. Wer sollte also am Wochenende zum Grillen kommen? Und seinem Sohn und dessen Freunden gestattete er keine Partys auf seinem Grundstück.
Heute war nur noch ein kleiner Teil ein wirklicher Anbaugarten, in dem Angelika und Hannelore Kartoffeln zogen, Karotten, Kohl und gelbe Bohnen. Außerdem gab es Rabatten mit blühenden Blumen und hübschen Sträuchern.
Heinrich war dagegen gewesen, Beete anzulegen, um so etwas Nutzloses wie Schnittblumen darauf zu ziehen, doch die beiden Frauen hatten sich durchgesetzt.
Marius war froh darum, denn nun standen diese Rabatten in voller Blüte und ein feiner Duft wehte ihm entgegen, als er die weite Fläche betrat.
Es war leicht, von dem Durchgang aus über die niedrige Mauer am Ende der Wiese zu schauen, die leicht abfiel und an der der Graben vorbeilief, der Lengwede durchzog und der eine natürliche Grundstücksgrenze bildete. Hinter dem Rasen lag eine große Ackerfläche, die strahlend gelb leuchtete. Das Land gehörte Friedrich Heinemann und der baute darauf Raps an. Heinrich hasste es, dass er jedes Mal, wenn er seinen Garten betrat, das Land seines Erzfeindes sehen musste.
Dahinter wiederum lag der Schlamau, wo das Gelände wieder leicht anstieg und in dem Hügel gipfelte, der die Straße zum Kuhstall hin so steil machte.
Marius seufzte. Dieser Teil seines Zuhauses erfüllte ihn immer mit einem unbestimmbaren Gefühl, einerseits Glück, andererseits Wehmut. Jenseits des Durchganges und der Außenmauern des väterlichen Hofes wirkte alles so friedlich, so zeitentrückt.
Er schwang sich auf den Trecker und begann seine Arbeit, ein bisschen traurig darüber, die bunten Wildblumen zu zerstören, die die Wiese in ein Farbenmeer getaucht hatten. Der Duft des trockenen und frisch geschnittenen Grases hingegen belohnte ihn dafür.
Er erschrak, als er nach einer knappen Stunde zum letzten Mal den Behälter in den Kompost entleerte und seine Großmutter am Durchgang stehen sah.
»Na, du bist aber fleißig, so direkt nach der Schule ...«
Der Jugendliche wischte sich über die Stirn. Er hatte zu schwitzen begonnen und der Duft des Grases verursachte inzwischen ein leichtes Schwindelgefühl in ihm.
»Bevor ich nochmal was auf die Ohren bekomme, mache ich es halt. Schade um die Blumen ...«
Hannelore nickte. »Ja, die waren hübsch anzusehen. Gut, dass ich mir heute Morgen eine Vase voll gepflückt habe.« Sie lächelte und sah ihren Enkel wohlwollend an. »Ich habe Kuchen. Möchtest du etwas? Hast du eigentlich zu Mittag gegessen?«
»Eine Stulle vorhin, als ich nach Hause gekommen bin. Aber Kuchen klingt geil. Käsekuchen?«
Hannelore zwinkerte ihm spitzbübisch zu. »Da fragst du noch? Natürlich.«
»Oh yeah«, freute sich der Jugendliche und folgte der alten Dame in ihre Wohnung, wo er sich als erstes gründlich den grünen Grassaft von den Händen wusch.
»Und dein Schlafzimmer? Ich dachte, du wolltest malern? Ich hab extra meine alten Jeans angezogen ...«
»Oh, entschuldige, Schatz. Ich bin schon fertig.«
»Du hast es allein gemacht?« Marius, der sich auf das Sofa hatte fallen lassen, machte große Augen.
»Na ich bin ja noch nicht so gebrechlich und was steht denn schon in dem Zimmer? Das Bett und die Kommoden. Das bekomme ich auch ohne meinen starken Enkel gestemmt. Ich hab es fertig gemacht, damit du mehr von deinem Nachmittag hast.« Hannelore lächelte und legte ihm Kuchen auf einen Teller, bevor sie ihm Kaffee einschenkte.
»Oh ... na, ich hab mich freigeschaufelt, sonst hätte ich was mit den anderen gemacht. Die wollten, glaub ich, noch mal nach Lenbach fahren oder nach Eichenau ins Freibad ...«
»Tut mir leid«, bedauerte die alte Dame und nahm Platz.
Marius grinste. »Ach, was solls. Ich hab noch Zeug zu lesen.« Der Jugendliche machte ein überraschtes Gesicht, als ihm einfiel, dass er die Broschüren, die der Student ihm nach dem Aufklärungsvortrag gegeben hatte, noch gar nicht gelesen hatte. Die steckten noch immer in seinem dicken Biologiebuch, verborgen vor den Augen Heinrichs und seiner Freunde.
»Es freut mich, dass dir das nicht den Tag vermiest.«
»Neeee ... und morgen gehen wir dann aufs Sommerfest. Wir lassen uns doch kein Spanferkel entgegen, wenn der alte Fritz schon mit seiner Großzügigkeit angeben muss«, der Jugendliche lachte und Hannelore lächelte. Auch sie hielt nicht allzu viel von den Allüren Friedrich Heinemanns. Andererseits überraschte es sie auch nicht, dass der so geworden war. Alle Heinemann-Männer vor ihm waren bereits so gewesen. Sie sah hingegen noch Hoffnung für dessen Sohn, der viel bescheidener und bodenständiger war. Daniel war ein anständiger Junge.
Hannelore verfügte über eine äußerst gute Menschenkenntnis und konnte gut beobachten.
»Ich denke allerdings, wenn ich den Nachmittag allein verbringe, werde ich laufen gehen«, sinnierte Marius, während er sich das zweite Stück Kuchen schmecken ließ, »immerhin werde ich das hier alles aufessen und dann muss ich das abarbeiten.«
Hannelore lachte. »Du willst den ganzen Kuchen essen?«
»Glaubst du, das kann ich nicht?« Marius hob den Löffel wie ein Schwert und grinste lausbubenhaft.
»Oh, ich weiß, dass du das kannst. Ein Junge in deinem Alter, der noch wächst, der schafft das locker. Aber hinterher ist dir nur schlecht.«
»Niemals. Dazu ist es viel zu lecker«, schmatzte der Jugendliche mit vollem Mund.
»Übst du für irgendetwas, dass du in letzter Zeit so oft zum Laufen rausgehst?« Die alte Dame beobachtete ihren Enkel. Sie spürte schon seit Längerem, dass diesen etwas belastete, doch sie wollte ihn nicht drängen, ihr zu erzählen, was er auf dem Herzen hatte.
»Nee, eigentlich nicht. Aber es tut gut. Du weißt, wenn drüben wieder alles kacke ist. Besser das, als wenn ich mir die Hand breche, weil ich gegen die Wand haue. Außerdem hält es fit. Es ist Sommer, Oma. Niemand mag dicke Typen in Badehosen.« Marius grinste.
»Das war ungezogen.«
»Ich weiß, sorry. Aber ich mag halt ... gut aussehen. Also ...«
Hannelore schmunzelte. »So so ... hat das einen bestimmten Grund?«
Der Junge lief rot an, schüttelte aber den Kopf. »Neee. Ich mag es einfach, ich fühle mich dann gut.«
»Das ist ja die Hauptsache. Dass du dich nicht nur für irgendein Mädchen so abstrampelst. Denn wenn dich jemand nur mag, weil du gut aussiehst ...«
»... dann taugt derjenige nichts. Ich weiß, Oma. Ganz deiner Meinung.«
»Was haben wir mit dir doch für einen anständigen Mann großgezogen«, grinste Hannelore förmlich. »Gut, dass du den Jähzorn deines Vaters nicht geerbt zu haben scheinst.«
»Ich weiß nicht. Manchmal fühle ich das auch ...«, murmelte der Junge, »aber ich kämpfe dagegen an. Oder meinst du, ich will, dass meine ... Familie irgendwann genauso von mir denkt wie ich von ihm?« Marius seufzte innerlich. Er wusste bereits jetzt, dass er vermutlich niemals Kinder haben würde. Aber das Empfinden war dennoch echt. Er wollte unter keinen Umständen, dass irgendjemand irgendwann einmal so schlecht von ihm dachte wie die Leute in Lengwede von Heinrich.
»Nein, das glaube ich nicht. Du bist wie dein Großvater. Ein aufrechter Mann.«
»Danke ...« Marius blickte auf seinen Teller. Auf einmal erschien der köstliche Käsekuchen nicht mehr so verlockend. Ein bitteres Gefühl war in seinen Hals gestiegen.
Ob seine Oma immer noch so von ihm denken würde, wenn sie wüsste, dass er nicht normal tickte und dass er sich nicht in irgendein Mädchen aus dem Ort verliebt hatte, sondern in Daniel Heinemann?
Bei Heinrich war es Marius im Grunde egal, was der über ihn dachte, da hatte der Jugendliche nur Angst, was sein Vater ihm antun würde. Denn dass er das nicht freudig aufnehmen oder gar akzeptieren würde, das wusste der Junge ohnehin. Schließlich hasste Heinrich schwule Männer und überhaupt alles, was von seinem Männlichkeitsideal abwich. Marius machte sich insgeheim auch wenig Hoffnungen, dass seine Mutter auf seiner Seite war. Denn die hielt schließlich immer zu ihrem Mann.
Doch bei seiner Großmutter, die Marius sehr lieb hatte, hatte er Angst, dass sie ihn zurückweisen könnte, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Wenn sie erfuhr, dass er gar nicht so ‚aufrecht’ war, wie sie dachte, dass er nicht eines Tages eine Ehefrau und Kinder haben würde und dass sie von ihm keine Urenkel zu erwarten hatte. Sondern dass er stattdessen wahrscheinlich in einer Beziehung mit einem Mann leben würde - sofern er Heinrichs Ausbruch von Hass und Wut überlebte.
Hannelore merkte, wie sich die Stimmung ihres Enkels verdunkelt hatte und strich ihm über die Hand. »Ich weiß nicht, was dich in letzter Zeit so traurig macht, aber das geht irgendwann vorbei. Erwachsenwerden ist eine schwierige Zeit und ich würde nicht mit dir tauschen wollen. Einmal hat mir vollkommen gereicht.«
»Soll das heißen, als du in meinem Alter warst, war das auch alles schon so blöd kompliziert?«
»Als ich so alt war wie du, hatten wir einen Krieg hinter uns und andere Sorgen. Aber all das - die Zweifel und Ängste, die Freunde, all die neuen Gefühle, das erste Mal verliebt sein, das ist heute sicher nicht viel anders als damals. Die Zeiten mögen sich ändern, aber Erwachsenwerden ist nie leicht.«
»Ich könnte ein bisschen weniger davon vertragen«, murmelte der Jugendliche und schob sich den Rest des Kuchenstücks in den Mund.
»Du weißt, dass ich da bin, wenn du dich mal ... wie sagt ihr Kinder heute? Ausquatschen willst. Ich weiß, dass du das mit deinen Eltern nicht tun würdest und vielleicht sind auch die Freunde nicht für alles die richtige Anlaufstelle ...«
Marius zuckte mit den Schultern und streckte die langen Beine auf dem Teppich aus. »Vielleicht gibt es aber auch Sachen, die man mit sich allein ausmachen muss, bis man sie ... akzeptieren kann.«
»Auch das, bestimmt.«
»Ich hab irgendwie gar keine Lust, erwachsen zu werden. Was ist daran erstrebenswert? Im schlimmsten Fall sehe ich eines Tages so aus wie Heinrich und dann? Ich will gar nicht daran denken.«
»Meinst du? Wo du solchen Wert auf deine körperliche Ertüchtigung legst? Nein, nein. Du bist anders als dein Vater. Der war schon immer ein bisschen faul, was Toilettemachen und so anging. Ich muss leider gestehen, ich habe es ihm zu oft durchgehen lassen, als er noch ein Kind war. Andererseits hatten wir ja früher nicht die Möglichkeiten wie heute, mit Dusche und allem. Früher musste Wasser im Kessel heiß gemacht werden, um zu baden.«
»Ich weiß. Er labert ständig davon, dass er keine Lust auf diesen Aufwand hat und einmal die Woche baden reicht ... dass wir inzwischen ne Dusche und so haben ... ach, was reg ich mich auf. Ich frag’ mich nur, wie Mama es schafft, in einem Bett mit ihm zu schlafen.«
Hannelore betrachtete ihren Enkel eine Weile schweigend und seufzte dann leise. »Das sind Dinge, mein Schatz, die uns nichts angehen und die wir auch nicht verstehen müssen. Die Liebe zeigt sich für jeden Menschen anders und Außenstehende haben weder das Wissen noch das Recht, darüber zu urteilen. Deine Eltern lieben sich. Auch wenn du das vielleicht nicht verstehst, weil sie so ein Verhalten untereinander haben. Auch wenn du nicht verstehst, warum deine Mutter bei einem Mann bleibt, der sie und dich schlecht behandelt. Dein Vater braucht sie und sie weiß das. Und solange sie keinen Grund sieht, an ihrer Situation etwas zu ändern, weil die Liebe sie hält, wird auch nichts, was man sagt, sie umstimmen können.«
Marius seufzte schwer. »Liebe ist ein Arschloch.«
»Dein Wort zum Sonntag, mein Junge.«