Es war bereits dunkel, als Ralf Marius zur Pension zurückbegleitete. Obwohl er sturzbetrunken war, hatte er darauf bestanden, in dem Bett zu schlafen, das er bezahlt hatte und Ralf nicht länger zur Last zu fallen.
Dieser hatte nur gelacht und die Ansammlung an Flaschen angesehen, die die beiden gemeinsam ausgeleert hatten. Marius hatte ordentlich zugeschlagen und war irgendwann von albernen Lachanfällen, die ihm sicher gutgetan hatten, zu tiefer Melancholie gekommen. Als Ralf ihn ins Schlafzimmer hatte schaffen wollen, damit er sich ausschlief, hatte der Dunkelblonde dann protestiert.
»Nein«, hatte er gelallt, »wenn du mich in deinem Bett pennen lässt, weißt du genau, was morgen alle sagen werden. Ich geh ... nach Hause, also ... in die Pension.«
Da er jedoch beim Versuch, sich die Schuhe anzuziehen, beinahe umgefallen wäre, hatte Ralf sich entschlossen, Marius zu bringen.
»Du wirst morgen zu spät zur Arbeit kommen«, murmelte der nun und wankte die Straße an der Gaststätte vorbei entlang, während der Bäcker mit den Händen in der Tasche neben ihm herging, immer darauf gefasst, dass sein Freund das Gleichgewicht verlieren könnte.
»Mach’ dir keinen Kopf. Ich bin da der Chef. Der alte Pfeiffer kann nicht mehr so gut, deswegen hat er sich ja einen Meister eingestellt. Wenn ich eine halbe Stunde später komme, ist das auch kein Beinbruch. Außerdem war es das wert, das hier«, Ralf kicherte. »Denn morgen nach der Testamentseröffnung fährst du ja schon wieder.«
»Ja ... was soll ich noch hier? Meine Eltern hassen mich, meine ehemaligen Freunde auch, außer dir ... Daniel heiratet eine Prinzessin«, Marius murmelte, »weißt du, damals, als du das prophezeit hast, hat mich das irre wütend gemacht. Wahrscheinlich, weil ich da schon wusste, dass es genau so kommen würde. Ich war so ein naiver Idiot ...«
»Ist man das nicht, wenn man verliebt ist? Und das warst du. Ich hab es damals nicht gerafft, denn ich war ein Blödmann«, Ralf lachte und kratzte sich verlegen am Kopf, »aber du warst der Erste von uns, der diese Erfahrung machen durfte und wir haben es nicht erkannt, weil wir keine Ahnung hatten, wie das ist.«
»Ich hab wirklich daran geglaubt, dass ... wir es zusammen schaffen. Abhauen von hier und irgendwo, wo uns keiner anspucken würde, neu anfangen ... Wo uns keiner verteufeln würde, nur weil wir uns ... lieben. Aber ich sag’ ja, ich war naiv und so verdammt dumm ...«
»Nein«, entgegnete der Bäcker nur. »Du warst ein Teenager.«
»Ein dämlicher«, murmelte Marius und stockte dann, bevor er eilig auf den Grünstreifen rannte und sich über einen weißen Zaun lehnte. Ralf brach in Gelächter aus, als er seinen Freund heftig würgen hörte.
»Und dafür hast du jetzt meinen teuren Whiskey gesoffen, Förster? Ein Jammer.«
»Oh Scheiße«, keuchte der Dunkelblonde und zog sein Taschentuch aus der Jacke, um sich den Mund abzuwischen. »Das war der grandiose Abschluss eines miesen Tages.«
»Frag’ mal Thießens, wenn die morgen mitbekommen, dass einer in ihren Garten gekotzt hat«, lachte Ralf.
Marius wandte sich um und grinste dann. Moniques Eltern hatten sich schon immer irre viel darauf eingebildet, dass sie in einer Villa lebten, die bestimmt doppelt so groß war wie Marius’ Elternhaus. Besonders stolz war die Herrin des Hauses auf ihren schicken Garten mit den perfekt getrimmten Rosenbüschen, die ihren Duft verströmten, und dem makellosen weißen Holzzaun, den jedes Jahr ein junger Hiwi für ein paar Groschen neu lackieren durfte, damit sich ja keine Flecken bildeten oder sich Würmer im Holz einnisten konnten.
»Geschieht denen ganz recht«, knurrte der dunkelblonde Mann. Thießens standen den Heinemanns in Arroganz in nichts nach und ein bisschen Erbrochenes auf dem teuren Rasen tat denen ganz gut.
»Geht’s besser, nachdem du meinen Schnaps ausgekotzt hast?« Ralf gluckste noch immer.
»Na, dem Magen schon. Aber ich werde morgen einen Kater haben ...«
»Was soll’s. Dann fährst du eben nachmittags nach Hause.«
»Ich hab Urlaub bis nächste Woche. Ist ja erst«, Marius blickte auf die Uhr, »ah, noch Donnerstag. Ich dachte, wir wären schon drüber und der Tag wäre zu Ende.«
»Gut, dass es noch nicht so ist, dann bekomm ich vielleicht noch zwei Stunden Schlaf«, kicherte Ralf und leise betraten sie das Grundstück der Pension. Man konnte die Pferde in den angrenzenden Ställen leise schnauben hören und ihr Geruch lag wie eine feine Wolke über dem Hof.
»Gut, den Weg rein schaff’ ich allein. Ich fühl’ mich wieder viel nüchterner ... und will mir nur noch die Zähne putzen«, Marius grinste und sein bester Freund nickte.
»Besser isses, sonst riechst du morgen wie eine ganze Kneipe.«
Der dunkelblonde Mann zog die Augenbrauen kraus und verzog den Mund. »Ich wollte nie so enden wie mein Vater, der jeden Tag seines Lebens nach Suff gerochen hat.«
»Tust du nicht. Keine Sorge. Nimm’ ne Dusche und geh’ ins Bett.«
»Danke, dass du da warst. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft. Gute Nacht.«
»Dafür sind Freunde da«, Ralf umarmte Marius und klopfte ihm auf den Rücken, bevor er mit einem letzten Gruß kehrt machte und den gepflasterten Hof wieder verließ.
Leise öffnete der junge Mann die Tür zum Pensionsgebäude und schloss seine Tür auf. Eines der Zimmermädchen hatte ihm frische Handtücher gebracht und sein Bett gemacht, das er am Morgen nur halbherzig gerichtet hatte.
Schwer seufzend ließ er sich auf die Matratze sinken und zog sich die Krawatte vom Hals. Achtlos warf er sie zusammen mit seiner Jacke auf einen Sessel und strampelte sich die Schuhe von den Füßen. Beiläufig fragte er sich, wie er es den ganzen Tag in diesen Tretern ausgehalten hatte, wo er sonst immer Turnschuhe trug, selbst in der Arbeit.
Nach einer brühheißen Dusche und energischem Zähneputzen, um den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden, fiel er so wie er war ins Bett und zog sich die leichte Decke über den Kopf. Er bemerkte nicht einmal mehr, wie die Müdigkeit ihn übermannte.
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Es war bereits dunkel, doch Daniel saß noch immer in dem Zimmer, das sein Büro darstellte. Es lag im selben Anbau, in dem er auch mit Monique wohnte. Der junge Mann hatte auf einen eigenen Arbeitsplatz bestanden, als er die Verwaltung des väterlichen Betriebes übernommen hatte, weil ihm nicht der Sinn danach gestanden hatte, jeden Tag im selben Büro wie sein Vater zu sitzen, der ihm die ganze Zeit auf die Finger sah, wenn er nicht draußen auf den Feldern oder in der Gemeindeverwaltung war.
Das bedeutete zwar nicht, dass Daniel Friedrich nicht immer noch die Unterlagen vorzulegen hatte, doch das Arbeiten fiel ihm deutlich leichter, wenn er allein war. Selbst jetzt noch schaffte es der resolute Bürgermeister mit Leichtigkeit, dass sich sein Sohn wie ein Versager vorkam, doch inzwischen kam dieser schneller darüber hinweg.
Daniel hatte sein Studium der Betriebswirtschaft mit Auszeichnung abgeschlossen und war einer der Besten seines Jahrgangs gewesen. Obwohl er während der vier Jahre weiterhin zuhause gewohnt hatte, hatte ihm der zunehmende emotionale Abstand zu seinen Eltern geholfen. Er hatte sich oft gewünscht, etwas von der inneren Stärke, die er heute hatte, bereits damals besessen zu haben, als seine Eltern jedes Mittel genutzt hatten, um Daniel klein zu halten und zum Gehorsam zu zwingen. Dann wäre sein Leben vielleicht anders verlaufen.
Seufzend stellte der junge Mann das Glas weg. Hin und wieder, nach Feierabend, gönnte er sich einen kleinen Schluck eines guten Whiskeys. Seit er von seinem Vater zum Abschluss eine teure Flasche geschenkt bekommen hatte, hatte er eine bescheidene Vorliebe dafür entwickelt.
Daniel zog den untersten Schubkasten seines Schreibtisches auf. Der enthielt auf den ersten Blick nur Krempel - einen fransigen Gummi-Stressball, Kopfhörer, bunte Kaugummis und ein paar Tütchen mit Gummibären - doch ganz unten hatte er einige Papiere zu liegen. Er wollte nicht, dass Monique sie in ihrer Wohnung fand und ihn fragte, warum er das noch immer aufbewahrte.
Er zog ein gebundenes Heft heraus und blätterte im Licht der Schreibtischlampe langsam durch die Seiten. Leise musste er immer wieder mal lachen, als er die Einträge und Anekdoten las.
Monique hatte ihn schon vor fünf Jahren als sentimental bezeichnet, als sie das Heft in einer seiner Kisten im Abstellraum entdeckt hatte. Es handelte sich um sein Exemplar der Abitur-Abschlusszeitung und umfasste die Erinnerungen aus drei Jahren Oberstufe.
Es hatte Daniel nicht wirklich gefallen, dass seine Verlobte das gesagt hatte. Nur weil sie ihr Exemplar vermutlich irgendwo auf dem Speicher im Haus ihrer Eltern gelassen hatte, musste er seines ja nicht wegwerfen. Und deswegen hatte er es in seinem Arbeitszimmer deponiert.
Obwohl er sich nicht eingestehen wollte, warum er die Zeitung herausgenommen hatte, wusste sein Herz genau, was der Grund dafür gewesen war. Daniel blieb an einer Seite mit einer Fotocollage hängen. Es waren Schnappschüsse von der Klassenfahrt in der elften Klasse. Und die enthielt das einzige Foto von Marius, das in dem ganzen Heft vorhanden war. Da er die Schule nach der elften Klasse verlassen hatte, gab es keine weiteren Bilder von ihm.
Daniels Mundwinkel zuckten. Dieses Foto repräsentierte Marius’ ganzes Wesen auf das Perfekteste. Seine dunkelblonden Haare waren leger und zerzaust, er hatte sein typisches schiefes Grinsen im Gesicht, hielt in der einen Hand lässig eine Coladose und machte mit der anderen eine Peace-Geste.
Der dunkelhaarige Mann konnte Marius förmlich sagen hören, dass er nicht so ein Gesicht machen sollte, da könnte ja Milch sauer werden. Daniel wusste natürlich, dass das Lächeln auf dem Bild nicht ihm gegolten hatte, doch er erinnerte sich an die Klassenfahrt und wie er damals noch vom Rand aus zugesehen hatte, wie Marius in seiner Beliebtheit geschwommen war und wie sehr er, Daniel, damals ein Teil davon hatte sein wollen. Und er hatte auch nicht vergessen, wie sehr seine Mitschüler im neuen Schuljahr über Marius hergezogen waren, weil jeder nun gewusst hatte, dass er schwul war. Nur ihn, Daniel, hatten sie in Ruhe gelassen. Dafür hatten Monique und ihre Freundinnen gesorgt.
Die Klassenfahrt hatte nur Wochen, bevor er und Marius zueinander gefunden hatten, stattgefunden. Und von dieser berauschenden und aufregenden Zeit, die darauf gefolgt war, war Daniel nichts weiter geblieben als dieses kleine Foto in einer Schülerzeitung. Sein Vater hatte ihn eigenhändig gezwungen, alles zu vernichten, was er von Marius besessen hatte - Bilder auf seinem Handy, Fotos und Zeichnungen, die der Dunkelblonde für ihn gemacht hatte. Damit nichts von der Schande zurückbleiben konnte. Doch die Erinnerungen in seinem Kopf hatte Friedrich nicht zerstören können.
Daniel seufzte und zuckte leicht zusammen, als vor der Tür zu seinem Büro eine Diele knarzte. Schnell schlug er die Zeitung zu und verstaute sie wieder im Schreibtisch, als die Tür aufging und Monique, bereits in ihren kurzen Bademantel gekleidet, ihren blonden Kopf durch den Spalt streckte.
»Hey, noch fleißig? Es ist fast Zehn. Willst du nicht Schluss machen für heute?«
Brummend streckte der junge Mann sich und nickte. »Ja. Ich komme. Der Rest kann bis morgen warten ...« Daniel stand auf und schaltete die Schreibtischlampe aus, bevor er zu Monique in den erleuchteten Flur ging und die Türe hinter sich abschloss.
»Kommst du gleich mit ins Bett?«, die junge Frau schnurrte leise und zupfte an Daniels Hemdkragen, der nur lächelte, aber den Kopf schüttelte.
»Ich muss noch eine Runde mit Allegro raus und dann duschen. Geh’ schon schlafen, wenn du müde bist. Ich brauch’ nicht lange.«
Monique seufzte. Daniel war ein schwer zu verführender Mann. Auch wenn sie während ihrer Beziehung nie einen Grund gehabt hatte, sich über seine Leistung oder Hingabe zu beschweren, wünschte sie sich manchmal, er würde ein bisschen leichter Feuer fangen, wenn sie schon in einem kurzen Bademantel und einem seidenen Nachthemdchen vor ihm stand, das kaum ihren Hintern bedeckte.
»Na gut«, schmollte sie demonstrativ und machte einen Kussmund, bevor sie ihre Lippen auf seine drückte. »Weil du es bist.«
»Wer sonst?«, kicherte der junge Mann und folgte ihr in ihre gemeinsame Wohnung. Innerlich war er froh, dass sie nicht auf Sex bestand. Im Moment war er mit den Gedanken überall, nur nicht bei ihr. »Gut, dass der Tag vorbei ist. Hatte ganz vergessen, wie sehr einen eine Beerdigung runterzieht ...«
Monique zog eine ihrer feinen Augenbrauen hoch. »Ach? Kanntest du die Frau denn näher?«
»Na ... ein bisschen schon. Sie war immerhin Marius’ Oma.«
»Ah. Marius ... dein«, die junge Frau machte Gänsefüßchen, »Exfreund, wie er überall herumerzählt hat ... dieser Spacken.«
Daniel seufzte innerlich. »Komm, lass’ gut sein.«
»Ja. Echt keinen Bock, über diesen Idioten zu reden. Gut, wenn der wieder verschwindet und hoffentlich kommt er dann nicht wieder.«
Ohne es nach außen zu zeigen, nickte der junge Mann. Marius hatte ein so schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern und besonders zu seinem Vater, dass er für dessen Beisetzung bestimmt nicht herkommen würde. Bei seiner Mutter würde es unter Umständen anders sein. Aber das war nichts, worüber Daniel jetzt nachdenken wollte.
Die Tatsache, dass Marius jetzt da war, verwirrte ihn schon genug, brachte alte Gefühle hoch, die er sorgsam verschlossen hatte und stellte gerade Daniels Welt in Frage.
Nachdem er sich endlich mit dem Leben abgefunden hatte, das für ihn bestimmt war, konnte er das nicht gebrauchen. Doch die leise kleine Stimme in seinem Inneren sang und brachte all die wunderbaren Empfindungen zurück, wegen derer Daniel so glücklich mit Marius gewesen war.
»Geh’ ins Bett. Ich komme gleich nach«, sagte er jedoch nur. Er wollte nicht, dass sich seine Verlobte weiter über Marius aufregte. Daniel hatte Jahre damit verbracht, dieses Thema zu umschiffen. Er wusste nämlich, dass er garantiert dazu neigen würde, Marius in Schutz zu nehmen und der Dunkelhaarige wollte nicht, dass Monique je dahinter kam, dass es wirklich eine Beziehung gegeben hatte.
Nicht, weil Daniel sich für seine Liebe schämte. Doch sein Leben, wie er es kannte und sich eingerichtet hatte, würde wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Das würde er nicht riskieren, wenn es dafür nicht einen Grund gab. Sein Vater würde ihm alles ruinieren, wenn er irgendjemandem gegenüber zugab, dass es eine einvernehmliche Liebesbeziehung gegeben hatte und er, Daniel, hatte eben lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach und Risikofreude gehörte nicht zu seinen Charaktereigenschaften.
Die junge Frau nickte und spazierte in Richtung Schlafzimmer, während Daniel nach der Leine griff, seinen Hund zu sich rief und das Haus durch den Garten heraus verließ.