Gwenfrewi verließ die Burg durch eine alte, in Vergessenheit geratene Tür in der Sattelkammer. Sie durchquerte den Obstgarten und erreichte eine Pforte in der Burgmauer, durch die man in die Weinberge gelangte. Sie duckte sich hinter die Reben und sah zum Wehrgang hinauf, um sich zu vergewissern, dass sich der Wächter gerade auf dem von ihr abgewandten Teil seiner Runde befand. Geduckt eilte sie an den Rebenreihen entlang, bis sie den Rand des Weinbergs erreichte. Sie wollte schon aus der Deckung der Weinstöcke hervortreten, als anschwellendes Getöse sie erschrocken innehalten ließ.
Süßer Jesus, dachte sie, das übertrifft bei Weitem Berthas Beschreibung ... Gwenfrewi starrte auf die ausgelassenen Menschen. Rund um das hoch auflodernde Feuer entlud sich ungezügelte heidnische Lebensfreude. Überall torkelten Betrunkene. Raue Männerstimmen grölten; man polterte, schepperte, dröhnte mit Küchengeschirr, Trinkbechern, Ackergerät und Kupferkesseln, um die Geister zu vertreiben. Die Frauen hatten sich hinter einem Pferdefuhrwerk verschanzt und verteidigten ihre behelfsmäßige Minneburg heldenhaft gegen den Ansturm der jungen Männer. Becher, Würste, durchweichte Brotscheiben, Schinken, und Hühnerknochen flogen den johlenden Angreifern entgegen.
Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte geglaubt, den vereinbarten Treffpunkt ohne Schwierigkeiten erreichen zu können. Doch nun saß sie hier fest. Oder doch nicht? Die Jünglinge hatten ganz offensichtlich nur Augen für die Frauen, deren Verteidigung zusehends erlahmte. Gwen raffte ihre Röcke und schlich gebeugt zwischen den Rebenreihen vorwärts. Hinter einem verfilzten Busch, in dem sich Waldreben, Himbeeren und Schlehdorn gegenseitig erwürgten, ging sie in Deckung. Vor ihr erstreckte sich ein schmaler Feldweg, der nahtlos in den Wald überging. An vielen Stellen stand das Gras schon hüfthoch, ein Zittern und Flirren im Licht der flackernden Flammen, aus dem die knorrigen Stämme einiger Apfelbäume ragten. Würde das reichen, um ihr Deckung zu gewähren?
Warum hast du mir diese Bürde aufgeladen, Mutter? Ich bin nicht dafür gemacht, vor Tau und Tag allein in einem Wald herumzulaufen. Sie unterdrückte einen Seufzer. Alles Jammern und Hadern mit dem Schicksal half ihr nicht weiter. Sie hatte ihrer Mutter auf dem Totenbett versprochen, die Aufgabe fortzuführen. Daran musste sie sich halten. Hastig stopfte sie sich den Saum ihres Rockes hinter den Gürtel und eilte auf den Wald und den verabredeten Treffpunkt zu.
Im Frühgrau trat Gandar auf den noch dunklen Burghof hinaus. Brenneberg zog eine brennende Fackel aus dem eisernen Halter und leuchtete Ahmad entgegen, der die gesattelten Pferde heranführte.
»Wollt Ihr nicht doch warten, bis es heller wird?«, fragte er.
»Nein«, sagte Gandar. »Es reitet sich angenehmer, solange es noch kühl ist. Außerdem brennen überall noch die Sonnwendfeuer. Das ist mehr Beleuchtung als nötig.«
Die Männer stiegen in die Sättel. Gandar nahm die Zügel auf und trieb seinen Hengst an. »Noch einmal Dank für Eure Gastfreundschaft«, rief er über die Schulter zurück. »Lebt wohl.«
Brenneberg hob grüßend die Fackel, doch die Männer passierten schon in leichtem Trab die geöffneten Tore der Wehranlagen.
Gandar sah hartnäckig geradeaus und äußerte bald zehn Minuten lang nichts.
»Woran denkt mein Bruder Löwe?«, fragte Ahmad, dem das Schweigen wohl zu lange währte.
»An nichts von Bedeutung«, sagte Gandar, obwohl das nicht stimmte. Er hatte an Gwenfrewi gedacht und wie schön ihr Haar im Kerzenlicht ausgesehen hatte.
Gemächlich trotteten die Pferde dahin. Mit der Morgenbrise wehte Rauchgeruch von den Sonnwendfeuern heran. Gelächter wurde zu schrillem Jubelgeschrei; es entfernte sich; es verstummte.
Plötzlich zügelte Gandar seinen Rappen. Das Gesicht seinen Begleitern zugewandt, legte er den gestreckten Zeigefinger auf die Lippen und stieg aus dem Sattel. Ahmad die Zügel zuwerfend, glitt er im tiefen Schatten der Eichen davon.
»Hast du etwas gehört? Oder gesehen?«, fragte Gareth.
Ahmad schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Natürlich nicht. Wer außer Gandar könnte etwas erkennen in diesem Licht, das weder Tag noch Nacht ist? Warten wir ab.«
Wolfram war noch nicht da. Gwenfrewi verbarg sich hinter zwei Baumstämmen, von wo aus sie einen freien Blick in die Richtung hatte, aus er kommen musste, und machte es sich so bequem wie möglich. Es war nicht so, dass sie wirklich Angst gehabt hätte. Nein, das nicht. Was ihr Sorgen bereitete, war die Frage, wie sie ohne die Anweisungen ihrer Mutter zurechtkommen sollte. Sie hatte nur wenig Erfahrung damit, Männer auszuhorchen.
»Stellt Euch dumm, Kind«, hatte Berta ihr geraten. »Hängt an ihren Worten und gebt vor, unsterblich in sie verliebt zu sein … Im Grunde sind Männer harmlos.«
Gwenfrewi schüttelte den Kopf. Wolfram von Milanes konnte man wohl kaum als harmlos bezeichnen. Der Mann hatte etwas an sich, dass sie wünschen ließ, aus seiner Gegenwart zu entkommen. Es war, als betrachte man eine schlafende Schlange, als sähe man etwas, das eigentlich nicht hierhergehörte, ohne dass man sagen konnte, wohin es gehören sollte. Man wusste nur, dass es falsch war und dass unter der Oberfläche des gutmütigen, ein wenig einfältigen Mannes ein Abgrund gähnte, und wer ihm zu nahe kam, der fiel hinein.
So versunken war sie in ihre trüben Gedanken, dass sie die Hand, die sich auf ihren Mund presste, viel zu spät bemerkte. Ein harter Arm umschlang ihren Körper, zog sie mit sich fort. Sie trat und kratzte, versuchte, in die Hand zu beißen, die ihr die Luft abschnitt.
»Gwen! Fräulein Gwenfrewi … Au! Ich bin es, Wolfram … so haltet doch ein ...«
Ihre verzweifelten Bewegungen wurden fahrig, verloren ihre Kraft und Zielgerichtetheit und hörten schließlich ganz auf.
»Wie könnt Ihr es wagen!«, keuchte sie. Sie löste sich mit einer abrupten Bewegung von ihrem Angreifer und trat zurück. »Ihr habt mich zu Tode erschreckt.«
Wolfram von Milanes deutete nachlässig eine Verbeugung an. »Ich bitte um Vergebung, mein Fräulein. Ihr wart in Gefahr, entdeckt zu werden.«
»Nicht bevor Ihr kamt«, gab sie zurück. Wie gerne sie ihm mit einem gezielten Schlag das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht gewischt hätte!
»Nun, wie dem auch sei, ich bin höchst erfreut, dass Ihr meinem Wunsch nach einem Treffen nachgekommen seid. Ich bin extra früher erschienen, um Euch auf keinen Fall zu verpassen. Als Ihr nicht kamt, war ich in Sorge, Ihr hättet es Euch anders überlegt.«
»Ich konnte nicht eher fort«, erwiderte Gwen. »Wir hatten unerwartet Gäste und mein Vater ging später als üblich zu Bett.«
»Dann sei Euch vergeben.« Wolfram ergriff ihren Arm, führte sie tiefer in den Wald hinein und bedeutete ihr, auf einem umgestürzten Baumstamm Platz zu nehmen.
»Ihr hättet mich in der Burg aufsuchen können«, sagte Gwenfrewi. »Wozu diese Geheimniskrämerei?«
»Mein Anliegen ist nicht für fremde Ohren bestimmt.«
»Aha.«
»Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht so recht, wie ich beginnen soll.«
»Mit dem Anfang vielleicht?«, säuselte Gwen und klimperte mit den Wimpern.
Wolfram schien nicht zu bemerken, dass sie sich über ihn lustig machte. Umständlich ließ er sich neben ihr nieder und streckte die Beine aus. »Versprecht mir, dass Ihr mich ausreden lasst.«
»Bin ich so berüchtigt für meine Einwürfe?«
»Es wird Euch vielleicht nicht gefallen, was ich Euch mitzuteilen habe.«
»Das findet Ihr am besten heraus, indem Ihr sagt, was es zu sagen gibt.«
»Gut, dann in dürren Worten«, sagte er. »Es war ein lang gehegter Wunsch Eurer Mutter, Land und Vermögen unserer Familienzweige zu vereinen. Ihr und ich waren dazu ausersehen, das Bündnis durch eine Heirat zu besiegeln. Aber nun ist mir zu Ohren gekommen, dass Ihr einem anderen Mann versprochen seid, und ich bin schwer enttäuscht über Euren Herrn Vater, dem die Wünsche seiner Gemahlin so wenig zu bedeuten scheinen, dass er sie ignoriert. Ich habe die ältere Rechte an Eurer Hand.«
»Ihr müsst Euch irren. Meine Mutter hätte mir ganz gewiss von einer solchen Vereinbarung erzählt.«
Wolfram winkte ab. »Sie wollte Euch Zeit und Gelegenheit geben, mich unbeeinflusst kennenzulernen, bevor sie Euch in die Hochzeitspläne einweiht. Doch nun drängt die Zeit. Ihr müsst zu Eurem Vater gehen und darauf bestehen, dass die Wünsche Eurer Mutter erfüllt werden.«
»Ich fürchte, dafür ist es zu spät«, sagte Gwenfrewi. »Der König selbst hat diese Ehe für mich arrangiert. Die Verträge sind unterschrieben und gesiegelt, das Datum der Trauung festgesetzt.«
»Deshalb werden wir Eurem Vater zuvorkommen. Ihr teilt das Bett mit mir und wir beweisen allen, dass Ihr das Versprechen Eurer Mutter zu ehren gedenkt.«
Gwenfrewi holte Atem. Wolfram hielt sich den Finger an die Lippen. »Ihr habt versprochen, mich anzuhören«, sagte er.
»Was Ihr da vorschlagt, grenzt an Verrat«, gab Gwenfrewi zurück. »Dafür gebe ich mich nicht her.«
»Von welchem Verrat redet Ihr? Ich habe einen Vertrag, der mir Eure Hand garantiert, sobald Ihr das sechzehnte Lebensjahr erreicht habt. Was in Kürze der Fall sein wird. Ich bestehe darauf, dass die Absprachen eingehalten werden.«
»Von so einem Vertrag weiß ich nichts«, sagte Gwenfrewi tonlos. »Und mein Vater auch nicht. Folglich gibt es keine Absprachen, auf die Ihr Euch berufen könnt.«
Gwen gefiel es nicht, sein Gesicht zu sehen. Seine Züge wechselten zwischen Unglauben und Zorn hin und her. Am schlimmsten war jedoch die Kälte, die darin aufschimmerte.
»Euer Misstrauen beleidigt mich«, sagte Wolfram. »Es zwingt mich dazu, Euch ein Ultimatum zu setzen. Ich erwarte, dass Ihr bis morgen Abend die Sache mit Eurem Vater bereinigt habt.«
Sie starrte ihn an. »Wie bitte?« War er noch bei Sinnen?
Als Gwenfrewi sah, wie seine Augen von ihrem Haar über ihr Gesicht zu dem Ausschnitt ihres Bauerkittels wanderten, schlangen sich ihre Eingeweide zu Knoten, schnürte Panik ihr die Kehle zu. Irgendetwas ist hier gründlich schief gegangen, dachte sie. Jetzt ist alles verloren! Süßer Jesus, was soll ich jetzt tun?
Wolfram wandte sich ihr zu. Seine Arme waren ausgestreckt und schlossen sich rasch um sie. Zu rasch. Er zog sie zu sich heran. Fand ihren Mund und drang mit seiner Zunge in ihn ein. Ein Schauer durchlief sie. Sie hatte das Gefühl, in eisiges Quellwasser getaucht zu werden. Endlich ließ er sie los.
Gwenfrewi sprang auf und wich einige Schritte zurück. »Verschwindet«, fuhr sie ihn an. »Und kommt mir besser nicht mehr unter die Augen!«
»Morgen Abend«, erinnerte er sie. Damit wandte er sich um und war wenige Herzschläge später zwischen den Bäumen verschwunden.