Zweites Kapitel
Die Prophezeiung
Als sie Merian verließen, lag das Land unter einer dünnen, weißen Schneeschicht, welche vom Ende des Herbstes kündete. Gunthir sah lange und wehmütig zurück, als er über die Ebene von Lodhan ritt. So erging es ihm immer, wenn er Frau und Kinder zurücklassen musste. Er sah seinen Sohn aus der Stadt kommen, um Balros zu suchen, wie er es ihm aufgetragen hatte und so winkte er ihm zum Abschied mit einer Geste vom Herzen zur Sonne und schließlich spornte er sein Ross an, um den Häuptling einzuholen, welcher mit den Seinen bereits vor vielen Augenblicken im Dickicht des Aska verschwunden war.
Der Aska trennte die Hofstadt im Nordwesten von Korahans Kolonie im Südosten und so konnten sie, dank der Bäume, dem meisten Wind und Schnee entgehen. Die wenigen Weiler und Höfe auf ihrem Weg waren abgeschottet und die einzige Menschenseele, welche sie in den ersten Tagen trafen, war ein Bauer, gerade dabei, seine Fenster zu versiegeln.
„Mag ich Euer Hab und Gut passieren, edler Herr?“, fragte Meglor freundlich im Vorübergehen. Der Bauer wandte sich um und blinzelte zu Meglor hinauf. Er erkannte den König sofort und so nickte er und verbeugte sich.
Auch in der Wildnis verlief ihre Reise ruhig, denn alles Getier verkroch sich in Erwartung eines harten Winters.
Erst zwei Tage nach ihrer Abreise machten die Vier erstmals Halt, um zu ruhen. Meglor entzündete ein Lagerfeuer in einer kleinen Senke, die sie vor dem Nordwind schützen sollte. Als sich alle ein Nachtlager aus Zweigen und Fellen geschaffen hatten, begannen sie über das wilde Land zu sprechen, das sie ihr Eigen nannten, und über ihre bevorstehende Begegnung mit einer fremden Welt.
Meglor lehnte sich an einen Baum mit einem Stück Brot in der Hand und sah zu den Sternen hinauf. Nur wenige konnte er erspähen im fernen Nordosten. Wolken mussten noch immer den Himmel verdecken und er fragte Gunthir den Weitblickenden:
„Was siehst du mein treuer Freund? Ob sich uns Skur der kalte Kaiser in diesem Marsch als Feind erweisen wird? Mir scheint, er wird uns wieder Schnee entsenden in dieser Nacht.“
Gunthir schob die Fellmütze in den Nacken und richtete seinen Blick gen Himmel. Schon spürte er eine Schneeflocke auf der Stirn. Auch die Pferde wurden zunehmend unruhiger und drängten sich eng zusammen.
„Wahrlich, keinen Seher braucht Ihr, mein König, um den Schnee zu riechen. Gewiss wird es eine kalte und feuchte Nacht“, sprach Gunthir und zog seine Mütze nach vorn, bis weit in sein Gesicht.
Meglor setzte sich an das Feuer und wärmte seine Hände. Die bloße Gegenwart des Schamanenkönigs ließ die Glut auflodern und das Licht tanzte hinaus in den dunklen Wald. Brodhan, welcher die Mythen am besten kannte, verschränkte die fellbewehrten Arme und sprach:
„Die Brüder Horn und Skur gehören zusammen wie Enelien und der Wind, wie der Himmel und die Wolken, wie der Schnee, der zu Wasser wird und das Wasser, das die Winde wieder zu Wellen formen. Doch sind sie seit jeher Rivalen und neiden einander ihre Macht. Es erstaunt mich nicht, dass uns Skur auf dieser Reise im Wege steht. Sein Wind war es schließlich, der die fremden Schiffe an das Ufer von Horns Bucht blies.“
„Doch stammt die Hälfte aller Magie von den beiden streitenden Brüdern, und ich kann nicht wählen zwischen den Göttern, die das Leben bedeuten. Heute ruft Horn und seinem Ruf werde ich folgen, selbst wenn es Skur widerstrebt“, sagte Meglor und steckte den Rest seines Brotlaibs zurück in die Tasche.
Als nun alle zusehends müder wurden, kehrte Stille ein im Lager. Der Schneefall wurde stärker.
Kerman saß noch immer aufrecht am Feuer und starrte in die Flammen. Wache wollte er halten, doch schließlich übermannte auch ihn die Müdigkeit. Er legte sich neben Brodhan und sagte zu sich selbst: „Froh bin ich, einen Menschen zum Bruder zu haben und keinen Gott.“
Am Morgen erwachte Gunthir als Erster und wunderte sich, dass er durchgeschlafen hatte. Selbst im Traum hätte ihn das kleinste Wispern hellhören lassen, dessen ungeachtet hatte er gut geschlafen. Er fühlte sich gestärkt, wenn auch eisig kalt.
Das Feuer hatte die ganze Nacht gebrannt und war langsam aus seinem Steinkreis gewandert. Nun brannte es nahebei den Füßen Meglors. Doch dieser störte sich nicht daran. Es war sein Feuer, seine Magie und sie verbrannte ihn nicht. Nur angezogen hatte er es mit der Kraft, die ihm innewohnte.
Nachdem es den Eneliern gelungen war, auch Kerman aufzuwecken, sammelten sie ihre Habe wieder ein, säuberten ihre Felle und banden sie zu festen Rollen. Die Glut ihres Lagerfeuers bedeckten sie mit Schnee.
Ihre Rösser erwarteten sie ungeduldig, wohl wissend, dass ihnen die Bewegung auch die Wärme zurückbringen würde.
Ein schlimmer Schneesturm fegte an diesem Tag durch den Forst. Die Enelier marschierten gebeugt neben den Pferden im Windschatten. Doch auch auf diese Weise, setzte ihnen Skurs Odem sehr zu. Nach einer Weile führte sie ihr Weg an drei uralten, kahlen Eichen vorbei, deren Stämme so breit waren, wie enelische Bauernhäuser. Meglor führte sie in die Mitte der Eichenstämme, wo sie ein wenig Schutz fanden.
„Seltsam“, sagte Brodhan, „dass drei derart mächtige Eichen so nahe beieinanderstehen.“
„Das Haus der Sudaya“, entgegnete Gunthir, der beobachtete, wie die Schneewehen zwischen den Stämmen langsam anwuchsen. „Manche Schamanen vermuten Magie in diesem Ort. Sie sehen ihn als einen Tempel der Erdgöttin. Ich aber glaube nicht daran. Obwohl ...“
„Obwohl?“
„Ich hatte angenommen, wir würden erst einige Pfeile weiter im Süden auf sie treffen.“
Einen Augenblick betrachteten die Brüder die alten Eichen mit einiger Verunsicherung. Dann aber verzogen sich Gunthirs schmale Lippen zu einem breiten Grinsen und sie atmeten auf.
„Ob nun magisch oder nicht“, fuhr der Späher fort, „wir können hier nicht bleiben. Bald werden die Eingänge im Schnee versinken und wir werden gefangen und erfroren.“
Eine Böe traf die Bäume mit solcher Gewalt, dass ihr Holz mit einem tiefen Knarzen aufstöhnte. Das Pfeifen des Windes wuchs zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen und vereinte sich mit dem Lärm des Holzes zu einer Kakofonie des Windgottes.
„Du brauchst nicht mit mir zu schreien“, brummte Meglor kaum hörbar in den Sturm hinaus, „Ich kenne Deinen Streit mit Horn. Doch hast Du nicht auf ewig geschworen, meinen Sohn vor Leid zu bewahren?“
Seine Stimme klang beschwörend und neckisch zugleich.
Augenblicklich ebbte der Sturm spürbar ab.
„Hab Dank!“, rief Meglor.
Seine Gefährten musterten ihn überrascht, hatten sie doch von der Unterhaltung nur den letzten Ruf hören können.
„Gunthir“, befahl der Häuptling, „nimm Kerman mit Dir und suche uns einen Unterstand, sicher genug um Skurs Zorn auszuharren.“
Gunthir und Kerman ließen ihre Pferde bei den anderen zurück und machten sich auf die Suche.
Der Waldläufer konnte sich wage an einen felsigen Hügel erinnern, der mehrere Höhlengänge beherbergte. Trotz der schlechten Sicht gelang es den Beiden, den Hügel zu finden. Vorsichtig schlichen sie in einen der dunklen Gänge hinab. Die Wände waren feucht und tropften. Der Boden war hart und glitschig.
Bald waren sie zu weit vom Licht des Eingangs entfernt, um die Höhle ohne Fackel weiter zu erkunden. Gunthir beschloss, den Unterschlupf als geeignet zu erklären und umzukehren. Dennoch waren sie schon einen Schritt zu weit gegangen. Aus den Tiefen hallte das Gebrüll eines mächtigen Bären wider.
Gunthir besann sich der Tatsache, dass sie unbewaffnet waren.
„Zurück zum Ausgang!“, rief er und lief platschend die nasse Steintreppe hinauf. Oben angekommen bemerkte er, dass er Kerman verloren hatte. Also nahm er sich einen abgebrochenen Ast, entzündete das feuchte Holz mit einem schwarzen Pulver und kehrte wieder um.
Kerman konnte Gunthir rufen hören. Immer wieder hallte sein Name durch die dunklen Gänge.
„Kerman!“
Er wollte die Höhle jedoch nicht verlassen. Ganz im Gegenteil - ihm stand der Sinn mehr nach einer großartigen Trophäe und Wegzehrung. Schnell holte er einen Abendstern aus der Tasche. Er leuchtete beinah so stark wie eine Laterne. Lange Schatten spielten an den Wänden. Ab und an hörte er wieder einen Schrei Gunthirs hinter sich oder den Bären vor sich.
„Kerman!“
Plötzlich füllte ein bedrohlicher Schatten den Gang aus. Er näherte sich und drohte alles Licht zu ersticken. Kerman wich zurück. Er kniff die Augenlieder zusammen. Krallen. Fänge. Schwärze.
Eine Pranke schoss am Gesicht des Prinzen vorbei. Er machte einen weiten Satz nach hinten.
Endlich erkannte er Konturen in der Finsternis. Unscharf und dunkel zwar, aber mehr brauchte Kerman nicht.
Krallen wie Dolche scharrten über den Fels.
Kerman blieb in Bewegung. Gebeugt und wachsam umkreiste er das Ungetüm. Wer war Beute und wer Jäger? In diesem Moment wussten sie es selbst nicht.
„Kerman!“
Er hob den Dolch über seinen Kopf. Bereit. Er trat an den Bären heran. Nur einen kleinen Schritt.
Zu weit. Die Dunkelheit hatte ihn getäuscht. Nur eine Armlänge trennte jetzt die Kämpfenden. Der Bär riss sein Maul auf. Ein durchdringendes Brüllen erschütterte die Höhlengänge und paralysierte das Herz des Prinzen. Kalter Stein drängte in seinen Rücken. Der Speichel des Tieres spritze in sein Gesicht. Seine Fänge knallten aufeinander. Seine Pranke erschütterte die Felswand. Sein Atem brannte heiß auf Kermans Wangen.
Nahe. Zu nahe. Zu eng. Kerman atmete auf. Mit aller Kraft warf er sich gegen die Bestie. Fäuste, Dolch, Knie, Brust – es war ihm egal, womit er sie traf. Schädel oder Eingeweide – es war ihm egal, wo er es traf. Wie die Geweihe streitender Hirsche klangen ihre ineinander verkeilten Knochen.
Raum. Luft. Freiheit.
Endlich frei. Dieses Gefühl manifestierte Kermans Kehle in einem donnernden Schlachtruf.
Der Bär zögerte, musterte, wägte ab. Jäger oder Beute.
Gunthir hörte Kermans Schrei, der wie ein Erbeben durch das Gestein grollte. Flink sprang er über die glatten Steine in die Tiefen der Höhle hinab.
„Kerman! Narr! Dies ist keine Beute für nur einen einzigen Mann!“
Kerman rammte dem Bären den Abendstern ins Fell. Lichtblitze und dumpfes Gezeter erfüllten den Raum.
Wieder und wieder. Unzerstörbar schien der Balg.
Pranken und Krallen. Getroffen!
Kerman knallte benommen gegen die Höhlenwand. Sein Blick trübte sich. Sein Verstand stumpfte ab. Sein Herz raste. Sein Körper taumelte.
Müde drücke er sich von den Felsen weg.
Ein Gedanke schoss durch seinen Kopf:
Meglor, der Bär. Sohn des Meglor. Sohn des Bären. Eine Ehre.
Er zog einen zweiten Abendstern und nahm ihn in die andere Hand.
Der Bär schnaubte müde. Blut triefte. Beide waren geschlagen, doch keiner gab auf. Er richtete sich zur vollen Größe auf. Er überragte den Enelier um zwei Köpfe. Wutentbrannt fletschte er die mächtigen Zähne.
Kerman sammelte sich. Er fühlte sich schwach, und ausgeliefert. Er sah seinen Tod vor Augen. Die Bestie verlagerte ihr Gewicht nach hinten für den letzten Hieb.
Kerman wollte nicht sterben. Die Vision erzürnte ihn. Ohne Schwung, ohne Halt, ohne Reserven oder Kraft, nur von seinem eisernen Willen getragen, sprang er dem Tier entgegen. Wieder schoss die Pranke herab. Krallen durchschnitten Luft. Wieder knallten die Fänge. Hohl und ungelenk. Kerman war schneller. Seine Abendsterne waren am Ziel - in der Brust des Bären bis zum Griff. Ihr Licht verschwand. Reglose Stille. Schwärze.
„Kerman!“
Ein Blitz. Verzerrte Fratzen. Noch ein Blitz. Schmerzensschreie. Kerman schlug die Dolche abermalig in die Bärenbrust, bis seine Muskeln brannten. Der Bär krachte auf den Rücken. Kerman ließ sich fallen. Er rang nach Luft. Wie ein Tier kauerte er auf allen Vieren.
Doch er war der Jäger.
Im Halbdunkel betrachtete er seine Beute. Langsam bewegte sich ihr Brustkorb auf und ab. Kerman erschauderte. Der Bär begann, sich hin und her zu wälzen. Er versuchte, auf die Beine zu kommen.
„Stures, boshaftes Mistvieh!“, stieß der Häuptlingssohn hervor.
Er drehte seine magischen Wurfdolche in den Händen und sandte sie dem schwarzen Ungetüm entgegen. Sie trafen es in der Schulter, durchschlugen Fell und Knochen und fanden erst in der Felswand dahinter Einhalt, wo sie in tausend Stücke zersprangen. Mit einem letzten, knurrenden Atemzug des Bären kehrten Stille und Finsternis ein.
Erst jetzt bemerkte der Enelier die drei tiefen Schnitte in der Schulter, die ihm der Schwarzbär mit scharfen Krallen und brutaler Kraft beigebracht hatte.
Benommen kniff er die Augenlieder zusammen.
„Kerman! Lebt Ihr noch?“
Als Kerman, Meglors Sohn, die Augen öffnete, fand er sich an einem fremden Ort wieder. Seine Wunde war zu einer alten Narbe geworden. Eindringlich musterte er die drei weißen Striemen.
Dann stand er auf und sah sich um. Er befand sich auf einer langen Düne feinen Sandes. Bis zum Horizont sah er nichts als tausende weitere Sandhügel und darüber flogen ebenso viele Sternschnuppen. Der ganze Himmel war in Aufruhr. Die Gestirne strebten einem weißen Punkt über dem Dünenmeer zu. Nie zuvor hatte er einen solchen Ort gesehen. Er nahm eine Handvoll des Sandes auf und ließ die Körner durch die Finger rieseln. Die Sterne über ihm beschleunigten zu weißen Linien. Verblüfft sah er den Lichtern nach. Schon nach wenigen Augenblicken verloren sie ihre Eile wieder.
„Nur ein paar Jahrhunderte. Ein paar Generationen. Eine Handvoll Zeit - mehr nicht“, erklärte eine raue Stimme in bitterem Tonfall.
Kerman blickte in das Gesicht eines Mannes, der sich langsam näherte. Unendlich alt und zugleich kräftig und vital schien er. In seinen Augen spiegelten sich die Sterne wieder. Kerman kannte diesen Mann schon seit er denken konnte. Oder war es bloß stets die Gewissheit gewesen, dass er ihn eines Tages kennenlernen würde?
„Folge mir, ich muss in Bewegung bleiben“, erklärte der Alte.
Der Häuptlingssohn stapfte neben ihm her wie der Knappe neben dem Ritter.
Eine Weile gingen sie so nebeneinander, ohne ein Wort zu wechseln. Kerman musterte seinen seltsamen Begleiter. Seine Kleidung war zerfetzt und verdreckt. Außerdem ging er baren Fußes. Trotz alledem hatte er die Ausstrahlung eines Alwerkönigs.
Bald hatte Kerman seine Verwirrung überwunden und Neugierde hielt Einzug:
„Warum bin ich hier?“, verlangte er zu wissen, doch der Alte setzte bloß eine verärgerte Miene auf.
„Wo … ist hier?“, fragte Kerman weiter. Sein Begleiter jedoch zog nur missbilligend eine Augenbraue hoch und blickte den Häuptlingssohn kritisch an.
„Sprecht schon! Und sagt mir, wer Ihr seid“, forderte Kerman.
„Warum? Wo? Wer?“, höhnte der Alte schließlich. „Nur eine einzige Frage ist von Belang.“
„Welche?“, fragte Kerman schroff.
„Noch eine belanglose Frage. Ich will Euch auf die Sprünge helfen, Menschenkind: Die Frage ist wann! Mit der Zeit wärt Ihr selbst dahinter gekommen, aber wer hat schon Zeit, heutzutage … Nur, wann ist heute?“
Ein Sandkorn hatte sich in des Alten zerlumpten Umhang verfangen und lenkte ihn ab. Er nahm es mit zwei Fingern und hielt es vor sein rechtes Auge. Dann legte er es in die andere Hand, ballte sie zur Faust und fuhr fort: „Richtig, das wolltet Ihr ja wissen?“
„Dann sagt es mir, Seher.“
Dieser wandte sich schlagartig zu Kerman hin und lachte ihn an.
„Ha! Haha! Es nennt mich einen Seher, das ist ja gut!“ sagte er in einem heuchlerisch freundlichen Tonfall, „Ihr werdet mich noch kennenlernen. Nennt mich einen Propheten! Vorerst.“
Kerman wollte etwas sagen doch der Prophet war schneller: „Nun, dies hier ist kein Ort der Zeit. Nach dem Wann zu fragen, ist also überflüssig und dumm.“
Kerman wurde immer ungeduldiger. Schnell entspross der Zorn aus seiner Ungeduld. Aus Ehrfurcht vor diesem Ort und der Magie, die er in dem Unbekannten vermutete, beherrschte er sich dennoch und schwieg.
„Diesen Ort hat es nie gegeben und wird es immer geben. Ihr seid inmitten der reinsten Zeitsphäre, kleines Menschenkind.“
„Ihr sprecht in Rätseln, Prophet“, sagte Kerman und stellte sich vor ihn, um ihn zu stoppen, „Bleibt die Frage nach dem Warum.“
Verärgert stemmte der Alte die Arme in die Hüften und starrte ihn eindringlich an. Dann nahm er behutsam das Sandkorn aus der Linken, zeigte es Kerman und sagte:
„Euer Schicksal, aufbrausender Häuptlingssohn. Ich habe beschlossen, es zu ändern. Und ich will, dass ihr das wisst!“ Dann stieß er Kerman kraftvoll aus dem Weg, überrannte ihn fast, worauf der wohl mächtigste Krieger Eneliens unsanft auf dem Rücken landete.
„Ihr könnt den Lauf der Zeit nicht aufhalten!“
Kerman blieb nachdenklich zurück.
„Du wirst sterben.“, rief der Prophet, ohne nach hinten zu sehen.
„Sicher … nur wann?“
„Eine gute Frage! Du lernst schnell Menschenkind.“ Er drehte sich um und prophezeite mit emphatischer Stimme: „Im Kampf um Horns Bucht. Es wird eine Schlacht geben und Du und Dein Bruder, nun … ihr werdet fallen. Ja, ihr werdet fallen.“
Ein breites Grinsen teilte sein faltiges Gesicht. Dieser höhnische Gesichtsausdruck war weit provokanter als die Sprüche von Tod und Verderben.
„Noch ein Wort und ich werde Euch lehren einem Enelier zu drohen!“, rief Kerman und griff nach einem seiner Wurfdolche. Als er ihn gefunden hatte, fand er sich selbst allein in der dunklen Bärenhöhle wieder.
„Kerman!“
Nur das Trommeln des tropfenden Wassers konnte er wahrnehmen. Er spürte seine Wunden wieder. Seine Leinen waren feucht von erkaltetem Blut und die Felle waren zerrissen und im Gang verteilt. Er fror und verlor zusehends an Kraft. Das Atmen fiel ihm schwerer. Eine Weile lag er im Dunkeln und versuchte sich klar zu werden, was er eben erlebt hatte. Waren die Schläge auf den Kopf so hart gewesen?
„Kerman, Meglors Sohn! So antwortet doch!“
Gunthir war bereits sehr nahe an Kerman herangekommen, sodass ein kraftloses „hier“ ausreichte, um dessen Aufenthaltsort auszumachen.
Als der Kundschafter Kerman erreicht hatte, verlangte er zu wissen, was denn geschehen sei.
„Nur ein Traum, mein Freund, mehr nicht“, antwortete Kerman. Gunthir sah im Schein der Fackel auf den toten Bären hinunter und erwiderte: „Eure Träume haben wahrlich große Macht! Auf dass ihr niemals von einem größeren Übel träumen mögt, als von diesem Untier.“ Dann kramte er, aus einem kleinen Lederbeutel ein paar Kräuter hervor und kümmerte sich um Kermans wieder blutende Verletzungen.
Tage später erreichte das Gefolge Meglors die Stadt Heldenruh. Sie war nach der Wasserwacht jene Siedlung, welche Horns Bucht am nächsten lag.
Heldenruh war vor allen Dingen der Markt der Tauschhändler. Hier kamen die Waren aller Klans zusammen. Wer Metalle brauchte, ertauschte sie von den Fengard, wer Felle brauchte von den Algard. Wolle, Käse und Fleisch bekam man von den kleineren Klans der Umgebung. Wer jedoch wie früher den Tand der Festländer anbieten wollte, brauchte starke Nerven oder einen dunklen Winkel für seine Geschäfte. Seit Korahan in Horns Bucht gelandete war, stand das Wort „Golat“ für Ketzerei und Feindschaft und wer sich mit den Festländern abgab, den ereilte schnell der Ruf eines Verräters.
Als Meglor das Stadttor passierte, warteten die Menschen bereits auf ihn. Ein Waldläufer hatte ihn kommen sehen und es sogleich in der Stadt verkündet.
Die Gesichter Meglors und seiner Gefährten erhellten sich ob der Tatsache, dass sich die Herrschaft des Königshauses auch hier, in der Heimat so ferner Klans, noch immer solch großen Zuspruchs erfreute, obwohl Meglor die Stadt seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Die Menschen bejubelten aber nicht nur ihren Herren, sondern auch jenen Mann in Meglor, der gekommen war, ein Heiligtum zu reinigen.
Kerman allein erfreute sich nicht der jubelnden Menge, sondern hing in sich gekehrt dunklen Gedanken nach. Immer wieder sah er zu seinem Bruder hinüber, der neben ihm ritt.
Er hatte keinen Wundbrand und auch sein Blut war stark und rein wie schon immer. Was er in der Höhle erlebt hatte, musste eine wahrhaftige Erscheinung gewesen sein und keine Folge der Verletzungen. Er musste die Prophezeiung ernst nehmen.
Er würde sterben. Aber das schreckte ihn nicht. Er fühlte sich stets dafür bereit, im Kampf zu fallen. Er sah es immer schon als seine Aufgabe an. Er war der Verteidiger der Herrschaft. Aber sein Bruder musste Leben, denn er würde eines Tages der Herrscher selbst sein.
In Heldenruh gab es keinen Thanen wie in den Klanstädten. Die Menschen hier waren ein bunter Haufen und jeder von ihnen gehörte einem anderen der Klans des Umlandes an.
So gab es, außer den Ehren in den Straßen, keinen offiziellen Empfang für Meglor und auch keinen Herrschaftssitz, indem er für die Nacht hätte einziehen können. Zwar hätte wohl jeder einzelne Enelier hier nur zu gern sein Heim und sein Brot mit dem König geteilt, dennoch beschloss Meglor, mit seinem Gefolge in einer Taverne Unterschlupf zu suchen.
Anders als in den Tavernen der Festländer wurde auf der Insel nicht Met oder Bier gegen Münzen getauscht. Es waren eher Brauhäuser, in denen jedermann das Recht hatte, einen Krug und ein Bett zu bekommen, wenn er dem Wirt ein Geschenk brachte. Meglor schenkte dem Wirt ein Bündel Hasenfelle und hätte sich so das Recht verdient für Wochen zu bleiben.
„Felle von den Feldern der Selderlande“, sagte er dem Wirt, „Für ein Bett für die durstigen Krieger der Merian.“
Der Wirt deutete eine Verbeugung an, nahm vier volle Krüge seines besten Mets und führte seine Gäste durch einen Gastraum, der erfüllt war von süßlichem Wasserdampf, welcher von einem Früchtetee stammte, den man hier zu Brot und Speck trank. Zwei Dutzend enelische Tauschhändler standen beim Eintreten Meglors schlagartig auf und senkten ihre Häupter. „Gott zum Gruße, Sohn des Diothan“, rief einer, „Horn ruft!“, ein anderer.
Es gab keine Etikette, wie man mit enelischem Adel umzugehen hatte. Zum einen war der enelische Adel kaum zwei Generationen alt, zum anderen fehlten auf der Insel festländische Vorbilder, da die wenigsten je etwas vom sianorischen oder golatesischen Hofzeremoniell gehört hatten.
Meglor kannte es, denn Diothan forderte es nach dem Krieg von seinen Getreuen ein. Der König wäre aber der letzte gewesen, der von irgendeinem Mann gefordert hätte, vor ihm im Staub zu kriechen.
Im Gegenteil, er schritt durch sein Volk wie einer von ihnen und packte den einen oder anderen an der Schulter und blickte ihm in die Augen wie ein stolzer Vater.
Er tat es von dem Glauben beseelt, dass ein jedes Gesicht, das er betrachtet ihn in seinen Träumen zur Rechenschaft ziehen würde, wenn er dem Wohl seines Besitzers wissentlich zuwiderhandeln würde.
Hinter dem Gastzimmer führte eine knarrende Holztreppe in ein höheres Stockwerk. Das war ungewöhnlich, denn enelische Häuser, selbst die Halle Meglors, waren fast immer einstöckig. Hier in der Taverne jedoch gab es ein großes Lager voller Fässer und darüber ein weiteres kleines Gastzimmer und ein Strohbettenlager.
In diesem Gastzimmer stellte der Wirt schwungvoll seine Krüge ab, sodass ihr Inhalt über die Ränder spritzte und ließ seine Gäste allein. Beim Hinausgehen nahm er auch die Schaulustigen mit, die sich hinter ihnen über die Treppe heraufdrängten.
„Was raubt Dir Deinen Durst Kerman?“, fragte Brodhan seinen Bruder, der sich als Einziger nicht sogleich über einen der Krüge hermachte. „Zweifelst Du immer noch an unserem Erfolg?“
Kerman nahm seinen Krug und stellte ihn zu dem Brodhans. Er vergewisserte sich, dass sein Vater in ein Gespräch mit Gunthir vertieft war, ehe er seinem Bruder zuflüsterte: „Versprich mir Bruder, dass Du nicht in den Krieg ziehen wirst.“
„Von welchem Krieg sprichst Du? Soweit wird es nicht kommen!“
„Wenn es geschieht, dass die Krieger fallen, so hast Du ein Volk zu regieren - versprich mir, dass Du nicht kämpfst!“, forderte Kerman, dann aber stand er auf ohne eine Antwort abzuwarten und verschwand im Nebenraum.
„Ich weiß nicht, ob ich das könnte“, flüsterte Brodhan zu sich selbst. Es war eine seltsame Bitte. Sie war auf eine Art besonnen, die nicht zu seinem Bruder passte. Kerman hatte noch nie einen Gedanken an den Tod verschwendet. Zumindest dachte Brodhan das.
Bald darauf ging auch Meglor zu Bett. Er hatte sich und seine Männer tagelang mit magischem Feuer gewärmt. Nun zahlte sein Körper dafür die Zeche. Sie waren erst fünf Tage unterwegs und er fühlte sich, als wären es fünfzig gewesen.