Lengwede, Sommer 2016
Stumm saß Marius auf der Bank vor der kleinen Leichenhalle des Friedhofs und beobachtete das Spiel der untergehenden Sonne, die durch das Blattwerk der Bäume immer neue Muster auf den Kiesweg malte.
Das kleine Häuschen war abgeschlossen, damit niemand an den darin aufgebahrten Sarg gehen konnte oder die Kälte hinausließ, die bei der sommerlichen Wärme zwingend erforderlich war. Die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens hatten bereits alles vorbereitet für den morgigen Tag.
Mit schwerem Herzen blickte der junge Mann auf das frisch ausgehobene Grab an einer hübschen Stelle unter einem uralten Baum. Nur einen Meter von der Grube entfernt stand der Grabstein von seinem Großvater Erich. Das ließ Marius lächeln. Am Ende würden seine Oma und sein Opa wieder zusammen sein, so wie sie sich das immer gewünscht hatten.
Das spendete ihm Trost, auch wenn es den Schmerz des Verlusts nicht auslöschen konnte.
»Ich wusste ja, dass der Tag kommen würde«, murmelte er leise in Richtung der Hallentür, hinter der seine Großmutter in einem hübschen Eichensarg lag, »aber das ist zu früh, Oma. Viel zu früh. Ich bin noch lange nicht so weit, ganz ohne dich weiterzumachen ...« Marius zog die Nase hoch und setzte die Brille ab, die er normalerweise während der Arbeit und zum Autofahren trug und die gerade abends, wenn der Tag lang gewesen war, inzwischen fast unverzichtbar geworden war.
Mit den Fingerspitzen rieb er sich die Augen und stand auf. Wenn er hier sitzen blieb, würde er zu heulen anfangen und das würde ihm nicht helfen. Stattdessen griff er sich einen Rechen von einem der anderen Gräber und entfernte die Blätter von der Ruhestätte seines Großvaters. Marius seufzte leise. Das Grab sah vernachlässigt aus und das erfüllte den jungen Mann mit Ärger über seine Eltern. Solange seine Oma es konnte, hatte sie diesen Ort gehegt und gepflegt und kaum war sie nicht mehr da, kümmerte sich niemand mehr.
Er sah bereits jetzt eine düstere und trostlose Zukunft für die Gräber seiner Großeltern, denn Heinrich fehlte für solche Dinge jedes Gefühl und seine Mutter wagte sich kaum einmal vom Hof. Sie war schon damals scheu gewesen und Marius konnte sich kaum vorstellen, dass es heute anders war. Die Försters wirkten wie Einsiedler, mehr als jemals zuvor.
In Gedanken versunken kehrte der junge Mann das alte Laub zusammen, entfernte die vertrockneten Blumen und harkte den Weg rund um seines Opas Grab. Die zwei alten Damen, die ebenfalls auf dem Friedhof waren, nahmen kaum Notiz von ihm. Marius wusste, wer die beiden waren, denn sie waren schon alt gewesen, als er noch ein Kind war. Und obwohl er nur am Rande bemerkte, dass sie sich leise unterhielten, glaubte er nicht, dass sie ihn erkannten. Wenn, dann zeigten sie es nicht, denn Marius war in Lengwede ein als Triebtäter gebrandmarkter Ausgestoßener.
Es mochten zwölf Jahre vergangen sein, doch solche Dinge vergaßen kleine Gemeinden niemals.
Zufrieden mit seinem Werk betrachtete Marius das ordentliche Grab und putzte sich die Hände an der Jeans ab. Er würde morgen auch ein paar Blumen für seinen Opa mitbringen, das war er ihm schuldig, so lange, wie er ihn schon nicht mehr besucht hatte.
Marius zuckte zusammen, als in seiner Hosentasche das Handy zu klingeln begann und die Blicke der beiden alten Frauen missbilligend zu ihm herum schwenkten. Telefonieren auf Friedhöfen war für viele ein Sakrileg.
Leise fluchend fischte er das Gerät aus der Tasche und eilte mit schnellen Schritten auf die Straße. Es war ohnehin Zeit, langsam in die Pension zurückzukehren.
»Hallo, Förster?«, nahm er das Gespräch an. Ralf war dran.
»Hey du. Bist du schon in Lengwede angekommen oder noch unterwegs?«
Marius schlug sich während des Gehens mit der Hand an die Stirn. »Ah, Shit. Ich hab vergessen, Bescheid zu sagen. Ja, ich bin schon seit heute Nachmittag hier und hab’ meine Mum besucht. Ich bin gerade am Friedhof. Was gibt’s?«
Wie sie es sich am Tag von Marius’ Auszug versprochen hatten, waren sie all die Jahre in Kontakt geblieben und Ralf hatte jeden Urlaub bei seinem besten Freund in Köln verbracht oder sie waren zusammen verreist.
»Du hast doch bestimmt keinen Bock, deinen Abend in der Pension zu verbringen, oder? Frag’ mich eh, warum du nicht einfach bei mir pennst ...« Ralf hatte eine kleine Wohnung in dem alten Neubau am Ortsrand, in dem früher auch seine Großmutter gewohnt hatte, bevor man sie ins Pflegeheim geben musste.
Marius lachte. »Damit du mir wieder vorwirfst, ich würde dir beim Duschen was abschauen, nur weil ich im letzten Urlaub zufällig ins Bad kam? Nein ... außerdem ist deine Bude zu klein und es ist ja nur eine Nacht. Die Beerdigung, die Testamentsverlesung und weg bin ich. Ich will nicht ... länger hier sein als nötig ...«
Ralf nickte am anderen Ende der Leitung. Er wusste genau, wen Marius vermeiden wollte, zu treffen. Die Wunde war nie ganz verheilt.
»Na gut, aber zum Essen und für ein Bier kannst du rum kommen. Ich hau’ uns zwei Steaks in die Pfanne.«
»Okay, dann bereite schon mal alles vor, ich bin in fünfzehn Minuten da, geh’ gerade den Schlamau runter.«
»Gut. Bis gleich«, Ralf legte auf und Marius schob das Smartphone in die Tasche.
Er konnte nicht anders, als den vertrauten Frieden zu spüren, mit dem er aufgewachsen war. Lengwede hatte sich kaum verändert. Das alte Rapsfeld hinter dem Garten seiner Eltern war in diesem Jahr mit Sommergerste bestellt worden und glänzte golden, der schmale Bach am Straßenrand verbreitete den vertrauten Geruch von schlickigem Gras und leises Gluckern. Irgendwo bellte ein Hund, aus der Ferne konnte man einen Traktor tuckern hören, aus einem der Gärten am Feldrand schallte Radiomusik. Als wäre die Zeit stehengeblieben, glaubte er, jede Minute seine Freunde von früher um die Ecke kommen sehen zu können, mit den Gesichtern wie früher, als unbeschwerte Teenager, bevor ihre Welt und ihre Freundschaft auseinander brach.
Nur Ralf war Marius geblieben. Jessica, die sich als einzige noch nicht gegen ihn verschworen hatte, war schon vor Jahren der Liebe wegen nach Frankreich ausgewandert und seitdem war der Kontakt auf eine Email zu Weihnachten zusammengeschrumpft.
Von seinem besten Freund wusste Marius, dass Dennis nach dem Abitur zur Armee gegangen war und dort noch immer als Offizier diente. Er lebte schon lange nicht mehr in Lengwede und hatte keine Verbindung mehr zu seinen alten Freunden. Karsten war weggezogen, hatte geheiratet und mit seiner Frau ein Kind bekommen, doch das hatte nicht gehalten. Inzwischen wohnte er in einem der neueren Neubauten am Ortsende, bekam Unterstützung vom Arbeitsamt und hangelte sich von Job zu Job, während seine Exfrau die gemeinsame Tochter und die Ehewohnung im Nachbarort behalten hatte. Ähnlich glücklos waren die vergangenen Jahre für Franziska gewesen, die im Dorf inzwischen einen gewissen Ruf weg hatte, der sich schon herauskristallisiert hatte, als sie alle noch zur Schule gegangen waren. Während sie sich von Mann zu Mann arbeitete, in der Hoffnung, einen zu finden, der sie heiratete, verdiente sie sich in der Gaststätte des alten Rosenthal ihren Lebensunterhalt als Kellnerin und Mädchen für alles.
Von denen, die in Lengwede geblieben waren, hatte einzig Ralf Glück gehabt. Der hatte das Bäckerhandwerk erlernt und war inzwischen Meister in der Backstube Pfeifer, als erster, der nicht aus der Familiendynastie stammte. Der Sohn des alten Pfeifer hatte sich geweigert, den Beruf zu erlernen und so konnte Ralf einsteigen.
Mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf schlenderte Marius die Straße entlang. Es roch überall nach Rosen und Jasmin, Duft, den er schon immer geliebt hatte. Er zuckte regelrecht zusammen, als er aufschaute und plötzlich ein großer Hund mitten vor ihm auf der Straße stand, der zu grinsen schien und hechelnd die Zunge heraushängen ließ.
»Nanu«, platzte es dem jungen Mann überrascht heraus und er stoppte. Das Tier fing an, mit dem Schwanz zu wedeln. Es war ein Appenzeller Sennenhund.
Marius sah sich um. Der musste aus einem der Gärten gekommen sein, doch es stand nirgends ein Tor offen.
»Wer bist du denn?« Er hielt dem Hund die Hand hin, bewegte sich aber nicht auf ihn zu. Bei einem Tier von der Größe war Vorsicht geboten, egal wie sanft es aussehen mochte. Doch der Hund zeigte keinerlei böse Absichten, sondern schnüffelte an den Fingern und leckte darüber. Dabei konnte Marius die Plakette am Halsband des Tieres erkennen. Ein Name stand darauf.
»Allegro heißt du?«
»Allegro!«, hörte er es da auch schon rufen. Die Stimme kam aus einem der Gärten, die hinter Hecken verborgen waren. Offenbar hatte der freche Rüde sich irgendwo dort hindurch gequetscht. »Verdammt, wo steckt der schon wieder? Allegro! Ich hab ihm schon hundertmal gesagt, wir brauchen hier hinten einen Zaun!« Die nörgelnde Stimme gehörte einer Frau und sie kam Marius vage bekannt vor, doch er konnte sie nicht einordnen.
»Husch, zu Frauchen zurück, du«, schmunzelte er und setzte seinen Weg fort, während der Hund aufkläffte und schnüffelnd an der Hecke entlang lief.
Wenige Minuten später erreichte Marius den Neubau und lächelte, als er das Brachland hinter der niedrigen Grundstücksmauer erkennen konnte. Das Gelände sah noch so aus wie damals, als sie als Kinder dort gespielt hatten. Dahinter lag der Feldweg, der ganz Lengwede einrahmte. Der junge Mann klingelte bei Ralf und konnte das Abendessen schon im Hausflur riechen, als der ihm die Türe öffnete.
»Ich dachte schon, du bist unterwegs irgendwo verschollen. Kennst dich wohl nich’ mehr aus, was?«, lachte der hochgewachsene Bäcker und sprang zwei Stufen mit einmal hoch. Die Zeit hatte es mit Ralf gut gemeint, denn er hatte sich zu einem attraktiven Mann entwickelt, der nichts mehr von dem linkisch wirkenden Teenager mit dem leicht vorstehenden Gebiss hatte. Marius war einmal so weit gegangen und hatte ihn ‚heiß’ genannt. Dass Ralf das als ernsthaftes und wertvolles Kompliment aufgefasst hatte, war ein gutes Gefühl gewesen.
»Doch, doch. Aber ich hatte auf der Straße ein Erlebnis der vierbeinigen Art. Kennst du jemanden, dem ein Appenzeller gehört?«
Der Bäcker warf die Wohnungstür ins Schloss und lachte. »Ach, Allegro. Ja, den kennt hier jeder. Der büchst ständig aus. Schwieriger zu hüten als ein Kind, dieser Hund.«
»Und wem gehört der?«
Sich räuspernd warf Ralf Marius nur einen bedeutungsvollen Blick zu und dieser presste einen Moment die Lippen zusammen.
»Daniel?«, murmelte er leise.
»Jope.«
»Ich hab ... eine Frau nach dem Hund rufen hören.«
Ralf drehte das Fleisch in der Pfanne und seufzte schließlich. Er hatte all die Jahre weitgehend vermieden, mit Marius über dessen Exfreund zu reden, weil er nicht unnötig in einer alten Wunde bohren wollte. Ralf und Jessica waren, nachdem sie sich wieder vertragen hatten, die einzigen gewesen, die überhaupt Marius’ Seite der Geschichte hatten hören wollen und sie hatten ihm geglaubt, dass er und Daniel ein echtes Liebespaar gewesen waren.
»Erinnerst du dich, was ich mal aus Spaß prophezeit habe?«
Marius schluckte. »Er und Monique?«
»Jap ... Hochzeit ist im Herbst ...«
»Wow ... wie lange geht das schon?« Der dunkelblonde Mann versuchte, seine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen, denn eigentlich wollte er sich für Daniel freuen. Doch so richtig wollte ihm das nicht gelingen.
Der Bäcker legte den Kopf schief. »Weiß nicht genau ... du bist im August 2004 weg ... ich glaub, seit Oktober oder November 2004.«
»Oh«, murmelte Marius, »da wurde keine Zeit verloren ...«
»Dass es zwölf Jahre gehalten hat, wundert mich viel mehr. Auf mich wirkt das alles arrangiert, aber was weiß ich schon von den Belangen des Dorfadels«, Ralf lachte leise. »Vielleicht liegt es Heinemännchen nur nicht, Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen. Da kommt er ganz nach dem alten Fritz.«
Marius verzog leicht den Mund und starrte auf die kitschige Küchentischdecke. Er erinnerte sich noch sehr gut an Daniels seelenvolles Gesicht mit den grünen Augen und den vollen Lippen, an denen man jede Empfindung erkennen konnte, wenn man fähig war, seine Mimik zu lesen. Wenn er keine Gefühle zeigte, dann waren wahrscheinlich auch keine da.
Doch diesen Gedanken verdrängte der junge Mann schnell wieder. Es waren zwölf Jahre vergangen, die man kaum mit einem Menschen verbrachte, für den man nichts empfand. Marius erlaubte sich keine Meinung, denn den Daniel von heute kannte er gar nicht und hatte keinen Schimmer, wie der sich entwickelt hatte.
»Na«, räusperte er sich deswegen, »ich freu’ mich für ihn.«
Ralf wandte sich zu ihm um und betrachtete ihn abschätzend. »Sicher?«
»Ja. Die Vergangenheit ist vergangen. Und wenn wir ehrlich sind, wussten wir alle, dass es mal so kommen würde. Manche Dinge weiß man einfach.«
»Stimmt. In den Klüngel mit denen mischt man sich besser nicht ein. Komm, lass’ uns im Wohnzimmer essen und ein bisschen abhängen. Ich kann auch nicht so lange, muss um halb drei wieder aufstehen.«
»Du musst arbeiten? Kommst du zu Omas Beerdigung?«
»Ja. Wir schließen dafür die Bäckerei für zwei Stunden. Das halbe Dorf geht hin. Deine Oma war beliebt.«
»Kaum zu glauben.«
»Wieso? Weil sie immer hinter dir gestanden hat? Das hat man ihr angerechnet und das eine hat ja mit dem anderen nichts zu tun.«
»Wenn ich an den blöden Leichenschmaus denke ... überhaupt, wer hat sich dieses Wort ausgedacht? Klingt als würden wir Oma essen. Die meisten der Leute hier würden mich lieber sofort wieder gehen sehen, als würde ich einen Pesthauch mitbringen.«
Ralf ließ sich auf die Couch fallen und überließ Marius seinen Sessel. »Ändert nix daran, dass du ein Förster bist. Du gehörst hier her wie deine Oma auch. Also kann dir auch keiner verbieten, hier zu sein. Nicht an diesem Tag. Lass’ sie reden. Die haben sonst nicht viel zu tun. Außerdem haben wir 2016. Ich glaub’, den meisten ist es inzwischen latte, wer oder was du bist.«
Marius schnaubte leise. »Nich’ jeder hat Kölner Spirit. Und vergiss’ Heinrich nicht. Der hat noch heute genug Hass für Zehn.«
»Abwarten. Kriegen wir erstmal den morgigen Tag ’rum.« Mit einem schiefen Lachen fing der Bäcker zu essen an und Marius tat es ihm nach.
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Der junge Mann erwachte früh am nächsten Tag. Er lag lange wach und beobachtete einen neckischen Sonnenstrahl, der über die Wand tanzte und durch die Bewegung der Gardine flackerte. Der Wind ging stärker als erwartet und Marius konnte Wolken am Himmel erkennen.
Das Wetter passte zur Stimmung und zum Anlass dieses Tages und er dachte, dass es passend wäre, wenn es am letzten großen Ereignis im Leben seiner Oma regnen würde. Das hätte Stil und ihr bestimmt gefallen.
Desinteressiert nahm er sein Frühstück im Speisezimmer ein, bevor er auf sein Zimmer zurückkehrte, um sich für die Beerdigung vorzubereiten. Sie sollte Mittags nach einem kleinen Gottesdienst stattfinden und mit einem Beisammensein in der Gaststätte enden. Am liebsten hätte Marius sich von dieser Zusammenkunft losgesagt.
Ralf hatte zwar versucht, ihn zu bestärken, dass es um seine Großmutter ging und die Leute Pietät walten lassen würden, doch das würde sie nicht davon abhalten, zu glotzen. Marius war immerhin zwölf Jahre nicht mehr in Lengwede gewesen und es gab genug, die das zum Anlass nehmen würden, darüber herzuziehen, warum er ausgerechnet jetzt zurückgekommen war. Das Dorfleben war eintönig und Tratschen brachte Abwechslung.
Marius würde seine Eltern an der Kirche treffen. Weder der junge Mann noch seine Mutter waren religiös, doch Heinrich war evangelisch erzogen worden, es war Tradition und Hannelore hätte es so haben wollen. Da der Pfarrer der oberste Seelsorger im Ort war, kam man eigentlich gar nicht drum herum.
Sich innerlich darauf gefasst machend, dass er all die Leute wiedersehen würde, die damals, als sie Teenager waren, auf ihn herabgeschaut hatten, legte er den Anzug an und richtete sich die dunkelblaue Krawatte. Seine Oma hatte sie ihm geschenkt, um seine Augen hervorzuheben und es gab Marius ein Gefühl der Sicherheit, mit seinen Fingern über die kühle Seide zu streichen.
Von Ralf hatte er erfahren, dass ein Großteil der Jugendlichen von damals noch immer hier lebte, nicht nur einige seiner alten Freunde, sondern auch die von Daniel.
Christopher, von dem sie damals schon angenommen hatten, dass er mal im Knast landen würde, war einige Jahre nach Marius’ Weggang tatsächlich in den Bau gewandert, weil er einen schweren Unfall verursacht hatte. Doch die Kontakte seines Vaters, des örtlichen Tierarztes, hatten ihm ermöglicht, zu studieren und er arbeitete nun mit seinem alten Herrn zusammen. Kathrin war verheiratet und von Beruf Ehefrau, während Anja bereits von ihrem reichen Ehemann geschieden war und durch dessen großzügig eingeklagten Unterhalt ein komfortables Leben mit ihrem siebenjährigen Sohn lebte. So etwas ähnliches hätte Marius von den beiden auch erwartet. Sie waren schon in der Schule die Letzten gewesen, die sich freiwillig für irgendetwas die Finger schmutzig gemacht hätten.
Tja und Monique ... die würde bald die neue Frau Heinemann im Ort sein.
Tief durchatmend blickte Marius ein letztes Mal in den Spiegel und nickte sich selbst zu, bevor er das Zimmer verließ und sich den Schlüssel samt Handy in die Sakkotasche schob.
Der Himmel hatte noch etwas mehr an Tiefe gewonnen und die Wolken hatten sich vermehrt, als er aus dem Fenster sah.
»Entschuldigung«, wandte er sich an die Rezeptionistin, »kann ich mir hier vielleicht einen Schirm ausleihen?«
Die junge Frau lächelte den hübschen Mann an und nickte. »Ja, natürlich. Kein gutes Wetter für eine Beerdigung, hab’ ich Recht?« Sie schlussfolgerte das aus seiner dunklen Kleidung.
Marius musterte sie einen Moment. Sie mochte höchstens Zwanzig sein. Er lächelte schief und ergriff den Regenschirm. »Gibt es für so etwas das richtige Wetter?«
»Hm ... nein. Vermutlich nicht. Tut mir leid.«
Marius nickte, hob die Hand zum Abschied und verließ das Gebäude, um zu Fuß zur Kirche zu laufen. Das würde ihm noch etwas Zeit geben, sich zu sammeln und zu wappnen. Seine Nacht war wenig erholsam gewesen und nach diesem Tag würde es endgültig sein, dass seine Oma nie mehr zurückkam. Er fühlte sich wieder wie der Junge, der vor fünfzehn Jahren seinen Großvater verloren hatte.
Vor dem Gotteshaus konnte Marius den Pastor und Heinrich stehen sehen. Sein Vater hatte sich in seinen einzigen Anzug geworfen und qualmte unelegant eine Zigarette, während der Geistliche mit ihm redete.
Der Blick, den Heinrich seinem Sohn zuwarf, war wenig herzlich, doch er schwieg ausnahmsweise. Angelika kam gerade aus der Kirche und umarmte Marius, bevor der sich dem Pfarrer zuwandte.
»Marius. Schön, dass du da bist«, sprach der Mann ihn freundlich an und reichte ihm die Hand. »Wollen wir vielleicht schon einmal hineingehen, bevor die anderen Teilnehmer eintreffen?«