Der Gefühlsausbruch des Dunkelblonden führte dazu, dass die Leute, die er sein ganzes Leben lang für seine besten Freunde gehalten hatte, sich über ihn ausschütteten. Gelächter drang in Marius’ Bewusstsein und verletzt drehte er sich zu den anderen um.
Karsten und Dennis schlugen sich gegenseitig auf den Rücken und grölten, als hätten sie noch nie etwas Lustigeres gesehen, dabei waren es früher immer die beiden gewesen, die als erstes wegen irgendwelchen Sachen geheult hatten, und Franziska hatte einen Ausdruck im Gesicht, den man nur als gemein bezeichnen konnte. Sie lächelte süßlich, als würde sie es genießen, ihren einstigen Schwarm so leiden zu sehen.
»Tja, Marius ...«, säuselte sie, »ich hab dir gesagt, wie es kommen wird. Aber du wolltest ja nicht hören ... du wolltest lieber eine schmutzige Schwuchtel sein.«
Der Jugendliche zog vernehmlich die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über das Gesicht, bevor er das Mädchen ansah. Jedes bisschen Zuneigung, was er jemals für Franziska empfunden hatte, war verschwunden. Wie hatte er sie jemals mögen können, wo sie so durchtrieben und missgünstig war?
»Ich hab’s wirklich versucht«, murmelte er. »Ich wollte sein wie alle anderen. Wir haben uns mal versprochen, immer füreinander einzustehen und dazusein, wenn wir einander brauchen ...«, Marius presste die Lippen fest zusammen, bevor er tief durchatmete. »Ich dachte, das gilt für egal was kommt. Traurig, dass das gereicht hat, um alles zu zerstören ...«
»Laber’ keine Opern, Mann. Wenn einer was kaputt gemacht hat, dann warst du es, raffst du das nicht? Wir wollen keine blöden Homos in unserer Clique, also hau’ ab und such’ dir ein paar Schwuchteln, mit denen du befreundet sein kannst!« Karsten hatte sich von der Lacherei erholt und sah Marius an wie jemanden, den er nicht kannte und dessen pure Existenz ihn anwiderte.
»Ja, keinen Bock, dass uns alle anderen wegen dir auch für Schwanzlutscher halten. Am Ende denken die noch, wir machen uns es alle gegenseitig, wie so’n Rudelbums.« Dennis ließ ein Würgegeräusch erklingen und Franziska verschränkte zustimmend die Arme vor der Brust.
Marius biss auf seiner Unterlippe herum, bevor er leise auflachte. »Wisst ihr, wovor ihr wirklich Angst haben solltet, ihr Beiden? Dass jemand herausbekommt, dass ihr gemeinsam in Karstens Zimmer immer wieder die gleichen Pornohefte vollwichst. Das ist vielleicht schwul.«
»Halt’ deine Fresse, du Arsch!«, fuhr Karsten den Dunkelblonden an und schubste ihn. Der Jugendliche war pummelig und hatte Kraft, doch Marius war von seinem Vater ganz andere Sachen gewöhnt.
»Außerdem hat es euch immer genervt, dass die da«, der Jugendliche deutete auf Franziska, »jeden rangelassen hätte außer euch.«
Marius schnaufte, als Dennis ihm einen Schwinger verpasste und ihn im Gesicht traf. »Du schlägst wie ein neunjähriges Mädchen«, kicherte der Junge matt und rieb sich über die Wange, »Jede eurer Attacken habe ich vor zwei Tagen schon von meinem Alten eingesteckt und wenn der es nicht geschafft hat, dass ich einknicke, dann schafft ihr es auch nicht.« Der Jugendliche spuckte aus. Der Fausthieb hatte die kleine Stelle an der Lippe wieder aufplatzen lassen.
»Aber dein Vater ist allein. Vielleicht sollten wir dir mal zeigen, was wir von deiner Arroganz die ganzen Jahre gehalten haben.« Karsten musterte seinen ehemaligen Freund von oben bis unten, als würde er abschätzen wollen, wo man Marius treffen musste, um ihn von den Füßen zu holen.
»Ich war arrogant? Ihr hab mich euren Anführer genannt. Ich hab darauf keinen Wert gelegt. Ich wollte einfach nur Zeit mit meinen Freunden verbringen, ganz egal wie. All die Jahre ging das klar und jetzt, weil ich nicht mehr in euer Weltbild passe, bin ich plötzlich ein Monster mit drei Köpfen?«
»Ganz genau. Du bist widerlich. Noch dazu ein Triebtäter. Die anderen haben Recht, warum du noch nicht eingesperrt bist, frag’ ich mich auch.«
Marius ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe nicht nötig, jemanden zu zwingen.«
»Na, offenbar schon«, feixte Franziska und lachte dann. »Oder du warst so ein mieser Liebhaber, dass Schwuchtelprinz Heinemännchen lieber erzählt, du hättest ihn gezwungen als zuzugeben, dass er auf einen so überschätzten Gockel wie dich hereingefallen ist.«
Die drei lachten laut und Marius schluckte schwer. Er konnte jede Gemeinheit von den anderen erdulden und nahm sie sogar ein stückweit als gerechtfertigt hin, weil auch er sich falsch verhalten hatte, doch Hiebe auf sein Herz konnte er nicht ertragen. Sein Blick glitt zu Ralf, der wie unbeteiligt daneben stand und aussah, als würde er sich ganz weit weg wünschen. Als er bemerkte, dass Marius ihn ansah, wendete er demonstrativ den Blick ab.
Der dunkelblonde Jugendliche straffte die Schultern. »Wenn ich überschätzt bin, dann bist du so notgeil wie ein undichter Fettfilter«, sagte er zu Franziska, »Bis vor zwei Tagen hätte ich nur sagen müssen, ich will dich und du hättest schneller mit gespreizten Beinen auf dem Rücken gelegen, als ich hätte gucken können. Du überschätzt dich selbst so sehr, dass es dir egal ist, wessen Gefühle du verletzt, wenn du deinen Willen nicht bekommst. Du ruinierst Freundschaften und ihr«, er wandte sich an Karsten und Dennis, »fallt wie zwei fette Fliegen in ihr Nest und macht genau das, was sie von euch will. Sie wird euch trotzdem nicht ranlassen, weil sie insgeheim immer noch lieber meinen Schwanz haben will«, Franziska zischte, doch Marius hob einfach die Stimme, »Aber keine Sorge, Leute. Das Karma fickt uns alle.« Er räusperte sich. »Als ich mich vorhin bei euch entschuldigt habe, war das ernst gemeint. Ich will euch nicht verlieren. Nicht wegen so etwas Unwichtigem, ob ich Jungs oder Mädchen mag ... aber ... ich fürchte immer mehr, dass das hier nur ein willkommener Grund ist, mich auszustoßen. Ich ... ich weiß nicht, womit ich das verdient habe ... und ich kann das gerade auch nicht mehr. Mir tut’s leid, dass ich es nicht gesagt habe. Ich hatte einfach Angst ... aber ich dachte auch, es würde unter Freunden keine Rolle spielen ...«, verlegen spürte er, wie seine Stimme zu zittern begonnen hatte und er wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.
»Heulst du gleich wieder?«, feixte das hellblonde Mädchen. Marius konnte Ralf seufzen hören, ein typisches Geräusch, das er machte, wenn ihn etwas nervte, während Karsten und Dennis eine Abwehrhaltung eingenommen hatten.
»Du hast nix begriffen, Franziska ... also tu’ mir den Gefallen und fahr’ zur Hölle ... ihr alle. Ich dachte, ihr wärt meine Freunde ...«
Mit verbissen zusammengepressten Lippen wandte Marius sich ab und nur Ralf sah die einzelne Träne, die über die Wange des Jungen lief und die er niemanden sehen lassen wollte.
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Marius verschanzte sich im Gästezimmer seiner Großmutter und bekam nur am Rande all die Dinge mit, die in Lengwede abgingen, seit man ihn des Missbrauchs beschuldigt und öffentlich bloßgestellt hatte.
Heinrich hatte eines Nachmittags so laut geflucht, dass der Junge es sogar durch das geschlossene Fenster gehört hatte. Der resolute Landwirt war von seinen Kameraden vom Stammtisch ausgeschlossen worden, bis die Sache mit Marius geklärt oder etwas im Sande verlaufen war.
Dass die Saufbrüder sich ernsthaft Gedanken machten, ob und was Marius getan hatte, glaubte der Jugendliche nicht. Sie wollten Heinrich nur damit aufziehen, dass der einen schwulen Sohn großgezogen hatte, denn das war für diese Hinterwäldler alles ein großer Witz.
Doch der Junge hatte sich an diesem Nachmittag nicht aus der Wohnung seiner Großmutter getraut, weil sein Vater auf Hochtouren lief und ihn vermutlich zu Mus gehauen hätte, wenn er Marius erwischt hätte.
Der Hass des Mannes hatte sich seitdem etwas abgeschwächt, doch flammte wieder auf, als die Försters an diesem Morgen feststellen mussten, dass in der vergangenen Nacht jemand mit weißer Sprühfarbe das Wort ‚Homo’ an die Außenseite des Hoftores gemalt hatte. Dazu waren zwei Dutzend Eier über selbiges geworfen worden und hatten das ganze Pflaster und Heinrichs alten Pickup verdreckt.
»Meinst du, ihm gefällt es, dass sich alle wie Wahnsinnige aufführen? Er traut sich schon gar nicht mehr nach draußen!«, herrschte Hannelore Heinrich an, als sich alle das Ausmaß angesehen hatten. Der Landwirt hatte zuvor wutentbrannt an der Tür seiner Mutter geklingelt, sie damit aus dem Bett geholt und Marius für die Attacke verantwortlich gemacht.
»Der hat es nicht anders verdient. Man hätte das Gesetz, das Homos ins Zuchthaus steckt, nie abschaffen dürfen. Da gehört er hin, der Drecksbengel. Schau’ dir die Sauerei an!«
»Dafür kann ich doch nichts!«, knurrte Marius. Sein Vater verzog nur angewidert den Mund. Das hatte er sich in den paar Tagen seit dem unfreiwilligen Outing angewöhnt, wann immer sein Sohn ihn ansprach oder auch nur etwas sagte.
»Das ist mir scheißegal. Wenn du nicht so ein verkommenes Subjekt wärst, würden wir jetzt nicht so dastehen. Du machst das Geschmier weg, oder ich brech’ dir den Hals, hast du mich verstanden?«
Der Jugendliche nickte nur, während er sich das Graffiti ansah. Er wusste, wer dafür verantwortlich war, denn er hatte sie gehört, gestern, lange nach Einbruch der Dunkelheit.
Um sicherzugehen, dass er seinem Vater tagsüber nicht über den Weg lief, hatte Marius sich angewöhnt, die Stunden der Nacht zu nutzen, um etwas frische Luft zu schnappen. Meist saß er mit einer kleinen Funzel hinten im Garten, malte oder flocht Ketten aus Löwenzahn, gab sich dem kindischen Spiel hin, weil die Welt für ihn zu schwierig geworden war. Doch gestern hatte er auf Hannelores Hofbank gelegen und nur in den Himmel gesehen, als er das Gekicher und das Klappern der Spraydosen am Tor hören konnte. Es hatte Marius unerwartet hart getroffen, als er auch die Stimme von Ralf erkannte, der, im Gegensatz zu Karsten, Dennis und Franziska, keinen großen Spaß daran zu haben schien, seinen ehemaligen besten Freund so vorzuführen. Doch mitgemacht hatte er trotzdem.
Das hatte Marius nur zu deutlich gezeigt, dass sich sein früherer Kumpel für eine Seite entschieden hatte. Oder dass überhaupt Seiten aufgestellt worden waren.
»Von mir aus, mach ich den Scheiß eben weg ...«, murrte der Jugendliche und schlurfte in die Wohnung seiner Großmutter zurück, um das nötige Zeug zu holen.
Heinrich verließ zehn Minuten später noch immer wutschnaubend mit dem Trecker den Hof und walzte die kaputten Eier noch tiefer in das Kopfsteinpflaster.
Während der Jugendliche mit einer Bürste und Verdünner die Farbe von der spröden alten Lackierung des Tores schrubbte, dachte er daran, dass es inzwischen eine Woche her war, dass er zuletzt mit Daniel gesprochen oder ihn gesehen hatte. Marius hasste es, sich das einzugestehen, doch der fiese und kratzige Ton des Zweifels in seinem Hinterkopf wurde immer schlimmer. Offenbar hatte er zu viel in die Gefühle Daniels interpretiert und seinerseits mehr in ihre Beziehung investiert als der Dunkelhaarige.
Sogar der Gedanke, dass all das nur eine sehr ausgeklügelte Racheaktion für das jahrelange Mobbing gewesen war, war ihm gekommen in den langen Stunden der Nacht, in denen er nur dalag und an die Decke starrte. Er wollte das nicht glauben, doch die Möglichkeit bestand. Daniel hatte ihn auf die schlimmstmögliche Weise, nämlich emotional, zerstört. Und doch konnte Marius nicht aufhören, an den Anderen zu denken und ihn zu vermissen. Er hasste sich dafür, doch Daniel würde immer seine erste Liebe bleiben.
»Schatz, hier ist Post für dich«, rief Hannelore aus der Küche, als der Jugendliche nach Stunden wieder ins Haus kam. Er roch nach Verdünner und fühlte sich, als wäre er von den Dämpfen high geworden.
Marius wusch sich die Hände und griff nach dem Umschlag. Überrascht las er den Absender, öffnete das Kuvert und fing kurz darauf überrascht zu lachen an.
»Was ist denn? Gute Nachrichten? Von wem bekommst du denn Post?«
»Ich ... ich hab die Ausbildung ...«, stammelte er und Hannelore nahm das Schreiben.
»Welche?«
»Ich hab mich bei dem Verlag für eine Ausbildung zum Grafiker beworben. Aber das ist fast zwei Monate her. Ich dachte, die hätten mich gar nicht erst angeschaut, weil ich noch zur Schule gehe ... aber die fanden meine Arbeiten toll und würden mich annehmen. Schon diesen September, wenn ich will ... Scheiße ... mir ist schwindelig, ist das geil ...« Der Junge setzte sich und konnte zum ersten Mal seit einer Woche wieder lachen.
Seine Oma umarmte ihn und freute sich mit ihm. »Und willst du?«
»Eigentlich schon, aber ... September ... das sind drei Wochen ... und die Firma ist in Köln ... ich brauch’ n Zimmer und Kohle und ...«, resigniert ließ Marius die Schultern zusammenfallen, »und da ist die Schule ...« Er dachte darüber nach, wie die nächsten zwei Jahre werden würden, nachdem sich seine Familie, Freunde und fast alle, die er kannte, gegen ihn gewandt hatten. Entschlossen presste er die Lippen zusammen.
»Ich will das machen. Ich kann und will nicht in Lengwede bleiben. Ich hab hier außer dir niemanden mehr und Heinrich wartet nur darauf, mich allein zu erwischen, um mich irgendwo in der Scheune aufzuknüpfen. Nein. Ich will das machen. Das ist meine Chance.«
Hannelore lächelte ihren Enkel an. »Ich bin stolz auf dich. Und ich helfe dir mit allem, was nötig ist. Keine Widerrede. Am besten kümmern wir uns gleich um ein Zimmer und du rufst da an und bestätigst das. Los, hopp. Bevor die sich das anders überlegen.«
Marius kicherte und zog sein Handy aus der Hosentasche.
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Der Jugendliche kam sich immer noch merkwürdig vor, dass er seine Großmutter als Aufpasserin brauchte, wenn er sein eigenes Elternhaus betreten wollte. Heinrich würde seinen Sohn ohne das Zutun der alten Dame nicht einmal in die Veranda lassen, geschweige denn in sein Zimmer, um seine Klamotten und persönliche Sachen zusammenzupacken. Doch nun hockte der Landwirt schmollend und knurrend wie ein alter Hund im Wohnzimmer.
»Du kannst doch nicht einfach so wegziehen, Marius«, flehte Angelika. »Entschuldige dich einfach bei deinem Vater und dann wird alles wieder gut.«
»Nein. Denn ich bin trotzdem immer noch schwul«, entgegnete der Junge und zog den Reißverschluss seiner Tasche zu.
»Aber du musst doch nicht ... so einer ... sein. Warum suchst du dir nicht einfach ein nettes Mädchen und alles ist wieder so, wie es sein sollte? Ein Junge sollte ein Mädchen haben. So muss das sein.«
»Mama, du verstehst es nicht. Und ich will es nicht wieder erklären. Außerdem, hast du noch nicht mitbekommen, dass das ganze verdammte Dorf mich hasst? Nein, es ist besser so. Für euch und besonders für mich. Ich gehe hier kaputt.« Mit dem Reisesack über der Schulter und einem kleinen Karton, der einige persönliche Gegenstände, seine Malsachen und ein paar Bilder enthielt, verließ er sein altes Kinderzimmer und trug alles zum Auto nach unten, wo er das Zeug im Kofferraum verstaute.
»Hannelore, wie kannst du ihn dabei bestärken?«
»Wie kannst du zulassen, dass dein eigener Sohn von allen, einschließlich dir und deinem Mann, so behandelt wird? Du solltest ihn ebenso unterstützen«, konterte die alte Dame und Marius lächelte.
»Ich nehm’ meine Lieblingstasse auch mit, ja, Mama?«
Angelika nickte nur betrübt und der Junge sprang die wenigen Stufen in die Veranda hoch. Heinrich, der sich am Kühlschrank bediente, bedachte seinen Sohn mit einem verachtenden Blick.
»Du bist ja immer noch da. Verschwinde endlich und lass’ dir ja nicht einfallen, zurückzukommen. Schlimm genug, dass ich verpflichtet bin, dir Geld zu schicken.« Der Mann donnerte die Schranktür zu. »Sobald du vom Hof bist, existierst du für mich und deine Mutter nicht mehr. Dann hat die Schande ein Ende.« Knurrend trabte der bullige Landwirt aus dem Zimmer und Marius schluckte schwer.
Seufzend zog er den Hausschlüssel aus seiner Hosentasche, betrachtete ihn einen Moment und legte ihn schließlich leise auf den Küchentisch. Ihn loszulassen war, als würde er sein ganzes bisheriges Leben ausradieren. Verstohlen wischte er sich ein Tränchen aus dem Augenwinkel, nahm die Tasse und verließ das Haus.
»Schau’ mal, wer da ist, Marius«, rief seine Oma ihm zu und der Junge ertappte sich für eine Sekunde, dass er hoffte, es wäre Daniel. Doch den hatten seine Eltern für den Rest der Sommerferien in ein Tenniscamp gesteckt. Hannelore hatte es ihm erzählt. Marius hatte keine Chance mehr gehabt, den Dunkelhaarigen noch einmal zu sehen und er hatte nicht gewagt, zu Daniel nach Hause zu gehen.
Stattdessen war es Ralf, der zerknirscht aussah, als er sich zu dem Jugendlichen herumdrehte. Auch sie hatten sich seit dem letzten Aufeinandertreffen nicht mehr gesehen.
»Hey ... ich hab’ gehört, du ... fängst eine Ausbildung an und ziehst weg ... meine Mutter hat es mir erzählt ... und ... ich wollte gratulieren, zur Lehre und ... nachträglich zum Geburtstag ... und ...«, Ralf sah verlegen zu den beiden Frauen, die dabei standen und sich diskret entfernten, um den Jungen einen Moment zu lassen.
»Ich wollte mich entschuldigen. Ich war ein Idiot und hab’ mich echt nich’ wie ein Freund verhalten ... das war scheiße. Ich ... ich war sauer auf dich, weil du es nicht mal mir erzählt hast, aber ...«, der Junge lächelte schief, »Ich hätte es vermutlich auch verschwiegen. Immerhin ... sieht man ja, was passiert, wenn so was rauskommt, obwohl’s keinen was angeht ... Jedenfalls, ich hab’ kein Problem damit und ich will auch weiterhin dein bester Freund bleiben. Wenn du willst ...«
Marius schluckte und zog verlegen die Nase hoch. Schließlich nickte er. »Aber wir haben nichts mehr voneinander ... mein Alter hat mich gerade offiziell rausgeschmissen. Ich komm’ nicht mehr zurück ...«
»Dann komm’ ich zu dir und du zeigst mir die Clubs in Köln ... es heißt doch, die Schwulen könnten so geil feiern ...«
»Ja, das machen wir ...«
»Na, jetzt umarmt euch schon, Jungs«, lachte Hannelore und Marius zögerte nicht. Die Zeiten, in denen er sich zurückgehalten hatte, aus Angst, jemand würde ihm etwas unterstellen, waren vorbei. Er drückte Ralf fest und es linderte einen großen Teils des Schmerzes in seiner Brust, als er spürte, dass sein bester Freund den Druck erwiderte.
»Ruf’ uns an, wenn du da bist, hast du gehört?«, sagte die alte Dame, nachdem die Versöhnung der Jungs erledigt war.
»Ja, gleich als erstes ...« So aufgeregt Marius war, sein Abenteuer zu beginnen, so schwer fiel ihm nun doch der Abschied. Er fiel seiner Großmutter, der er so viel zu verdanken hatte, um den Hals und sog den Duft ihres feinen Jasminparfüms ein.
»Du fehlst mir jetzt schon, Oma.«
»Du mir auch, mein Schöner«, sie küsste ihn auf beide Wangen und lächelte.
»Mama«, murmelte der Jugendliche und legte die Arme um sie. Angelika versteifte den Rücken, während sie den ihres Sohnes zaghaft tätschelte. Man konnte ihr ansehen, wie unwohl sie sich fühlte, ihr eigenes Kind zu berühren. Es machte Marius traurig, dass seine Mutter ihn inzwischen so abzulehnen schien, nur weil er Jungs mochte. Denn bevor sie das wusste, war sie nicht so kühl gewesen.
»Fahr’ vorsichtig, pass’ auf dich auf und mach’ unterwegs eine Essenspause, ich hab’ dir etwas Kuchen eingepackt.«
»Danke, Oma.«
Mit verkniffenem Gesicht konnte der Junge seinen Vater am Fenster der Veranda stehen sehen. Der Mann zeigte nicht den Hauch von Bedauern darüber, dass sein einziger Sohn von Zuhause auszog, obwohl er gerade erst achtzehn geworden war.
Marius stieg ein und fuhr seinen Opel vom elterlichen Hof. Ralf und Hannelore winkten, während Angelika verloren wirkte, ganz so, wie ein Teil des Jugendlichen sich fühlte. Er schaltete das Radio ein und während er die vertrauten Straßen Lengwedes passierte, erklangen die ersten Takte von Somewhere only we know, einem Song von Keane, den Daniel liebte und ihm zum ersten Mal vorgespielt hatte, als sie sich im Baumhaus versteckt hatten. Marius ignorierte das Kribbeln in seiner Nase und umfasste das Lenkrad fester.
Dieses viel zu kurze Kapitel seines Lebens lag hinter ihm, doch vor ihm lag die ganze Welt.