Gwenfrewi von Brenneberg schwankte zwischen Hoffnung und Furcht, als sie in Begleitung einer Magd den Saal betrat. Konnte der dunkle, einschüchternde Fremde der Nachfolger ihre Mutter sein, auf den sie schon so lange vergeblich wartete? Sie hatte im Hof nur einen kurzen Blick auf ihn werfen können, aber das hatte genügt, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. Er war groß und schlank wie ein Wolf und es erschien nicht ratsam, ihm in die Quere zu kommen.
Die Magd stellte Pokale und Wein auf einer Truhe ab und Gwenfrewi griff nach dem Krug, um einzuschenken. Ihr Vater nickte ihr zu. »Dies ist meine älteste Tochter Gwenfrewi. Sie ist es, deren Geschick Ihr gelobt habt.«
»Ich beglückwünsche Euch zu Eurer ausgezeichneten Taktik, mein Fräulein«, sagte der Fremde.
Gwenfrewi machte einen Knicks, hielt die Augen auf den Boden gerichtet und murmelte: »Habt Dank, mein Herr.«
Der Mann hob nachlässig die Schultern. »Trotzdem solltet Ihr Euch Eures Sieges nicht zu sicher sein. Ein kluger und vorausschauender Gegner könnte Euch durchaus noch schlagen.«
»Vielleicht«, erwiderte sie sanft. »Vielleicht auch nicht.«
»Vergebt mir meine Anmaßung, Fräulein, aber ich bin überzeugt, dass ich es könnte«, bemerkte er, während er einen Pokal Wein entgegennahm. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, aber seine waldgrünen Augen wirkten unergründlich – und kalt.
Gwenfrewi musterte ihn verstohlen. Sein Blick war nicht so, wie sie es von den Männern der Burgbesatzung gewohnt war. Es war keine Wärme in diesen Augen, kein Willkommen. Nie zuvor hatte sie ein männliches Gesicht gesehen wie das seine. Faszinierend war ein Wort. Erschreckend ein anderes.
Nichts in diesen Gesichtszügen deutete auf Weichheit hin. Die harten Linien um seine Augen und den Mund straften das Lächeln Lügen. Das Kinn war eckig, widerspenstig und hätte äußerst einschüchternd gewirkt, wäre da nicht der kurze Bart gewesen, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh. Und sein Mund war die pure Versuchung, wie geschaffen, ein Mädchen um den Verstand zu küssen …
Nein, nein, nein, dachte sie, das ist ungehörig von mir. Diese Gedanken sind verwerflich. Ich darf nicht, ich darf nicht …
Er musste ihre angespannte Miene bemerkt haben, denn sein Blick ließ ihren nicht los, während er einen tiefen Schluck aus seinem Pokal nahm.
»Nun, Herr Bote, welche Nachrichten bringt Ihr?«, fragte ihr Vater mit einem ungeduldigen Unterton in der Stimme.
»Verzeihung. Kennt Ihr Euch mit der Politik am königlichen Hof aus?«
»Gott bewahre! Bei Politik halte ich mich lieber heraus. Es gibt in diesem Land zu viele kleine und große Herrscher und zu viele Machtinteressen. Ich verabscheue diesen ganzen Sumpf. Politik bedeutet, dass Höfe in Flammen aufgehen und Burgen belagert werden und … Gut, Ihr werdet einen Grund haben, mich mit diesen Dingen zu quälen. Sprecht also.«
»Es geht um das Konzil in Lyon und den Papst, der sich anmaßt, den rechtmäßigen Kaiser abzusetzen. Innozenz schäumt und bezichtigt Friedrich des Eidbruchs und häretischer Glaubensvorstellungen. Was nicht der Wahrheit entspricht.«
»Wie man hört, wirft seine Heiligkeit ihm seine Kontakte zu sarazenischen Herrschern und den Verkehr mit Sarazenen-Mädchen vor. Und damit hat er recht. Es ist unmoralisch und ein schlechtes Beispiel. Trotzdem hätte der Papst das Friedensangebot des Kaisers annehmen sollen«, brummte Brenneberg. »Ich mag diese ewigen Grabenkämpfe nicht. Warum kann nicht alles bleiben, wie es ist? Ich will Ruhe. Nichts als meine Ruhe.«
»Die werdet Ihr nicht bekommen.«
Brenneberg, der bisher gestanden hatte, ließ sich auf einem der Faltstühle nieder und bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, seinem Beispiel zu folgen.
»Meine Antwort gefällt Euch wohl nicht? Erscheint es Euch verwerflich, wenn ich mit den Differenzen der hochgeborenen Herren nichts zu tun haben möchte?«
»Nun, nicht verwerflich …«
»Aber?«
»Nutzlos«, sagte Rodéna. »Ihr steht überall in dem Ruf, ein treuer Anhänger des Kaisers und seines königlichen Sohnes zu sein. Oder habe ich etwas Falsches gehört?«
Gwenfrewi starrte ihn überrascht an. Sie spürte unwillkürlich etwas von der unheilvollen Drohung, die in der scheinbar achtlos hingeworfenen Frage verborgen war. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es nicht ratsam wäre, sich diesen Mann zum Gegner zu machen. Er würde einen gefährlichen Feind abgeben - mächtig und seiner selbst sicher.
»Euren Mangel an Höflichkeit will ich Euch für diesmal noch nachsehen, mein Herr«, entgegnete Brenneberg schneidend. »Allerdings tätet Ihr gut daran, mir einen Beweis zu liefern, dass Ihr tatsächlich ein Bote des Kaisers seid. Meinen Kaplan könnt Ihr mit Euren Siegeln vielleicht beeindrucken. Mich nicht.«
»Könnt Ihr lesen?«
Brenneberg nickte. »Sicher.«
»Ausgezeichnet.« Rodéna zog ein in Leder eingeschlagenes Päckchen unter seinem Kettenhemd hervor, öffnete die Verschnürung und entnahm ein dünnes Bündel Pergamente, dessen Oberstes er seinem Gastgeber reichte.
»Was ist das?«
»Eine Urkunde, die meine Stellung als Abgesandter des Kaisers bestätigt. Gewiss erkennt Ihr das Siegel seiner Majestät? Und hier …«, Rodéna zupfte weitere Blätter aus dem Stapel und reichte sie dem Burgherrn, »... ein Rundschreiben des Kaisers an seine deutschen Fürsten. Ergänzt durch persönliche Notizen, die ich während der Reise niedergeschrieben habe. Sie dürften Euch interessieren, da sie die Gründe aufzeigen, warum die Wahl Heinrich Raspes zum König als ungültig angesehen werden muss.«
»Ihr wart dort?«
»Allerdings. Der Kaiser hat mich beauftragt, ihm alles zu berichten, was in diesem Land vorgeht, nach Möglichkeit aus eigener Anschauung. Gut für Euch, dass Ihr Euch geweigert habt, an dieser Farce teilzunehmen.«
Brenneberg verschränkte die Arme. »Ich weigere mich«, erklärte er, »da es auf deutschem Boden schon einen rechtmäßig gewählten König gibt.« Er brach ab. Kopfschüttelnd blätterte er die Pergamente durch und zog schließlich ein eng beschriebenes Blatt aus dem Stapel, um es zu überfliegen.
Gwenfrewi spähte verstohlen über seine Schulter. Viele der größten Herren im Lande konnten nicht einmal ihren Namen schreiben oder lesen … und dieser Mann hier schrieb ganze Berichte, obendrein in einer ordentlichen, gestochenen klaren Schrift, wie sie üblicherweise nur Kleriker beherrschten?
Zögernd schob Brenneberg den Bericht wieder in den Stapel zurück, nahm sich stattdessen den Brief des Kaisers vor und studierte ihn schweigend.
Gwenfrewi rückte unauffällig näher an ihren Vater heran, in dem Versuch, den Inhalt des Briefes zu erhaschen.
»Grundgütiger«, sagte Brenneberg plötzlich. Er ließ das Blatt sinken und starrte seinen Gast an. »Ihr seid Gandar von Rodéna? DER Gandar von Rodéna?«
Rodéna zog die Brauen in die Höhe, sagte aber nichts.
Brenneberg trank, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Dann fuhr er fort: »Eure Tat hat den Rheingau in zwei Lager gespalten. Die einen zollen Euch Beifall für Euren Mut, die anderen halten Euch für einen Brandstifter, der die gottgewollte Ordnung infrage stellt.«
Rodéna schnaubte. »Keine Frau verdient, halb zu Tode geprügelt zu werden, weil sie einen schärferen Verstand besitz als ihr Ehemann.«
»Die Sache ging Euch nichts an.«
»Nein«, widersprach Rodéna entschieden. »Was ich gesehen habe, war das abscheuliche Verhalten eines Feiglings, der nicht den Mut aufbringt, sich einen ebenbürtigen Gegner zu suchen. Es war meine Pflicht, die Frau zu verteidigen.«
»Hm.« Brenneberg wiegte den Kopf hin und her. »Ich fürchte, Ihr habt Euch einen unversöhnlichen Feind geschaffen.«
Rodéna zuckte die Schultern. »Das bekümmert mich nicht.«
»Ich muss sagen, Ihr seid wirklich über die Maßen galant zu den Damen, mein Herr«, spottete Brenneberg und wandte sich wieder den Pergamenten zu.
Gwenfrewi biss sich auf die Lippen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wenn dies der Mann war, dem die Sänger und Geschichtenerzähler den Beinamen Löwe von Rodéna verliehen hatten, konnte er unmöglich der Mann sein, der die geheimen Aufgaben ihrer Mutter übernehmen sollte. Seine ungeheuerliche Tat machte ihn zum Hauptgesprächsthema in den Gesindekammern. Oder gehörte dies zu seiner Tarnung? Hatte man ihn ausgewählt, weil er so ehrenhaft wirkte, dass niemand ihm zutraute, ein Spion zu sein?
Gwen schluckte trocken. Wie gerne hätte sie jetzt ihren Vater um Rat gefragt. Doch dieser ahnte nichts von dem Vermächtnis, das seine Gemahlin ihrer ältesten Tochter hinterlassen hatte. Ohne es zu wollen, war sie Teil einer streng geheimen Organisation geworden, die im ganzen Reich Nachrichten für die königliche Kanzlei sammelte. Die Aufgabe war ihr zuerst recht einfach erschienen. Sie musste Botschaften entgegengennehmen und aufbewahren, bis der Nachfolger der Gräfin eingetroffen war. Doch inzwischen lag der Tod ihrer Mutter ein halbes Jahr zurück, ohne dass sich etwas getan hatte. Keiner der möglichen Kandidaten hatte auf das geheime Zeichen reagiert und Gwen quälte die Sorge, dass ihr Dilemma in der königlichen Kanzlei noch gar nicht bemerkt worden war. Vielleicht war ihr Gast ja der Gesuchte, aber Gwen war sich keineswegs sicher, ob ihr der Gedanke gefiel. In der Notwendigkeit, eine Entscheidung treffen zu müssen, stand sie da und starrte blicklos auf das Schachspiel vor dem Kamin. Sie wusste, was sie ihrer Mutter schuldig war und es gab keinen Weg, sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Sie griff nach dem Weinkrug und ging herum, um die Pokale der Männer nachzufüllen. Während sie einschenkte, drehte sie die linke Hand so, dass der auffällige Ring an ihrem Finger nicht zu übersehen war. Aber Rodéna schien gar nicht auf ihre Hände zu achten. Jedenfalls deutete nichts darauf hin, dass er den Ring erkannte.
Gwenfrewi seufzte kaum hörbar. Darüber sollte ich doch eigentlich erleichtert sein, oder? Aber das bin ich nicht … Viel mehr denke ich, dass ich ihn gerne wieder gesehen hätte … Jesus, was für ein Durcheinander …
Beinahe fluchtartig zog sie sich an den Spieltisch zurück und beschäftigte sich mit dem unterbrochenen Schachspiel.
Inzwischen hatte Brenneberg seine Lektüre beendet und gab die Pergamente an seinen Gast zurück. »Mir scheint, der kaiserliche Hof ist zu einem Wespennest verkommen«, bemerkte er. »Wenn selbst der Kaiser seines Lebens nicht mehr sicher ist ...«
»Es war eine Verschwörung, die mit Wissen und ausdrücklicher Billigung des Papstes in Gang gesetzt wurde«, sagte Rodéna. »Der Kaiser hatte Glück, dass der Anschlag im letzten Moment vereitelt werden konnte.«
»Grundgütiger!«
»Da ist noch mehr. Zeitgleich gingen Botschaften zwischen Mainz und einer der Rheinburgen hin und her, die einen Anschlag auf König Konrad zum Thema hatten.«
»Einer der Rheinburgen? Wie soll ich das verstehen, mein Herr? Rheinburgen gibt es viele. Drückt Euch ein wenig präziser aus, wenn es genehm ist.«
Rodéna antwortete nicht, aber sein Schweigen war beredt.
»Ihr glaubt, dass ich …« Brenneberg hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er sprang auf und stapfte aufgebracht durch den Saal. »Der Kaiser denkt, ich habe mich in ein so schändliches Unternehmen hineinziehen lassen? Das ist widerwärtig!«
Rodéna hob seine Hand. Und obwohl er ein wenig abgerissen aussah – die Geste war die eines Mannes, dem man gehorchte. »Ich erinnere mich nicht, den Namen Brenneberg erwähnt zu haben. Wie kommt es, dass Ihr sogleich auf Euch schließt, mein Herr?«
Brenneberg nahm einen tiefen Schluck aus seinem Pokal. »Euer Schweigen war kaum anders zu verstehen.«
»Nur ein getroffener Hund bellt.«
»Ich bin kein Intrigant, der sich beliebig vor jeden Karren spannen lässt. Mit diesem angeblichen Mordbrief habe ich nichts zu tun.«
»Schön. Habt Ihr Zeugen, die das bei Bedarf beschwören könnten?«
»Wollt Ihr mir drohen?«
Rodéna strich sich mit dem Daumen übers Kinn. »Betrachtet es als wohlmeinende Warnung. Ihr mögt vielleicht selbst nichts mit dem Brief zu tun haben - aber Ihr könntet Euch schneller in der Rolle des Sündenbocks wiederfinden, als Euch lieb ist. Es gibt einen päpstlichen Spion in Eurem Haushalt.«
Brenneberg hätte sich um ein Haar an seinem Burgunder verschluckt. »Wie bitte? Einen päpstlichen Spion?«, fragte er röchelnd, schlug sich ein paar Mal mit der Faust vor die Brust und hustete.
»Der Gedanke ist Euch wohl noch gar nicht gekommen? Was seid Ihr doch für ein Unschuldslamm …«
Entgeistert starrte Brenneberg ihn an. »Wer ist es?«
»Das findet Ihr besser heraus, bevor die nächste Geheimbotschaft ihren Empfänger erreicht.«
Brenneberg seufzte und streckte den Arm aus. »Schenk ein, Tochter!«
Gwenfrewi erhob sich, um den Pokal ihres Vaters nachzufüllen. Dabei dachte sie über das Gehörte nach. Konnte diese Angelegenheit mit dem Verschwinden ihres Kontaktmannes zusammenhängen? Hatte man ihn beseitigt, weil er zu viel wusste oder war er womöglich mit den Verschwörern im Bund gewesen? Was sollte sie jetzt tun? Dass sie etwas unternehmen musste, stand außer Frage.
Wolfram von Milanes, sagte ihr eine innere Stimme. Er war der einzige Mann in ihrer Umgebung, der noch als Verbindungsmann zur königlichen Kanzlei infrage kam. Wolfram war ein entfernter Vetter ihrer Mutter, der sich als Dauergast in Brenneberg eingenistet hatte. Gerade an diesem Morgen hatte er ihr eine Nachricht zukommen lassen, in der er sie dringend um ein geheimes Treffen ersuchte. Das war einfach zu passend, um noch als Zufall durchzugehen.
Sollte sich ihre Vermutung als zutreffend erweisen, war ihr Problem jedoch schwerwiegender, als sie angenommen hatte. Sie konnte sich keineswegs innerhalb der Burgmauern mit ihm treffen. Hier gab es einfach zu viele Augen, die beinahe jeden ihrer Schritte beobachteten. Wie leicht konnte ein falscher Verdacht entstehen, der ihr die Ausführung ihrer Aufgabe unmöglich machte. Sie musste einen Ort finden, der zwar außerhalb der Burgmauern lag, aber leicht zu erreichen war.
Nachts alleine durch den Wald laufen? Schauderhafte Vorstellung.
Du weißt, was du zu tun hast. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Mutter! Muss ich wirklich?
Sicher. Die Zeit drängt. Es ist deine Aufgabe, die Verbindung aufrecht zu halten. Nachrichten müssen zuverlässig weitergegeben werden. Du willst doch sicher nicht dafür verantwortlich sein, wenn dem König etwas zustößt, weil er nicht gewarnt wurde?
Gwen hätte am liebsten geseufzt, aber sie unterdrückte den Impuls gerade noch rechtzeitig. Der Gedanke, sich in der Dunkelheit aus der Burg zu schleichen, um Wolfram von Milanes zu treffen, behagte ihr ganz und gar nicht - aber was blieb ihr übrig?
Vor Dir, Gott, allmächtiger Vater bekenne ich meine Schuld … Die Worte dröhnten in ihren Ohren, obwohl sie sie nur in Gedanken sprach. Seit beinahe drei Monaten hatte sie nicht mehr gebeichtet, hatte die Schuld der Verstocktheit zu ihren Sünden hinzugefügt und heute Nacht würde die Liste ihrer Verfehlungen noch weiter anwachsen. Gott, wie sollte sie das nur jemals beichten?
Gwenfrewi schreckte auf und stellte fest, dass der Bote schon eine ganze Weile sprach, ohne dass sie seine Worte wirklich wahrgenommen hatte.
»… Federico lässt die Verschwörer unerbittlich verfolgen. Gnadengesuche sind weder erwünscht, noch gestattet. Der Kaiser ist einmal zu oft herausgefordert worden. Gefangene Frauen werden verbrannt oder eingekerkert. Den Männern droht Folter und Verstümmelung – bevor man sie in Ledersäcke genäht im Meer ertränkt ...«
Sie sah zu dem Boten hinüber und studierte sein Gesicht. Ob ihn etwas von dem, was er da gerade erzählt hatte, berührte? Oder war er so kalt, dass Leiden und Schmerzen ihm nicht nahe gingen? Es gelang ihr nicht, diese Frage zu beantworten.
»Ich hoffe, Euch sind meine Geschichten nicht unangenehm«, sagte Rodéna.
Gwenfrewi schüttelte den Kopf. »Ich weiß gern, was vorgeht in der Welt.«
Rodéna sah sie an. Mit einem Blick, der eine Woge der Wärme durch ihren Körper sandte. »Nun, dann hoffe ich, dass ich Eure Wissbegierde stillen konnte.«
»Ja. Danke«, murmelte sie atemlos. Sie fühlte sich mit einem Mal schwindelig und krank und wusste nicht, welche Krankheit das war. Sie fühlte vage, dass die Heilung dieser Krankheit dort lächelnd neben ihrem Vater saß. Sie erhob sich eilig und bat um Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen. Sie müsse das Auftragen der Abendmahlzeit überwachen.
»Wie wollt Ihr vorgehen?«, fragte Rodéna, nachdem Gwenfrewi hinausgeeilt war.
»Das weiß ich noch nicht«, seufzte Brenneberg. »Seht Ihr, die Angelegenheit ist weitaus komplizierter, als Ihr wissen könnt.«
»Inwiefern?«
»In weniger als zwei Wochen siedelt meine Tochter in die Burg ihres zukünftigen Gemahls über. Der König selbst hat die Ehe arrangiert, deshalb kann sie nicht daherkommen wie eine Bettlerin. Sie braucht eine standesgemäße Eskorte zu ihrem Schutz. Obendrein gebietet die Höflichkeit, dass ich sie dem Bräutigam persönlich übergebe. Ich habe nicht genügend Männer, um an zwei Stellen gleichzeitig zu sein.«
»Dann seht zu, dass Ihr den Spion entlarvt, bevor er sich im Gefolge Eurer Tochter davonmacht«, sagte Rodéna.
Brennebergs Antwort bestand aus einem dünnen Lächeln. Aber er schluckte die Bemerkung hinunter, die ihm ganz offensichtlich auf der Zunge lag, und rief nach mehr Wein.
Knechte strömten herein und begannen mit den Vorbereitungen zum Mahl. Während die Tafel aufgebaut wurde, unterhielt sich Gareth mit Brenneberg, aber Gandar hörte nicht hin. Er war damit beschäftigt, Gwenfrewi anzusehen, die mit einem frischen Krug Wein in der Hand auf ihn zukam. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Das ist unmöglich, dachte er. Völlig unmöglich … ich sehe sie nur an und …
So hatte er sich noch nie gefühlt. So, als müsse sein Mund dauernd lächeln und gleichzeitig voll tiefer Trauer. Was geschah nur mit ihm?
Gwenfrewi war schön, sicher. Aber es war nicht die zarte, zerbrechliche Schönheit, die in den Romanzen der Spielleute gepriesen wurde. Sie besaß eher die blühende Gesundheit und die lebhaften Farben eines Mädchens, das sich viel im Freien und in der Sonne aufhielt. Er hoffte für sie, dass ihr zukünftiger Gemahl lebhafte Farben mochte.
Eine Glocke rief die Burgleute zu Tisch und der Saal füllte sich mit Menschen. Ihre Haltung suggerierte Gelassenheit, aber Gandar entgingen die verstohlenen Blicke nicht, die sie ihm und Gareth zuwarfen. Gandar lächelte wehmütig. Wenn er Pech hatte, wusste inzwischen die ganze Burg, wer oder was er war. Gareth sonnte sich in dem Ruhm, den sie ernteten, doch Gandar war die Aufmerksamkeit lästig.
Brenneberg sprach das Tischgebet. Wasserschüsseln und Tücher wurden gereicht, danach folgten die Speisen. Die Pagen traten in Reihen vor den Herrentisch, was dort nicht gewünscht wurde, winkte Brenneberg weiter. Es gab sauer zubereiteten Fisch und gefüllte Tauben, Eier auf Spießen, dazu scharfe Brühe und ein Mus aus dicken Bohnen mit Kräutern.
Die Mahlzeit verlief in angenehmer Stimmung. Gareth sorgte mit einigen Anekdoten vom königlichen Hof für Staunen und Heiterkeit am Herrentisch. Gandar dagegen beschränkte sich darauf, still zuzuhören und die Tochter des Hauses zu beobachten. Gwenfrewi gab sich den Anschein ausschließlich mit ihrem Essen beschäftigt zu sein, doch Gandar bemerkte, dass sie sich kein Wort von Gareths Bericht entgehen ließ. Unauffällig lenkte er das Gespräch auf Fragen der Reichspolitik, ein Thema, bei dem sich Frauen für gewöhnlich langweilten. Doch, statt zu erlahmen, schien sich Gwens Interesse zu steigern. Das war bemerkenswert.
Brenneberg trank bedächtig einen Schluck Wein und musterte Gandar. »Wir haben ein Gerücht gehört, mein Herr. Ist es wahr, dass Heinrich Raspe einen Hoftag in Franchenfurt abzuhalten gedenkt?«
»Die Vermutung liegt nahe«, antwortete Gandar. »Er wurde zwar auf Drängen des Papstes und mit Unterstützung der Erzbischöfe von Mainz und Köln zum Gegenkönig gewählt. Doch Konrad denkt nicht daran, seinen Thronanspruch aufzugeben.«
Brenneberg verengte die Augen. »Jesus … sie alle haben die Macht vor den Glauben gesetzt.«
Gandar zuckte ungerührt die Schultern. »Es ist kein Geheimnis, dass Raspe die Bereitschaft, sich zur Wahl aufstellen zu lassen mit einer Zuwendung der Kirche in beträchtlicher Höhe versüßt wurde.«
Brenneberg schnaubte. »Kaiser und Papst müssen dazu gebracht werden, ihre Herzen wieder zu öffnen und ihre Demut vor Gott anzuerkennen«, sagte er. »Der Kaiser muss ein Zeichen setzen, das den Heiligen Vater dazu zwingt, ihn als Bruder in die Arme zu schließen.«
»Wie stellt Ihr Euch das vor?«, fragte Gandar. »Federico ist schon mehrfach auf den Heiligen Stuhl zugegangen. Genützt hat es ihm nichts.«
Brenneberg zog eine Braue in die Höhe. »Was ist mit Raspes Wahl? Ist sie rechtens?«
Bedächtig wischte Gandar mit einem Brotstückchen Soße aus seiner Schüssel, während er über Brennebergs Frage nachdachte. »Einmal abgesehen von der schier erdrückenden Überzahl wahlberechtigter Kirchenfürsten, lässt sich die Sache theoretisch nicht anfechten. Heinrich ist jedoch offiziell noch nicht zum König gekrönt. Was, wenn es nach Konrad geht, auch niemals geschehen wird.«
»Und Raspe?«, wollte Brenneberg wissen. »Wisst Ihr etwas über seine Pläne?«
»Heinrich versucht, die Stadtväter von Franchenfurt für sich einzunehmen, indem er ihnen Privilegien und den Händlern gute Gewinne verspricht, wenn sie ihm ihre Tore öffnen. Wenn sie klug sind, lassen sie sich davon nicht blenden.«
Gandar winkte einen Diener mit einer Wasserschüssel heran, säuberte sich die Hände und trocknete sie mit dem dargereichten Tuch ab. »Es war ein langer Tag. Wenn Ihr erlaubt, würden wir uns gerne zurückzuziehen.«
»Oh«, machte Gwenfrewi. »Wie schade. Dann darf ich wohl nicht auf eine Schachpartie gegen Euch hoffen?«
Gandar betrachtete sie amüsiert. »Höre ich da ein gewisses Missfallen in Eurer Stimme, mein Fräulein?«
»Ich würde nie wagen, so etwas zu äußern, Herr Ritter.«
»Akzeptiert«, sagte er lächelnd.
»Akzeptiert was?«
»Euren Fehdehandschuh. Ich glaube, Ihr habt soeben einen Handschuh geworfen.«
Gandar griff nach seinem Weinbecher und machte eine einladende Geste Richtung Spieltisch. »Nun denn. Wollen wir?«
Sie folgte ihm und nahm ihm gegenüber Platz. Eine Weile beschäftigten sie sich schweigend mit ihren Spielfiguren. Gwen fand ein stilles Vergnügen darin, zu beobachten, wie ihr Gast mit gerunzelter Stirn über den Figuren brütete. Bedächtig nippte sie an ihrem Wein und verbarg ihr Lächeln hinter dem Becher. Wie kam es nur, dass sie es mit einem Mal kaum erwarten konnte, sich mit ihm zu messen?
»Bitte, mein Herr, macht Euren Spielzug«, forderte sie ihn auf.
Er streckte die Hand aus, ließ sie mehrere Herzschläge über dem Spielfeld schweben, als könne er sich nicht für ein bestimmtes Vorgehen entscheiden. Als er schließlich eine Figur bewegte, entrang sich ein enttäuschter Seufzer ihrer Kehle. Sein Spielzug war ungeschickt und ermöglichte ihr, seinen Bischof zu schlagen.
»Wie schade«, sagte sie. »Einen Moment lang hoffte ich, Ihr würdet es mir nicht so leicht machen.«
»Al’atrash fi alzifa«, murmelte er.
»Mein Herr, ich verstehe nicht …«
»Das macht nichts. Es war nicht wichtig …« Mit seinem nächsten Spielzug schlug er ihren Ritter aus dem Feld.
»Ach! Ihr!«, jammerte sie. »Ihr habt eine unfeine Art abzulenken.«
»Das lag nicht in meiner Absicht.«
»Nun, dann sagt mir doch wenigstens – was für eine Sprache ist das, die Ihr da benutzt habt? Dergleichen kennt man hier nicht.«
»Es war Arabisch.«
»Es klang wie – ein Lied«, murmelte Gwen. »Nach Sonne und Wärme. Spricht man es dort, wo Ihr herkommt?«
»In Rodéna? Ja. Unter anderem.«
»Ist es schön da?«
Er hob den Kopf und sah sie an. »Stellt Ihr Euren Gegnern immer so viele Fragen?«, erkundigte er sich mit leiser Belustigung in der Stimme.
»Vergebt mir.« Gwen nahm ihre geschlagene Figur vom Feld und drehte sie in den Händen. »Aber ich wüsste wirklich gerne, wo Ihr herkommt.«
Diesmal schien sein Lächeln eine neue Qualität zu erhalten, es war ein Lächeln, in dem so viele unausgesprochene Dingen mitschwangen, die in ihrem Kopf herumflatterten wie Schmetterlinge. Fasziniert beobachtete sie, wie seine schlanken Finger langsam und sinnlich über das Holz seiner Königin strichen. Wie sich diese Finger wohl auf ihrem Körper anfühlen mochten?
Seine Mundwinkel verzogen sich spöttisch, so als wisse er, an was sie gerade gedacht hatte und sie fühlte verräterische Hitze in ihre Wangen steigen. Diese Gefühle, die sich in Bezug auf Gandar von Rodéna so schnell eingestellt hatten, irritierten sie. Sie fühlte sich sicher im Umgang mit ihm - und gleichzeitig auf völlig fremden Terrain. Hastig beugte sie sich über das Spielfeld und konzentrierte sich auf ihren nächsten Zug.
Scharf und gezielt griff sie seine Figuren an. Er wich der Bedrohung aus, konnte jedoch nicht verhindern, dass sie ihm eine weitere Spielfigur abjagte. Sie fand es schwer, ihr Lächeln nicht in ein siegessicheres Grinsen umschlagen zu lassen. Gleich habe ich dich, formulierte sie in Gedanken und war überrascht, welche Genugtuung diese Überzeugung in ihr wachrief. »Vielleicht solltet Ihr besser aufgeben, mein Herr«, schlug sie ihm vor.
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil es klüger wäre - und weniger beschämend als eine vollständige Niederlage - ich möchte Euch nur ungern eine solche Schmach zufügen …«
»Verkauft das Huhn nicht, bevor Ihr es geschlachtet habt«, gab er in gespielter Empörung zurück.
Gwenfrewi lachte - ein glucksender, glockenheller Laut, der die seltsamsten Dinge mit Gandars Körper anstellte. Ein nie gekanntes Verlangen überkam ihn – es verbrannte seine Selbstbeherrschung zu Asche, ließ in seinem Kopf nur Raum für einen einzigen Gedanken. Er wollte sie berühren - ihre Wangen, den Hals, ihre Schultern, den Ansatz ihrer Brüste … Langsam neigte er sich ihr entgegen, hob die Hand, um eine ihrer Kupferlocken …
Es war Gareth, der ihn rettete, indem er ihm übertrieben fröhlich auf die Schulter klopfte und eine Bemerkung zum Spielstand machte.
Himmel, dachte Gandar benommen, wollte ich sie tatsächlich gerade – berühren? Hier mitten in der Halle, mit den Burgleuten als Zuschauer? Was zur Hölle ist denn nur in mich gefahren?
Mehrere Herzschläge lang starrte er ausdruckslos vor sich hin, senkte dann den Blick und schluckte schwer.
»Ist Euch nicht wohl, mein Herr?«, fragte Gwenfrewi besorgt.
Gandar schüttelte langsam den Kopf. »Mir geht es gut. Bitte fahrt fort. Ihr seid am Zug.«
Energisch griff sie nach ihrem Turm und bewegte ihn vorwärts.
»Mein Fräulein, Ihr seid wirklich eine unerbittliche Gegnerin«, sagte er, als sie ihm einen weiteren Bauern wegnahm.
»Nun, ich fürchte, Eure Niederlage lässt sich nicht mehr aufhalten, mein Herr.« Ein triumphierendes Lächeln lauerte in ihren Mundwinkeln, unschlüssig, ob es sich tatsächlich zeigen sollte. Ungeduldig wartete sie, bis er seinen Spielzug abgeschlossen hatte. Hob die Hand, um nach ihrem Läufer zu greifen. Und verharrte mitten in der Bewegung über dem Spielfeld.
»Matt«, sagte Gandar. Ganz sachlich.
Sie starrte verwirrt auf das Spielfeld. »Ich sehe, was Ihr meint«, sagte sie düster. »Demnach habt Ihr mich die ganze Zeit zum Narren gehalten, richtig? Das war sehr unfein von Euch.«
»Ich bitte um Vergebung.« Er griff nach ihrer Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Die Berührung ließ seine Finger prickeln und er hatte das Gefühl, dass sie verbrannt wurden. »Es war nicht leicht, Euch zu schlagen. Ich bedaure, wenn ich Euch damit Kummer bereitet habe.«
Sie kaute nachdenklich auf ihrer Lippe. »Es war eine von langer Hand gestellte Falle, nicht wahr? Ihr habt in Kauf genommen, wie ein Narr dazustehen, um mich in Sicherheit zu wiegen.«
Gandar verbeugte sich vor ihr. »Ich bekenne mich in allen Punkten schuldig.«
Brenneberg näherte sich, um den Ausgang der Schachpartie zu erfahren. »Habt Ihr tatsächlich verloren, Tochter! Na, das ist aber einmal ein seltenes Ereignis. Denkt nicht, dass ich darüber allzu traurig bin!«
»Nein, Herr Vater«.
»Nun schmollt nicht, Kind. Begebt Euch lieber zu Bett. Es ist spät.«
»Ja«, sagte Gandar und wechselte einen Blick mit Gareth. »Wir würden uns jetzt ebenfalls gerne zurückziehen.«
Brenneberg nahm einen Kerzenhalter vom Tisch. »Ich zeige Euch Euren Schlafplatz, meine Herren.«
»Empfangt meine Wünsche für eine gute Nacht, mein Fräulein«, sagte Gandar.
Gwenfrewi antwortete nicht. Aber er konnte ihren Blick in seinem Rücken spüren, bis die Tür hinter ihm zugefallen war.
Gwenfrewis Zofe Berta erschien mit einem Licht und führte sie in ihre Schlafkammer.
»Ihr seid blass, Kind«, sagte Berta, während sie ihrer Herrin aus dem schweren Gewand half. »Was fehlt Euch?«
»Nichts, Berta. Ich bin nur müde. Hast du die Bauernkleidung beschafft, um dich ich dich gebeten hatte?«
»Ja, Herrin. Wenn auch nicht gern. Es ist heute besonders gefährlich da draußen …«
»Berta, bitte! Du sprichst in Rätseln. Was ist ausgerechnet heute anders als sonst?«
»Es ist Sommersonnenwende«, sagte Berta. »Heute Nacht besäuft man sich und schlägt über die Stränge. Da könnt Ihr von Glück sagen, wenn Ihr nicht augenblicklich mit nacktem Hintern auf dem Boden zappelt - aber was rede ich, Ihr verbittet Euch ja jede Begleitung …«
»Ich nehme meinen Dolch mit.«
»Ein Messer gegen Bauernfäuste? Kind, wo habt Ihr nur Euren Kopf!«
»Sicher wird Herr Wolfram nicht zulassen, dass mir etwas zustößt.«
»Herrin, bitte geht nicht.«
»Ich muss aber«, murmelte Gwenfrewi. »Ich muss einfach. Es war der letzte Wunsch meiner Frau Mutter. Ich habe ihr versprochen, ihre Arbeit weiterzuführen.«
»Geht ein andermal. Bitte.«
»Schluss jetzt, Berta. Weck mich rechtzeitig vor Sonnenaufgang. Und dass du es mir ja nicht – ganz aus Versehen natürlich – vergisst.«