Er verlor langsam den Verstand. Ja, das musste es sein. Wie sonst ließ sich erklären, dass es ständig dieses quälende was - wäre - wenn im Kopf hatte. Das ertrug er nicht länger. Wie so oft in den letzten Wochen wünschte er sich, ihr nie begegnet zu sein.
Allein der Duft ihrer Haut schoss ihm wie ein Aphrodisiakum ins Hirn und wenn er gar den Fehler beging, an den Kuss zu denken, verschlug es ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Atem …
Wobei dieser Kuss schon vier Wochen zurücklag. Vier endlose Wochen, in denen er das Gefühl gehabt hatte, über loses Geröll zu laufen, das ihn unaufhaltsam auf einen Abgrund zu trug. Sie wollte ihn nicht.
Nicht das Nael normalerweise Schwierigkeiten mit Frauen hatte. Im Gegenteil. Frauen mochten ihn. Wo immer er auftauchte, mangelte es ihm nicht an weiblicher Gesellschaft. Aber er musste sich ausgerechnet in Roana von Morra verlieben, die einzige Frau, die absolut nichts von ihm wissen wollte. Zu einer anderen Zeit hätte er vielleicht über die absurde Situation lachen können – aber im Augenblick fühlte er sich einfach nur miserabel.
Aus zusammengekniffenen Augen spähte er in seinen Weinkrug. Beinahe leer.
Na wunderbar. Selbst sein Körper betrog ihn. Bei der Menge an Wein, die er an diesem Abend schon getrunken hatte, hätte er längst in einem Stadium seliger Bewusstlosigkeit sein müssen. Wie die meisten seiner Versuche, Roana aus seinem Gedächtnis zu löschen, war auch dieser gescheitert.
Aber unbelehrbarer Dummkopf, der er war, würde er trotzdem nicht aufhören, den Wein des Herrn von Segeste in sich hineinzuschütten. Vielleicht gelang es ja schierer Erschöpfung, ihn für eine Weile Vergessen finden zu lassen.
Nael hob den Weinkrug, um sich seinen Becher zu füllen, aber nach einem Blick auf den mageren Rest befand er, dass sich der Aufwand nicht lohnte. Stattdessen setzte er den Krug an und nahm einen tiefen Schluck.
Er saß auf einer Steinmauer, hoch oben auf dem Wehrgang der Burg Segeste. Mit dem Rücken lehnte er gegen die raue Wand des Turmes, den rechten Fuß auf die gegenüberliegende Zinne gestützt, während sein linkes Bein über die Brüstung hing und von der Nacht verschluckt zu werden schien. Er ließ seinen Blick über die mondbeschienene Landschaft schweifen, die Felder und Weinberge, welche die Burg Segeste umgaben. Wie lange saß er jetzt schon hier?
Wie üblich hatte sein Versuch zu vergessen kurz nach Sonnenuntergang begonnen. Bier, Wein – jedes Gift war ihm recht, wenn es nur dazu geeignet war, sein Denkvermögen auszuschalten. Kämpfen war ebenfalls nützlich, falls jemand dumm genug war, ihm in die Quere zu kommen. Ihn störten die Verletzungen nicht besonders, die er sich dabei einhandelte, aber sein Halbbruder Rafael geriet jedes Mal ziemlich aus der Fassung, wenn er zerschlagen und blutig in sein Quartier zurückkehrte.
Mit einem gleichgültigen Blick musterte Nael seine Hände, die sich kreuzenden roten Linien auf seinen Handrücken. Erinnerungen an eine wüste Schlägerei, in die er vor zwei Tagen verwickelt worden war. Einige der Striemen begannen zu verschorfen, andere dagegen waren noch so roh, dass sie bei der geringsten Bewegung erneut anfingen, zu bluten. Messer, Scherben eines zerbrochenen Bechers - er wusste nicht einmal, was genau die Schnitte verursacht hatte. Er spürte weder Bedauern noch das Bedürfnis, die Wunden zu versorgen – all dies hätte Nael, der Arzt fühlen sollen - aber Nael, den Mann ließen die Verletzungen völlig kalt.
Und er war darüber nicht einmal sehr erschrocken. Alles, was er spürte, war eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine mit Hilflosigkeit gepaarte Wut, die durch die mitleidigen Blicke seines Bruders noch geschürt wurde. Das Trinken, das Kämpfen - Rafael hatte es als das erkannt, was es war: ein billiger Trick, um ihn von dem großen schwarzen Loch in seinem Herzen abzulenken. Nael stieß ein grimmiges Schnauben aus. Unglücklicherweise hatte das Loch die Form von Roana und nichts anderes als Roana passte dort hinein. Er war sich so sicher gewesen, dass sie ihn, Nael, seinem wilden und gefährlichen Halbbruder Rafael vorziehen würde. Himmel, größer hätte sein Irrtum gar nicht sein können!
Für Roana hatte er sich selbst Daumenschrauben angelegt, war zurückhaltend gewesen und geduldig, während er sie mit allem Respekt umworben hatte, der einer Edeldame zustand. Vielleicht hätte er ihr besser erzählen sollen, dass auf seinen Kopf ein Preis ausgesetzt war. Dass er eine schwangere Frau getötet hatte. Eine Frau, die er niemals hätte anrühren dürfen, weil er für Fälle wie den ihren gar nicht ausgebildet war. Aber er war jung gewesen und von sich selbst eingenommen, stolz auf sein an der Universität von Salerno erworbenes Wissen.
Bevor er die Lektion des Scheiterns gelernt hatte. Er sah immer noch den entsetzten Blick der Frau, als sie begriff, dass es mit ihr zu Ende ging. Er sah es an jedem neuen Morgen, in welchem Bett und in welchem Zustand er auch erwachte. Und jedes Mal hatte er das Gefühl, ein wenig schneller Richtung Abgrund zu rutschen, wenn er über die bisher größte Dummheit seines Lebens nachdachte. Die eine, die ihn als Person definierte.
Wie ein Spinnennetz klebte seine Vergangenheit an ihm und je mehr er sich wehrte, umso tiefer verstrickte er sich in dem zähen Gespinst aus Reue, Selbstzweifeln, Scham und Resignation.
Wenn er wenigstens in der Lage gewesen wäre, seinen Bruder zu hassen … Seinen Bruder Rafael, dem es scheinbar mühelos gelungen war, seine Vergangenheit abzustreifen, wie eine zu eng gewordene Haut. Aber er hatte ja auch Roana. Ihre Liebe.
Er dagegen … Wer wollte sich schon mit einem Niemand wie ihm einlassen, einem namenlosen Medikus, dem alles durch die Finger geronnen war, was er jemals besessen hatte?
Er rutschte in gefährlichem Tempo auf den Abgrund zu. Und wenn er erst einmal am Rand angekommen war, würde er fallen und fallen, unaufhaltsam wie ein Stein, den ganzen Weg in die Tiefe, ohne jede Hoffnung jemals wieder nach oben zu kommen …
Er hob den Krug an den Mund und nahm erneut einen tiefen Schluck. Wann zum Teufel würde sein Körper endlich nachgeben?
Beim Abstellen stieß er gegen den Becher, der umkippte und über den Rand der Brüstung rollte. Nael beugte sich mit dem Oberkörper über die Zinnen hinaus und sah dem fallenden Gefäß hinterher. Und schon waren sie wieder in seinem Kopf, diese dunklen Gedanken, die von Mal zu Mal verführerischer wirkten. Es wäre so leicht, einfach die Brüstung loszulassen, sich in die dunkle, lockende Tiefe zu stürzen. Drei, vier Herzschläge nur und alles wäre vorbei - Neid, Schmerz, Leere, für immer vorbei …
»Nael? Allmächtiger! Was machst du da?«
Langsam richtete er sich auf und wandte den Kopf zu der Sprecherin um. Roana. Ausgerechnet sie. Ausgerechnet jetzt. Aber wer sonst käme auf den Gedanken, ihn in seiner selbst gewählten Einsamkeit zu stören?
»Sieht so aus, als ob ich hier säße.«
»Bist du noch bei Trost?«, fragte Roana ungehalten. »Einen gefährlicheren Platz konntest du wohl nicht finden, um dich zu betrinken, wie? Du musst doch wissen, dass du spätestens um Mitternacht nicht mehr Herr deiner Sinne bist! Was, wenn du in deiner Trunkenheit den Halt verlierst?«
Nael schwieg.
»Oh. Ich verstehe. Du legst es bewusst darauf an, nicht wahr?«
»Vielleicht.« War er wirklich bereit gewesen, sich in die Tiefe zu stürzen? Er dachte einen kurzen Moment nach, bevor er die Frage unbeantwortet beiseiteschob.
Sie zog scharf den Atem ein. »Ich hasse es, wenn du das tust.«
Ihr Ton rüttelte Nael aus seiner Versunkenheit auf. »Wie bitte? Was tue ich denn?«
»Du schacherst mit dem Teufel um deine Seele«, sagte Roana mit schwerer Betonung. »Bitte, bitte, tu das nicht. Es macht mich wirklich nervös.«
Ein angespanntes Schweigen folgte. Schließlich war es Roana, die einen leisen Seufzer ausstieß. »Warum sitzt du allein hier oben?«
»Weil es ziemlich schwierig ist, sich in einer Halle voller Menschen in Ruhe zu betrinken.«
Roana runzelte die Stirn. »Sag mir Nael, weiß Rafael eigentlich, wie viel du trinkst?«
»Keiner weiß das. Noch nicht einmal ich.«
Er griff erneut nach dem Weinkrug und nahm einen Schluck.
Zu seiner Überraschung kam sie näher und streckte ihm die Hand entgegen. »Bitte komm von der Mauer weg, Nael. Tu mir wenigstens diesen Gefallen. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass du nicht gerade neben einem Abgrund sitzt, um dich zu betrinken.«
Nael musterte ihren in ein einfaches Gewand gehüllten Körper. Das Licht aus dem Turmgemach hinter ihr ließ ihre Rundungen deutlich hervortreten, und das kurze, blonde Haar ringelte sich in sanften Wellen um ihr Gesicht. Sie sah wie eine Göttin aus, wie sie dort stand. Ein atemberaubender Engel, der erschienen war, seine verlorene Seele zu retten.
Und er wollte sie verschlingen wie ein halb verhungerter Wolf. Sie in seine Arme schließen und das quälende Brennen in seinem Körper lindern. Aber das konnte er nicht.
Reiß dich zusammen. Behalte deine Gefühle unter Kontrolle. Jede Dummheit hat Konsequenzen.
Sie kam noch näher und wollte nach seinem Arm greifen, doch Nael stieß ihre Hand weg. »Lass das …«, murmelte er.
Nein, er durfte sie nicht berühren. Nicht einmal ihre Hand. Sonst tat er am Ende noch etwas so Unpassendes, wie sie an sich zu reißen und zu küssen.
»Hast du dir extra die Mühe gemacht auf den Turm zu steigen, nur um mir einen Vortrag zu halten?«, fragte er unfreundlich.
»Nein«, erwiderte sie zögernd und ließ ihre Hand sinken. »Tatsächlich bin ich aus einem ganz anderen Grund gekommen. Ich habe dir etwas zu sagen. Ich dachte, es sei besser … wenn du es von mir selbst hörst.«
»Verschwinde. Lass mich.« Er drehte den Kopf zur Seite.
Roana verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich denke nicht daran, mich vertreiben zu lassen, bevor ich gesagt habe, was zu sagen ist.«
Naels Kopf schwang zurück, seine Augen funkelten Roana böse an. »Verschwinde Herrin, geh hinunter in die Halle, dort gibt es besseren Zeitvertreib für eine Dame wie dich!«
Roana sah ihn wortlos an. In den Weinbergen raschelten die Blätter im nächtlichen Wind.
»Rafael und ich haben in Morra geheiratet.«
Nael saß auf der Mauer, wie versteinert. Mit hängenden Mundwinkeln. Zu keinem Gedanken fähig.
»Nael?« Roanas Stimme klang vorsichtig. »Du verschüttest deinen Wein.«
Nael zuckte erschrocken zusammen und richtete den Krug auf. Er konnte nicht atmen. Er schluckte. Seine Kehle war ausgetrocknet wie Wüstensand.
Roana. Hatte. Rafael. Geheiratet. Das war das Ende all seiner Hoffnungen.
Abrupt sprang er auf und drängte sich an ihr vorbei. Er hastete die Treppe hinunter, durch den Hof in den Stall. Warf seinem Pferd die Zügel über den Kopf und den Sattel auf den Rücken. Obwohl er wusste, dass es riskant war, ließ er sich ein Seitentor öffnen, schwang sich auf seinen Hengst und preschte davon. Er brauchte das Tempo und er brauchte die Nacht. Vielleicht brauchte er ja auch das Risiko. Er hatte sich nie viele Gedanken um Frauen gemacht, hatte nie die Notwendigkeit gesehen, sich an eine Einzige zu binden. Ein Heim, Familie, Kinder. Einen Ort, wo er wirklich hingehörte. Er hatte geglaubt, dass es sich auch gut ohne diese Dinge leben ließ.
Bis er Roana begegnet war, der Frau mit den Mondscheinaugen und dem geheimnisvollen Lächeln. Die Frau seines Lebens. Die Einzige. Die nun Rafael gehörte.
Er ließ seinen Hengst über Steinmauern springen und über Felder galoppieren, wo die Nachtluft süß und kühl war. Das Mondlicht tauchte die Burg Segeste in einen silbernen Schimmer und in einigen Fenstern glühten Kerzen. Vielleicht war eines dieser Fenster das von Rafael und Roana. Vielleicht teilten sie sich einen späten Imbiss und gingen dann zu Bett, um sich stundenlang zu lieben. Bei diesem Gedanken wuchs ein Druck in ihm heran, der ihn zu zerreißen drohte.
Roana …
Einst hatte er seine Träume zu ihren Füssen ausgebreitet. Sie war darüber hinweggeschritten, als seien es nur lästige Kiesel und nun lagen seine Träume in Scherben.
Mit einem wilden Knurren spornte er seinen Hengst an und ließ ihn galoppieren, weg von der Burg, weg von Roana und der steten Versuchung, die sie darstellte.
Gegen Morgen hielt Nael an einem von Berghängen umgebenen See, nur wenige Minuten von Segeste entfernt und ließ seinen müden Hengst trinken. Ein feiner Nieselregen fiel. Während das Tier sein Maul in den See tauchte, starrte er auf das Wasser hinaus. Wie ein großer grauer Teppich lag es vor ihm, mit unzähligen kleinen Wellen, die sich ihm entgegen kräuselten, eine nach der anderen. Der Duft vermodernder Pflanzen schlug ihm entgegen. Er sog den Geruch tief in seine Lungen, bis er seinen ganzen Körper ausfüllte und nichts mehr existierte außer dem süßlichen Hauch des Todes.
Und die Wellen flüsterten, leise, verlockend, beharrlich, komm … tanz mit uns ...
Schon mehrmals während der Nacht hatte er sich allen Ernstes gefragt, ob es in ihm noch irgendetwas gab, was im Inferno seines Schmerzes nicht verbrannt war. Ein Teil seiner Seele war zu hartem, gefühllosem Narbengewebe geworden und er wusste noch nicht, wie groß dieser Teil war und ob er sich jemals wieder regenerieren würde. Er ging einen Schritt näher an das Wasser heran. Es rollte ans Ufer und hinterließ eine feucht schimmernde Oberfläche, die einladend vor ihm lag.
Du willst mich aufnehmen, dachte er. Du willst mich und meinen Schmerz aufnehmen. Meinen Schmerz, die Trauer, mein Leben, willst du begraben in deinen dunklen Tiefen. So sei es.
Ein feiner Schweißfilm bedeckte seinen Oberkörper und biss auf seiner Haut, wie ein ganzes Volk wilder Ameisen, aber er zwang sich, das zu ignorieren. Während die warme Brise mit seinen Haaren spielte, machte er einen Schritt nach vorne und die nasse feuchte Erde saugte schmatzend an seinen Stiefeln. Die Wellen kamen angetanzt, sanft schmeichelnd und begruben seine Füße bis zu den Knöcheln unter sich. Er sah ihnen zu, sah, wie sie einander abwechselten, wie sie sich daran machten seine Beine zu erobern. Seine Füße waren im Uferschlick versunken, verschwunden, wie auch er bald ganz und gar verschwunden sein würde, für immer.
Sein Hengst hatte begonnen, die spärlichen Grashalme am Ufer auszurupfen und einen Moment lang bedauerte er, das Tier zurücklassen zu müssen. Der Rappe würde irgendwann nach Segeste zurücklaufen und vielleicht würde sich sein Bruder fragen, was ihm wohl zugestoßen war. Vielleicht würde ihn aber auch niemand vermissen. Er horchte in sich hinein und versuchte zu ergründen, ob ihm das etwas ausmachte. Das tat es nicht. Solche Dinge hatten längst keine Bedeutung mehr für ihn.
Die Kühle des Wassers stieg seine Beine hinauf, umfing ihn wie tröstende Hände. Er riss den Blick von seinem Pferd los und schritt den Wellen entgegen.
Wasser schenke mir deinen Frieden.
Es leckte an seinen Beinen. Er schauderte ein wenig unter der kalten Berührung, gleichzeitig hätte ihn nichts auf der Welt bewegen können, die Kühle zu verlassen. Sie legte sich wie ein Nebel auf sein Gemüt und dämpfte die Gedanken.
Ein sanfter Wind raschelte im Schilf, wisperte ein Lebewohl – sieh her, wie einfach es ist! Hab keine Angst!
Das erste blassrosa-farbene Licht des neuen Morgens erschien am Horizont, legte sich auf das Wasser, überzog es mit kristallenem Glanz. Doch gleich darauf zogen dämmergraue Wolken heran und nahmen dem Morgen, dem Himmel, dem Wasser die Farbe. Er machte noch ein paar Schritte vorwärts. Das Wasser schmeichelte die Schenkel entlang, kitzelte ihn spielerisch, während alles, was unter der Wasseroberfläche verschwunden war, nicht mehr zu ihm zu gehören schien. Das Wasser lockte ihn, zog ihn tiefer und tiefer in den See, ergriff von ihm Besitz, forderte eine letzte und endgültige Entscheidung, die er tief in seinem Herzen längst getroffen hatte. Vielleicht spürte er deshalb die Kälte nicht, die schon an seinem Bauch angekommen war und seine Djelaba vom Saum bis zum Halsausschnitt durchdrungen hatte. Wellen zupften, stupsten, leckten von vorne, von hinten, von den Seiten, tippten ihn an die Brust, gegen den Rücken, und trugen seine Arme über das Wasser, wie zwei Korken, so sehr der Stoff auch zog.
Leiser Regen rieselte aus dem blassgrauen Himmel, als Ravena von Rocca d’Aquila bei Tagesanbruch mit dem Falken auf der Faust am westlichen Ufer des Sees von Segeste entlangritt. Der Falke war der frisch abgetragene Beizvogel ihrer Freundin und Ravena hatte versprochen, während ihres Besuches mit dem unerfahrenen Tier zu arbeiten. Der See war reich an Niederwild und Ravena hatte die Hoffnung einige Enten aufzustöbern, an denen ihr Vogel seine Fähigkeiten erproben konnte. Der geliehene Stöberhund tänzelte um ihr Pferd, griff dann aber mit langen Sprüngen aus und verschwand im Schilf. Aber statt der erhofften Enten erhob sich ein Reiher aus dem Rohrwald des Ufers.
Ravena zögerte einen Moment. Ein Reiher war eine ungleich anspruchsvollere Aufgabe für den jungen Falken, als die vorgesehene Ente. Unruhig trat der Falke auf ihrem Arm hin und her, er hatte die Beute erspäht. Ravena nahm durch den Handschuh das Beben der Fänge wahr, löste rasch die Fessel vom kleinen Finger und warf mit kühnem Ruck den Vogel in die Luft.
Aufmerksam folgte sie mit den Augen dem rasch steigenden Falken und seinem Gegner. Inzwischen hatte es aufgehört zu nieseln und hinter den Regenwolken zeigte sich ein Streifen blasses Rosa am Horizont.
Höher und höher klommen die Vögel in den Himmel hinauf, wurden zu kaum mehr erkennbaren, dunklen Punkten vor dem Grau der Wolken. Endlich war der Reiher überflogen und der Falke setzte zum ersten Stoß an. Beinahe wäre er ihm allerdings zum Verhängnis geworden, denn der Reiher streckte den spitzen Schnabel in die Luft und wies mit dieser Waffe auch noch zwei weitere Angriffe ab. Aber dann gelang es dem Falken, seine Fänge in den Rücken des Reihers zu schlagen, und die Vögel wirbelten zu Boden.
»Jesus Maria!«, entfuhr es Ravena.
Ein Milan hatte inzwischen ihren Vogel angegriffen und versuchte ihm die Beute abzujagen. Die Raubvögel schossen Richtung See davon und stürzten dort im Kampf wie Steine zu Boden.
Sofort trieb Ravena ihr Pferd an. Der Reiher war vergessen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass es ihr in den Ohren rauschte. Die wilden Flügelschläge der beiden Vögel waren schon von Weitem zu hören. Sie galoppierte am Ufer des Sees entlang, um eine Biegung – und riss so heftig an den Zügeln, dass ihr Pferd schlitternd und rutschend zum Stehen kam.
Im Wasser, schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt, erblickte sie einen Mann, der sich unablässig auf die tiefste Stelle des Sees zu bewegte. Heilige Jungfrau Maria, warum tat er das? Wusste er nicht, wie gefährlich das war? Der Seeboden senkte sich zur Mitte hin abrupt zu unergründlicher Tiefe ab. Nachdem einige Unfälle passiert waren, hatten die Dorfbewohner am Ufer einen Pfahl eingeschlagen, um den Beginn des gefährlichen Bereiches zu markieren. In der ewigen Dämmerung unter Wasser hausten Seeungeheuer, die ihre Opfer unbarmherzig in die Tiefe zogen. Keines ihrer Opfer war jemals wieder aufgetaucht. So zumindest hatte es ihr die Freundin erzählt. Ravena glaubte zwar nicht an die Seeungeheuer, aber vielleicht gab es Strudel, die ja kaum weniger gefährlich waren. Ravena winkte und schrie dem Mann eine Warnung zu, ohne jedoch eine Reaktion hervorzurufen. Der Mann bewegte sich unbeirrt weiter. Inzwischen ging ihm das Wasser schon beinahe bis zur Brust.
Irritiert trieb Ravena ihr Pferd an und ritt zu einer Stelle am Ufer, die frei von Schilf und anderem Bewuchs war. Von da hatte sie zum ersten Mal einen klaren Blick auf die Gesichtszüge des Mannes. Das schwarze Haar fiel ihm bis auf den Rücken. Er hatte ein schmales, ovales Gesicht, das in seiner Jugend fast mädchenhaft hübsch gewesen sein musste und dem die Zeit und die Reife eine herbe maskuline Schönheit verliehen hatten, die durch die kühn geschwungenen Augenbrauen und den sinnlichen Mund noch betont wurde.
Ihr ganzer Körper spannte sich an, wie eine Bogensehne vor dem Schuss und sie konnte sich nicht bewegen. Konnte nicht atmen. Konnte nicht denken.
Der Mann mochte ungefähr fünfundzwanzig Jahre zählen. Schlank und dennoch kräftig und muskulös gebaut besaß er eine solche Ähnlichkeit mit ihrem Stiefvater Lucca, dass sie in diesem einen Moment vollkommen davon überzeugt war, ihren als Kind verschollenen Halbbruder Rafael vor sich zu haben.
Und dann kam der Zorn über dass, was er tat, eine eiskalte Wut, die das wild lodernde Gefühl der Panik in ihr betäubte. Zorn machte es ihr möglich zu atmen, sich zu bewegen, zu denken. Sie schlug ihrem Pferd die Fersen in die Flanken und jagte es in den See.
»Bleib stehen, Rafael! Nicht weiter!«
Sie trieb ihr Pferd unbarmherzig an. Um sie herum schäumte das Wasser. Der Körper des Pferdes schlug Wellen, die ringförmig davon strebten.
»Zurück, um Himmels willen! Zurück!«
Der Mann reagierte immer noch nicht. Er bewegte sich zwar langsamer, aber nicht, weil er stehen bleiben wollte. Seine Gewänder waren inzwischen nur einfach zu schwer, der Widerstand des Wassers zu groß, um schneller voranzukommen.
Ravenas Wallach strauchelte und ihr Bein schrammte an einem unter Wasser liegenden Felsen entlang, ohne dass sie den Schmerz fühlte. Ihr ganzes Sein war auf die Entfernung zwischen ihr und dem Mann konzentriert, den sie für ihren Bruder hielt. Irgendwo in ihrem Kopf zählte sie die Schritte bis zum Abgrund, zählte, wie viele davon Rafael noch vor sich hatte, zählte, wie viele ihrem Pferd noch blieben, bevor es selbst den Boden unter den Hufen verlor.
Zu große Entfernung.
Zu wenig Zeit.
Ravena schrie nicht noch einmal, selbst als sie sah, dass der Mann vor ihr ins Straucheln geriet. Sie trieb ihren Wallach härter an, als sie es je bei einem Pferd getan hatte, und das Tier arbeitete sich tapfer durch das Wasser.
Es dauerte verdammt lange. Mit den Gedanken bei Roana und seinen Erinnerungen, versuchte Nael hinüberzugleiten in eine andere Welt, wo der Tod schon darauf wartete, eine kalte, dunkle Decke über ihn zu werfen. Sanft lockte er: Komm näher, komm an meine Brust und wärme dich.
Aus halb offenen Augen sah er ihn in den blaugrünen Tiefen den Willkommensreigen tanzen und er fühlte, dass ein Teil seines Körpers schon nicht mehr ihm gehörte. Im nächsten Moment jedoch schoss ein Wassergeist auf dem Rücken eines Seeungeheuers aus den Fluten empor, es spritzte und platschte um ihn herum, sein Gesicht wurde nass, Wasser rann ihm in den Mund, er spuckte, schlickiges Wasser auf der Zunge, am Gaumen.
Halb benommen schüttelte er sich die Haare aus dem Gesicht und sah genauer hin. Der Wassergeist war eine Frau. Sie saß im Sattel eines Pferdes, das wie eine Festung vor ihm aufragte und ihm den Weg ins tiefere Wasser versperrte. Die Reiterin lenkte ihr Tier geschickt vorwärts, zwang ihn rückwärts zu gehen und als er einmal in Bewegung war, trieb sie ihn in schnellem Tempo auf das Ufer zu. Seine Füße fanden keinen Halt auf dem rutschigen Untergrund, er stolperte und schlug der Länge nach hin, schluckte Wasser und Schlick. Im nächsten Moment wurde sein Kopf an den Haaren aus dem Wasser gerissen und ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Nacken. Keuchend und prustend rang er nach Luft.
Die Frau zerrte unbarmherzig an seinen Haaren und deutete mit ihrer freien Hand zum Ufer, während aus ihrem Mund Fetzen einer singenden Sprache kamen, Bruchstücke von Drohungen, Verwünschungen, was auch immer, er verstand kein Wort. Er rappelte sich mühsam hoch, taumelte vorwärts. Ein paar Schritte noch über den nassen Boden, weg vom Wasser, weit weg, dann knickten ihm die Beine ein und er sank auf die Knie, keuchend vor Anstrengung.
»Was soll--«.
Das war alles, was Nael herausbrachte, weil das Wasser ihm die Atemluft abschnitt. Sein Körper wurde von einem heftigen Husten geschüttelt, er würgte und spuckte Wasser. Die ganze Welt schien sich vor seinen Augen zu drehen, er musste erneut würgen, sein ganzer Leib schmerzte, doch war es nichts als grüne Galle, was er ins Gras speien konnte. Wilde Flüche murmelnd, wischte er sich über das Gesicht -, mischte Blut mit Wasser – und stutzte.
Die Frau, die ihn aus dem Wasser getrieben hatte, stand neben ihrem Pferd und schaute unverwandt in seine Richtung, klare, blaugrüne Augen, die bis in seine Seele zu blicken schienen. Wassertropfen hingen an ihren dunklen Wimpern und glänzten wie Kristalle im Morgenlicht. Strähnen ihres ebenholzfarbenen Haares hatten sich aus ihrer Haube befreit und klebten feucht an ihren Wangen.
Wieder fuhr er sich über das Gesicht. Er versuchte, sich aufzurichten, aber durch die schnelle Bewegung rutschte der Boden unter ihm weg und er fiel seitwärts ins Gras. Langsam rollte er herum auf den Rücken, starrte verwirrt zu ihr auf. Ihre Augen waren halb geöffnet und sie sah auf beinahe unheimliche Weise durch ihn hindurch. Ein Succubus?
Aber er träumte doch nicht, oder?
Auf jeden Fall hatte sie ein Gespür für dramatische Auftritte. Absicht oder nicht, es war äußerst wirkungsvoll, wie sie da stand mit der aufgehenden Sonne im Rücken, umgeben von einer Aureole aus Feuer und Gold. Der nasse Rock ihres schlichten Gewandes formte ihre schlanke Taille und die fraulich geschwungenen Hüften nach und klebte an ihren langen Beinen.
Reiß dich zusammen. Behalte deine verdammten Triebe unter Kontrolle. Jede Dummheit hat Konsequenzen.
Die endlosen strengen Vorträge seiner Lehrer, all die Regeln, die sie ihm eingebläut hatten, wirbelten durch seinen Kopf und füllten sein Gehirn mit einem chaotischen Durcheinander murmelnder Stimmen.
Er vor allen anderen wusste doch, was es hieß, mit den Folgen einer Dummheit zu leben.
Aber für die Selbstkontrolle eines Mannes gab es einfach Grenzen. Ein Blick aus diesen großen, blaugrünen Augen - und er verwandelte sich in einen unzivilisierten Wilden, der die Frau über seine Schulter werfen und in eine Höhle verschleppen wollte.
Roana war eine Schönheit. Diese Frau jedoch war umwerfend, auf eine besondere, ihr allein eigene Art. Sie besaß eine Ausstrahlung, die königlich war. Stolz. Würdevoll. Sie ließ sich nichts vormachen. Und schon gar nicht wie ein Besitz behandeln.
»Nour«, murmelte er. »Malekah.«
Aber dann schloss er die Augen. Sein Leben war ein Scherbenhaufen.
Durch und durch. Egal wie sehr er sich auch etwas vormachte, das Wissen umkreiste ihn wie ein Geier, der nur auf die Gelegenheit wartete, ihm die Augen auszupicken und sich an seinem Fleisch gütlich zu tun.
Und so fing es an. Das schleifende, knirschende Geräusch mit dem Naels Füße begannen, haltlos über das Geröll Richtung Abgrund zu gleiten. Nur noch kurze Zeit, um das Licht zu sehen, – na und?
»Mach die Augen auf!«
Nur undeutlich drang die Stimme zu ihm vor. Doch um keinen Preis wollte er die Lider heben, irgendetwas an diesem Körper verändern, der auf dem schmalen Grat zwischen Tod und Leben schwebte-.
»Bei der Jungfrau Maria, du bist ja betrunken!«
Zwei Hände packten seine Schultern und schüttelten ihn erbarmungslos. Nael blinzelte. Ein flammend roter Himmel wankte über ihm und stürzte mit der nächsten brutalen Bewegung auf ihn zu. Winselnd kniff er die Augen zusammen.
»Mann, hörst du mich?« Leichte Schläge trafen seine Wangen. Mit einer Bewegung, für die ihn sein Kopf prompt mit Schmerzen strafte, versuchte er, sich auf die Seite zu drehen, weg, lass mich in Frieden-.
»Du Holzkopf. Mach sofort die Augen auf!« Diesmal schlug sie härter zu, dass ihm die Wangen brannten. Gequält öffnete er die Augen, blickte in das verärgerte Gesicht der Frau.
»Du bist wirklich betrunken.« Fassungslos beugte sie sich über ihm. »Und ich dachte …«
»Was?«, knurrte er. »Was dachtest du?«
»Nicht wichtig«, murmelte sie. »Nicht mehr wichtig.«
Ravena hockte stocksteif da, einen dicken Kloß im Hals. Der Mann war nicht Rafael. Wieder einmal habe ich mir Hoffnung gemacht, wo es keine Hoffnung mehr gibt, dachte sie, ohne etwas dabei zu empfinden.
Die Zeit hatte jede Spur von dem Jungen, an den sie sich erinnerte verwischt. Es gab ihn nicht mehr. Aus. Vorbei. Die langen Wochen ihrer Gefangenschaft, Angst, Schmerz und was immer sie füreinander gewesen waren – Einbildung. Wunschdenken.
Hier hast du nun die Strafe für deine Tagträumerei, Ravena. Du musst dich mit einem betrunkenen Fremden herumschlagen und der Falke deiner Freundin ist vermutlich inzwischen tot.
Sie war von der Taille an abwärts nass bis auf die Haut. Selbst in ihren Stiefeln stand das Wasser, hatte sich in den Schuhspitzen gesammelt und lief vorne wieder heraus. Und der Fremde funkelte sie an wie ein Wolf, der nur auf den Augenblick wartete, in dem seine Beute in ihrer Aufmerksamkeit nachließ, um sich auf sie zu stürzen.
Ravena ließ sich davon jedoch nicht beirren. Sie zog sich den schweren Falknerhandschuh von der Hand, legte ihn neben sich ins Gras und beugte sich über ihn. Über dem linken Auge hatte er einen mit Erde verschmierten Riss, der noch immer leicht blutete.
»Halt still«, befahl sie streng. »Ich will mir deine Wunde ansehen.«
Er versuchte den Kopf wegzudrehen, aber mit zwei Fingern ihrer Linken packte sie sein Kinn und zwang ihn, ihr ins Gesicht zu schauen. Ravena war sich hinsichtlich seiner Augenfarbe so sicher gewesen, dass sie jetzt, da sie ihn so nahe vor sich hatte, überrascht zusammenzuckte.
Seine Augen waren nicht schwarz, wie sie gedacht hatte, sondern dunkelbraun. Doch dann fiel ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht und sie erkannte, dass diese Augen keinesfalls dunkel waren, sondern ihr Braun so hell und warm leuchtete wie goldener Honig. Obwohl sie wusste, dass sie diese Enthüllung lediglich einem Lichtspiel verdankte, kam er ihr vor wie ein Hexenmeister, der einfache Erde in kostbare Edelsteine verwandeln konnte.
Ungeduldig befreite er sich aus ihrem Griff. »Verschwinde, Weib.«
»Oh, nein. Die Wunde ist voller Schmutz. Sie muss gesäubert werden, damit sie besser heilt. Und deine Hände bluten ebenfalls.«
»Ich sage dir, lass mich in Ruhe.«
»Nicht bevor deine Wunden versorgt sind.«
Schneller als sie es ihm zugetraut hatte, rollte er sich herum, stützte sich auf Hände und Knie, dann auf Zehen und Ballen. Bevor er sich jedoch aufrichten konnte, gab Ravena ihm einen kräftigen Stoß und er landete erneut im Gras.
Wie eine Natter fuhr er herum und sprang auf. Seine Augen waren fast schwarz vor Wut und Ravena hatte das Gefühl, von zwei Dolchen aufgespießt zu werden.
»Mach das nicht noch einmal, Weib«, sagte er mit gefährlich ruhiger Stimme. »Ich bin keiner von den zahmen Rittern, die sich nach Belieben an die Kandare nehmen lassen. Diesen Irrglauben haben schon ganz andere Leute teuer bezahlt.« Verächtlich spuckte er auf den Boden. »Hochmut ist eine tadelnswerte Eigenschaft, Madonna, aber du neigst offensichtlich noch obendrein dazu, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen. Du hast meine Pläne empfindlich gestört. Dafür schuldest du mir einen angemessenen Ausgleich.«
Ravena blieb der Mund offen stehen. Das war die gemeinste Rede, die sie je gehört hatte! Schockiert starrte sie ihn an. Sie hatte seine Pläne gestört? Das konnte er doch nicht ernst meinen? Sie hatte ihn davor bewahrt, im See zu ertrinken, daran gab es keinen Zweifel. Vielleicht war er sich der Gefahr nicht bewusst gewesen, der See verbarg seine Geheimnisse unter einer trügerisch ruhigen Oberfläche – aber für gewöhnlich ging man nicht voll bekleidet ins Wasser, um zu baden oder zu schwimmen. Nein, hinter all dem steckte mehr, als er zugeben wollte. Ravena konnte sich des Verdachtes nicht erwehren, dass er versucht hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, und sie gerade noch rechtzeitig gekommen war, um das zu verhindern. Sie schauderte. Sobald sie ins Haus ihrer Freundin zurückgekehrt war, würde sie die Stadtkirche aufsuchen und um Gottes Beistand für seine Seele bitten. Immerhin war der Mann im Begriff gewesen eine schwere Sünde zu begehen …
»Ich schulde dir nichts«, sagte sie kopfschüttelnd, »eher umgekehrt, würde ich sagen ...«
»So, würdest du das?«
Ravena bemühte sich, kühl und gelassen weiterzusprechen. »Du bist fremd hier. Sicher weißt du nicht, dass es in dem See gefährliche Strudel gibt und du nahe daran warst, in die Tiefe gezogen zu werden. Ich an deiner Stelle würde Gott auf Knien für meine Rettung danken …«
Der Blick aus seinen Augen ließ sie bis ins Mark erschaudern. »Du solltest besser den Mund halten, wenn es um Dinge geht, von denen du nichts verstehst, Frau. Durch deine Einmischung hast du mich zur schlimmsten aller möglichen Strafen verdammt. Und dafür wirst du bezahlen.«
Ehe Ravena überhaupt bemerkt hatte, dass er sich bewegte, hatte er sie schon bei den Armen gepackt und an sich gezogen. Seine Augen funkelten wütend. Dann küsste er sie mitten auf den Mund, langsam und genüsslich, forderte sie geradezu heraus, sich zu wehren.
Verblüfft spürte Ravena, dass eine Vielzahl verschiedener Empfindungen sie überschwemmte. Sie sog seinen Geruch ein, einen prickelnden männlichen Duft, der untrennbar mit dem Aroma eines sommerlichen Regenschauers verbunden zu sein schien, und fühlte seinen harten Griff, den Druck seines Oberkörpers gegen ihre Brüste und die heiße, lockende Berührung seiner Lippen. Das Schlimmste war jedoch, dass es ihr auf einmal so vorkam, als würden sie sich nackt in den Armen liegen, so als ob sich Leder, Seide und Leinen bei seiner Berührung in Luft aufgelöst hätten. Eine sengende Hitze breitete sich in ihr aus, bis sie meinte, ihr ganzer Körper würde in Flammen stehen. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, und sie öffnete unwillkürlich leicht die Lippen. Nicht gewillt, diesen Betrug ihres eigenen Körpers zu dulden, zwang sich Ravena mit aller Kraft, das lodernde Verlangen zu unterdrücken und sich in seinen Armen stocksteif zu machen. Genauso gut hätte er nun eine Statue aus Eis in den Armen halten können. Ihre Kälte schien seine Glut zu löschen, denn er gab sie plötzlich frei, trat einen Schritt zurück und sah sie mit seinen dunklen Augen einen Moment durchdringend an. In seinem Gesicht zeigte sich ein seltsamer Schmerz, der gemischt war mit Sehnsucht. Dann bedachte er sie mit einem derart verächtlichen Lächeln, dass sie dem Drang, ihm in sein Gesicht zu schlagen, kaum widerstehen konnte. Dass es sich dabei um eine typisch weibliche Trotzreaktion handelte, steigerte ihre Wut nur noch. Ihn wieder in den See zu stoßen wäre eine weit effektivere Maßnahme, dachte sie böse.
Offenbar standen ihr dieser Wunsch und die überschäumende Wut im Gesicht geschrieben, denn sein hässliches Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Dann beachtete er sie nicht mehr, sondern pfiff nach seinem Rappen, der bereitwillig angetrabt kam.
Ravena nahm sich mit aller Kraft zusammen. So demütigend es auch sein mochte, letztendlich war es doch nicht mehr als ein Kuss gewesen. Trotzdem hatte noch nie zuvor ein Kuss sie je so aufgewühlt wie dieser. Bei der Erinnerung daran erschauerte sie. Plötzlich schienen ihre Lippen, ihre Brüste, jeder Teil ihres Körpers, den er berührt hatte, Hitze auszustrahlen. Der Aufruhr in ihrem Inneren verstärkte ihren Ärger noch, und ein neuerlicher Schauer überlief sie. Verachtung war alles, was ich dir gegeben habe, dachte sie. Alles andere hast du dir gestohlen.
»Feigling«, zischte sie ihm hinterher, fühlte sich aber trotzdem nicht besser.
Er hatte sie gehört und drehte sich um. Sein Blick gab ihr zu verstehen, dass sie, sollte sie ihm noch einmal begegnen, nicht nur mit einem Kuss davonkommen würde. Sie blickte hochmütig zurück und verließ sich dabei ganz auf die eisige Kraft ihres Willens. Der Mann zuckte fast gleichgültig die Achseln, obwohl das Feuer in seinen Augen unvermindert heiß loderte. Dann drehte er sich mit einer raschen Bewegung um, zog sich auf den Rücken seines Pferdes und im nächsten Moment war er mit den Schatten des umliegenden Waldes verschmolzen.
Ravena blickte ihm ungläubig nach, völlig verdutzt, wie schnell er verschwunden war. Nicht ein einziges gutes Wort hatte er für sie übrig gehabt. Nun, dann war es eben so. Warum sollte sie sich wegen eines undankbaren Fremden grämen?
Aber noch während sie nach dem Hund pfiff, und ihr Pferd bestieg, wurde ihr klar, dass sich die Erinnerung an seinem Kuss nicht so leicht aus ihrem Gedächtnis vertreiben lassen würde.