»Fuck, fuck, fuck!«, fluchte Marius ungehalten, als er den Hof seiner Familie betreten und das Fahrrad hingeworfen hatte. Er trat dagegen und prellte sich den Zeh, doch der Drang, irgendetwas oder irgendwen zu Mus zu hauen, verschwand nicht. Das war noch nicht genug Schmerz gewesen für die Dummheit, die er gemacht hatte.
Was hatte er sich dabei gedacht? Wie konnte er nur so bescheuert sein, sich zu so einer dämlichen Handlung hinreißen zu lassen? Er hatte alles kaputt gemacht. Nicht nur, dass er Daniel die Wahrheit gesagt hatte, obwohl er das gar nicht wollte, er hatte ihm auch noch gezeigt, dass er auf ihn stand!
Tränen der Wut und der Verzweiflung bahnten sich über sein Gesicht und er wollte am liebsten sterben. Jetzt gleich. Daniel würde nie wieder ein Wort mit ihm reden nach der Aktion. Und er, Marius, konnte so nicht weiterleben. Es machte ihn kaputt und er hatte keine Kraft mehr für diese Gefühle, die er doch eigentlich gar nicht haben wollte!
Grollend und voller Selbsthass betrat er sein Elternhaus, das zum Glück leer und still war. Heinrich besoff sich am Bierwagen und seine Mutter war mit seiner Oma ebenfalls noch auf dem Fest gewesen, als er überstürzt die Flucht ergriffen hatte.
Ohne Licht zu machen, bewegte er sich wie ein Schlafwandler durch die vertrauten Räume und stieg müde die Treppe hoch. Für einen kurzen Moment blieb er vor der Tür zum Trockenboden stehen und betrachtete die hohen Dachbalken, die in der Finsternis nurmehr zu erahnen waren. Es wäre leicht, sich ein Seil aus dem Schuppen zu holen und diese Misere ein für alle Mal zu beenden. Doch wollte er wirklich so dramatisch werden?
Marius litt wie ein Hund und hätte nie gedacht, dass das überhaupt möglich sein konnte. Er sah auch noch keinen Ausweg daraus, keinen Hinweis, wie es jemals wieder gut sein könnte, jetzt wo die Katze aus dem Sack war. Und er hatte Angst.
Doch er hatte auch Pläne, hatte Dinge, für die er leben wollte. Und eigentlich, unter all dem Schmerz, den es ihm verursachte, für Daniel gefallen zu sein, war dieses andere Gefühl, eben das Verliebtsein, eigentlich wirklich schön. Zu schön, um es wegzuwerfen, weil die Furcht vor dem, was kommen mochte, zu groß war.
Marius seufzte und schloss seine Tür hinter sich. Er rieb sich über das Gesicht und setzte sich in der Dunkelheit auf das Bett, den Blick auf einem hellen Lichtstreifen, den der Mond, der durch das Fenster schien, auf die Wand warf.
Müde fummelte er sein Handy aus der Hosentasche, als das zu klingeln begann. Ein Teil von ihm hoffte, es würde Daniel sein, der anrief, doch Marius war sich nicht sicher, ob der überhaupt seine Nummer hatte. Doch es war Ralf und mit einem Brummen antwortete der dunkelblonde Teenager auf das Gespräch.
»Was geht?«, knurrte er und sein bester Kumpel zischte ihm ins Ohr.
»Alter! Wo bist du, ey? Wir suchen dich seit ner Viertelstunde!«
»Zuhause, Mann.«
»Warum das denn?« Marius konnte die Stimmen seiner anderen Freunde im Hintergrund Fragen stellen hören. Er hörte auch die Musik und musste unwillkürlich daran denken, dass Daniel wahrscheinlich wieder mit Monique tanzte.
»Kein Bock mehr«, murrte der Jugendliche nur.
»Auf einmal? Du hättest wenigstens Bescheid sagen können. Wir dachten, du liegst hier irgendwo und hast dir was gebrochen oder so ... nicht cool, Mann.«
»Sorry ...« Marius war nicht in der Stimmung, sich mit Ralf zu unterhalten oder gar ihm zu erklären, warum er einfach gefahren war, ohne seiner Clique Bescheid zu sagen. »Ich geh’ jetzt ins Bett. Also kommt nicht auf den Trichter, SMS zu schicken, okay?«
»Neee, machen wir dann nich’. Ich meld’ mich morgen dann.«
»Geht klar.«
Marius legte auf und warf das Handy auf den Nachttisch. Er machte sich mit einem leisen Stöhnen auf dem Bett lang und schob sich mit den Zehen die Schuhe von den Füßen.
Es war typisch für ihn, dass auf einen guten Tag, der mit einem Lächeln geendet hatte, einer kam, der mit Tränen, Schmerz oder einem latenten Todeswunsch zu Ende ging. Vielleicht sollte er sich allmählich daran gewöhnen.
Marius war halb eingeschlafen, als das kleine Telefon doch noch einmal piepste. Mit einem Fluchen angelte er danach, verteufelte bereits den Idioten, der doch einen Text geschickt hat, obwohl er gesagt hatte, dass sie es lassen sollten, und musste dann zweimal hinsehen, weil er die Nummer nicht kannte.
Energisch rieb er sich die verpennten Augen und versuchte, die SMS zu lesen: »Ich hoffe, dir geht’s gut und du liegst nicht in irgendeinem Graben. Ich wünsch’ dir eine gute Nacht. Daniel. P.S. Ich schenk’ dir mein Taschentuch. Ich glaube, du brauchst es nötiger als ich ;)«
»Dieser kleine Penner«, fauchte Marius, doch er konnte nicht verhindern, dass sein Herz zu klopfen anfing. Umständlich zog er das Stofftuch aus der Hosentasche und roch daran. Er mochte sich damit zwar die Nase geputzt haben, doch zuvor hatte Daniel es am Körper getragen. Marius konnte ihn riechen, den Duft seines Weichspülers und sogar einen leichten Hauch des Parfums, das der Dunkelhaarige trug. Er war der Einzige, den Marius kannte, der echte Herrendüfte trug, nicht nur Deo und billigen Aftershave-Balsam, den man auftrug, nachdem man sich die ersten Bartstoppeln abgesäbelt hatte.
Ohne es zu wollen, spürte der Jugendliche wieder den inzwischen bekannten Schmerz, wann immer er an den Heinemann-Jungen dachte, an all die Dinge, die ihm an diesem gefielen und die Verzweiflung darüber, dass er davon niemals etwas haben würde, weil es nicht sein sollte. Weil es nicht normal war und wahrscheinlich nur Marius so empfand.
Natürlich, Daniel hatte ihn vorhin nicht weggestoßen, als Marius ihn geküsst hatte. Doch auch nur, weil der selbst den Kuss abgebrochen hatte. Vielleicht auch deswegen, weil es einfach Daniels Art war. Er war zu nett, zu sanftmütig, um so heftig zu reagieren. Und er hatte gesagt, dass er das nicht verurteilte, wenn man anders fühlte, als es üblich war.
Doch sicher hätte er Marius noch ein paar Worte dazu gesagt. Doch der hatte sie nicht hören wollen. Es war schlimm genug, zu fühlen, wie er es tat. Er wollte keine Abfuhr von dem Jungen, den er liebte. Lieber wollte er nie wieder darüber reden und einfach so tun, als wäre nichts gewesen.
Denn als sie beide darüber gesprochen hatten, was er theoretisch tun würde, war das, was er, Marius, gesagt hatte, die Wahrheit gewesen. Lieber würde er gar nichts sagen, als sich eine Abfuhr einzuhandeln, die ihn nur verletzten würde. Denn damit würde nur er leben müssen und niemand sonst. Und das wollte er nicht.
Dass er Daniel geküsst hatte, damit hatte er sich selbst in Knie geschossen. Auch etwas, womit er allein würde klarkommen müssen. Denn mit wem sollte er schon darüber reden?
Marius drückte das Telefon und das Taschentuch an seine Brust und schloss die Augen. Er musste einfach versuchen, Schlaf zu finden. Dann würde auch das Herz aufhören, wehzutun. Ganz sicher.
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Daniel blickte noch einige Minuten auf das Telefon. Er war sich nicht sicher, ob die alte Nummer, die er von Marius hatte, überhaupt noch aktuell war. Er hatte sie vor Jahren, als die ersten in der Klasse die ersten Handys bekamen, mal heimlich aus dem Klassenbuch heraus abgeschrieben. Ihr Lehrer hatte sich damals von allen Schülern die Nummern geben lassen, zur Sicherheit, falls mal etwas passieren sollte.
Doch er hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, sie zu nutzen und da keine Antwort kam, vermutete er, dass sie längst veraltet war.
In welches erneute Chaos seine nett gemeinte SMS Marius stürzte, wusste er nicht.
Der Jugendliche steckte das Gerät gerade wieder in die Tasche, als er Stimmen hinter sich hörte.
»Daniel, da bist du ja! Ich dachte, du wolltest nur Hände waschen gehen.« Monique, die vom Tanzen gerötete Wangen hatte, kam auf ihn zugelaufen und griff nach seiner Hand. »Komm, du hast mir versprochen, dass wir den ganzen Abend tanzen.«
Der Dunkelhaarige erinnerte sich nicht daran, so ein Versprechen gemacht zu haben, doch das Mädchen war betrunken und würde ihm vermutlich ohnehin nicht wirklich zuhören.
Inzwischen waren auch Daniels Eltern und viele andere älteren Kalibers auf der Tanzfläche zugegen und der Jugendliche bemerkte zu seinem eigenen Missfallen, dass die beiden sich zufriedene Blicke austauschten, als sie Daniel und Monique Hand in Hand sahen.
An Tanzen war wegen ihres Zustandes nicht mehr wirklich zu denken und nachdem sie ihm zum gefühlten zehnten Mal auf die Zehen gestiegen war, stoppte Daniel das Unterfangen und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Vielleicht solltest du lieber nach Hause und ins Bett, hm?«, schlug er vor. Es war nicht gedacht, dass das irgendeiner hörte, doch ausgerechnet in dieser Sekunde flatterten Friedrich und Manuela, beide auch ein bisschen angeschickert, an den Jugendlichen vorbei und schnappten das Gesagte auf.
»Oh ja, das ist eine ausgezeichnete Idee, Junge. Sei ein Gentleman und bring die Dame nach Hause.« Friedrich, der rote Wangen hatte, grinste wohlwollend und rief über die ganze Tanzfläche zu Moniques Eltern, dass Daniel sie heimbringen würde. So dass alle es mitbekamen. Der Dunkelhaarige seufzte innerlich.
Warum musste das immer ihm passieren? So würden am Morgen alle glauben, er und das Mädchen wären ein Liebespaar. Auch Marius würde das hören. Doch Daniel wollte nicht, dass der das glaubte. Denn er wollte Monique doch gar nicht.
Doch er gab sich geschlagen, wie so oft. Denn eines stimmte: Das Mädchen konnte kaum noch aufrecht laufen. Sie würde es nie allein nach Hause schaffen, immerhin wohnte sie gegenüber der Gaststätte und das war einmal quer durch Lengwede. Und ihre Eltern, beide angeregt am Feiern, sahen nicht so aus, als würden sie in nächster Zeit aufbrechen wollen.
»Also? Du hast es gehört. Deine Eltern wollen, dass du nach Hause gehst.«
Monique grinste wie ein Kobold. »Na gut, wenn du mich begleitest, ist das in Ordnung für mich. Da fängt mich dann keiner weg.«
Wegfangen?, dachte Daniel. Sie war so dicht, man brauchte sie nur ins Gebüsch zu schubsen und sie würde nicht mehr aufstehen können. Da brauchte man sie nicht einmal mehr wegzufangen, wenn man ihr etwas antun wollen würde.
Er reichte ihr seinen Arm und gemeinsam verließen sie den Festplatz in Richtung Ortskern.
»Hast du nicht gesagt, du hast nur zwei Gläser von dem Wein getrunken?«, versuchte Daniel, irgendwie ein Gespräch zu beginnen. Schweigend mit ihr zu laufen, kam ihm unanständig, unangemessen romantisch vor und er wollte nicht, dass es so war.
»Hab’ ich auch ... und was von der Rumtorte. Und den Likörpralinen. Ah, und ein Bier ...«
»Das merkt man.«
»Ich vertrage nicht so viel wie du«, kicherte das Mädchen und Daniel wandte ihr den Blick zu.
»Ich? Ich hab doch gar nichts getrunken. Ich hatte die ganze Zeit nur Cola.«
»Achso? Ich dachte, da wäre Whisky drin ... hat so geschmeckt.«
»Du hast aus meinem Glas getrunken?« Daniel zog eine Augenbraue hoch.
»Ja ... indirekter Kuss«, giggelte Monique. »Aber wenn da gar nichts drin war, war es vielleicht doch die Torte ...«
Der Jugendliche seufzte, als sie sein Elternhaus passierten. Er konnte Sergio auf dem Hof kläffen hören. Dieser hatte ihn bestimmt gewittert und vermisste ihn, da er den ganzen Tag in seinem Auslauf gewesen war. Doch Daniel konnte noch nicht zu ihm gehen, generell noch nicht nach Hause, denn er hatte immer noch eine getüttelte Dame an seiner Seite, die sich von ihm losgemacht hatte und auf der Straße Ballerina tanzte.
Unwillkürlich musste er lächeln. Er wusste nicht, warum da nichts Ernsteres in ihm war, denn eigentlich war sie ein prima Mädchen. Von all den Leuten, mit denen er aufgewachsen und zum Spielen genötigt worden war, war sie ihm die Liebste. Auch wenn sie, ähnlich wie Kathrin und Anja, ihn als Kind eher ignoriert hatte, weil die Mädchen halt gern unter sich waren und ein Junge da nur mehr gestört als genutzt hatte.
Je älter sie wurden, umso mehr merkte er, dass Monique sich an ihn hängte. Angeblich war sie bereits mit zwölf Jahren in ihn verliebt gewesen und wenn er sich zurückerinnerte - wann immer die Mädchen Hochzeit gespielt hatten, hatte Monique Daniel als Mann haben wollen. Sie hatte immer gesagt, Christopher sei ein Blödmann. Einmal hatte der nämlich ihre Puppe in eine Pfütze voller Matsch geworfen und sie hatte daraufhin zwei Wochen kein Wort mit ihm gewechselt.
Es könnte alles so einfach sein. Er könnte mit Monique gehen, hätte eine lustige und süße Freundin und sein Vater wäre damit zufrieden, da er insgeheim eh immer vorgehabt hatte, seine und Moniques Familie, die zweitreichste in Lengwede, zu einem Imperium zu vereinen, was Acker- und Forstland anbelangte. Wenn Daniel sie also heiraten würde, stünde diesen Plänen nichts im Wege.
Doch es war eben nicht so einfach. Der Jugendliche wollte keine Freundin einfach um des Habens Willen, er wollte Monique nicht ausnutzen, ihr nicht etwas vormachen, was nicht da war. Nicht den Plänen Friedrichs genügen, als wäre er eine Figur auf einem Schachbrett.
Wann immer er die Augen schloss und sich vorstellte, wie es war, jemanden zu haben, sah er nicht Monique vor sich, sondern Marius.
Das erschreckte ihn. Doch gleichzeitig erfüllte es ihn mit einer Leichtigkeit, die ihn überraschte. Es war so einfach. Und doch so schwierig.
Daniel seufzte.
»Was ist? Woran denkst du?«, brach das Mädchen in seine Grübelei ein und er konzentrierte sich wieder auf sie statt auf seine Gedankenwelt.
»Hm? Ach, nichts. Ich merke nur, dass ich auch allmählich müde werde. Ich hab wohl zu viel gegessen.«
»Oooh, hast du die Rumtorte probiert?«, schwärmte Monique. »Ich schwöre dir, die könnte ich allein verdrücken. Scheiß’ auf die zehn Kilo, die es mich fetter machen würde, das wäre es wert!«
»Vor allem du und fett, na klar ...«
»Soll das heißen, du magst meine Figur?«, kicherte sie und drehte sich zu ihm um, sodass sie rückwärts vor ihm ging.
»Ich meinte, dass du mitnichten fett bist. Selbst wenn du zwei von den Torten allein essen würdest.« Der Jugendliche zwinkerte.
»Du bist so ein Gentleman. Chris hätte jetzt nur gesagt, dass Frauen nicht so viel essen sollten, weil keiner fette Kühe mag. Und dass ich nen geilen Arsch hab, oder so.«
»Das auch«, Daniel lachte und sie zog die Augenbrauen hoch. Ihr Erröten fiel unter dem blassen Licht einer Straßenlaterne allerdings kaum auf.
»Also«, setzte sie an, als sie vor dem villenähnlichen Gutshaus ankamen, das den Beginn der örtlichen Bebauung markierte und das zweihundertfünfzig Meter vom Ortseingangsschild entfernt lag. Dazwischen befanden sich nur Fettwiesen, die Reitschule Walter direkt am Dorfrand und der Graben, an dem Marius und Daniel eine Woche zuvor Sergio gebadet hatten.
»Also. Gute Nacht.« Der Jugendliche lächelte, doch er konnte sehen, dass Monique auf irgendetwas zu warten schien. Er seufzte innerlich. Sicher dachte sie, wie alle anderen, dass dieses Nachhausebringen der Beginn von etwas war.
»Willst du nicht noch etwas mit rein kommen? Meine Eltern kommen bestimmt noch lange nicht ... ist ja noch nicht so spät ...«
»Ähm, lieber nicht. Ich bin echt müde und so ...«
»Du magst mich nicht, oder?« Moniques Kleinmädchenstimme zeigte dem Jugendlichen an, dass der Alkohol offenbar von lustig in traurig umgeschlagen war.
»Doch. Das tue ich. Aber ... nicht so, wie du das möchtest. Tut mir leid.«
»Aber ... wir haben uns geküsst und so.«
»Du hast mich geküsst. Und das war gut. Aber ... ich will dir nichts vormachen. Das wäre nicht fair.«
»Du bist wirklich ein Gentleman«, Monique hatte ein bedauerndes Lächeln aufgelegt, was Daniel mit einem freundlichen erwiderte. Er trat auf sie zu, zog sie einen Moment an sich und küsste sie auf die Wange.
»Gute Nacht.«
»Na toll. Damit machst du es nicht gerade besser«, lachte das Mädchen leise, winkte ihm zu und betrat das Haus, während Daniel die Hände in die Hosentaschen schob und sich zügig auf den Heimweg machte.