Argwöhnisch beäugte der junge Ritter seinen Gegner und ließ das Schwert kreisen, um sich Raum zu verschaffen. Als er angreifen wollte, sauste das erste Wurfmesser, ein zweites, ein drittes. Federnd fuhren sie in den hölzernen Schild, ein viertes prallte mit Funken am Beinpanzer ab, ein neues auf den Helm, und so schnell wirbelten die Messer aus den Händen des Herrn Richard von Glouburg, so geschickt schleuderte er die Dolche, dass der Ritter, hinter den Schild geduckt, sie nicht alle vermeiden konnte; die nächsten saßen ihm in den Maschen der Beinlinge. Unbeholfen unterlief er die nächsten Würfe, während die Zuschauer tobten. Aber anstatt nun seine Chance zu nutzen und seinerseits den Gegner anzugreifen, warf er Schild und Schwert von sich und gab auf.
Der Burggraf, Richard von Glouburg, tauchte aus seinem Topfhelm auf und sein Leibknappe stürzte herbei, um ihm aus dem Kettenhemd zu helfen. Das gepolsterte Unterzeug folgte und Richard schüttelte grinsend sein schulterlanges, schwarzes Haar aus. Einer seiner Ritter trat näher und reichte ihm einen Becher mit verdünntem Wein, den der durstig hinunterstürzte.
»Ich hoffe, nach dieser Lektion hat der junge Ortwin begriffen, dass seine gelegentlichen Anfälle von Mut nicht ausreichen, um in einem Zweikampf zu bestehen«, bemerkte Richard. »Was denkt Ihr, Vetter Johannes?«
»Ich meine, dass Ihr ihn absichtlich vorgeführt habt«, schnappte der Waffenmeister, Johannes von Eichziel. »War das nötig?«
Richards Grinsen erlosch. »Himmel, was haben wir nur wieder für eine Laune heute«, mokierte er sich.
»Eine Laune, die sich deutlich bessern könnte, Vetter, wenn Ihr aufhören würdet, Eure Zöglinge wie Dreck zu behandeln«, konterte Johannes. »Ein wenig Lob, hier und da bringt Euch nicht um.«
»Aha«, machte Richard. »Da liegt also der Hase im Pfeffer. Ihr denkt, ich lobe zu wenig? So, so.«
»Also wirklich, Richard, Ihr wisst selbst, dass es so ist!«
»Der junge Ortwin verdient also ein Lob, meint Ihr, für seine – drücken wir es einmal milde aus - armseligen Angriffsversuche und schlampige Verteidigung?«
»Er hat gute Fortschritte gemacht.«
»Gute Fortschritte!«,spöttelte Richard. »Denkt doch nur einmal daran, wie es in der Schlacht ist, mein Lieber. Da fliegt so ein Arm ab, und man geht betteln vor der Kirchentür, und so ein Bein, das schmeißt man den Krähen hin und verpicht den Stumpf, und dankt unserem Schöpfer, wenn der Stumpf heilt.« Er griff nach einem Tuch und begann sich den Schweiß vom Körper zu waschen. »Wenn der Bursche überleben will, hat er noch verdammt viel zu lernen.«
»Es lernt sich leichter, wenn man nicht vor aller Augen gedemütigt wird«, brummte Johannes missfällig, während Richard in Bruche und Hemd schlüpfte. Der Leibknappe reichte ihm Beinlinge und Stiefel.
»Vetter«, sagte Richard, »denkt nicht, ich hätte Eure feinen Anspielungen nicht verstanden. Nur zu – Ihr dürft gerne beim König um Erlaubnis einkommen, unsere Feinde in Zukunft mit Federkielen zu bekämpfen ...«
»Herr Graf, jetzt beleidigt Ihr mich absichtlich. Ihr wisst genau, wie meine Äußerungen gemeint waren. Es wäre mehr als dumm, unsere jungen Leute nicht angemessen auszubilden …«
Richard schlang sich den Gürtel um den Leib und strich sein dunkelblaues Obergewand glatt. »Gut, dass Ihr das immerhin einseht … aber genug davon. Seid Ihr eilig, nach Hause zu kommen? Nicht? Dann schlage ich vor, besauft Euch heute Abend mit mir, denn vielleicht sind wir morgen schon nicht mehr Herren unseres Schicksals.«
Mit lauter Stimme befahl Richard mehr Fackeln, um den Übungshof der Glouburg zu erleuchten. Die Knappen stürzten herbei und räumten die Strohschranken fort, zwischen denen die Waffenübungen für gewöhnlich abgehalten wurden. Auf den kräftigen Schultern der Knechte schwankten Bänke heran. Mägde in Holzpantoffeln klapperten mit Bechern, Broten, Salzfässern und Weinkrügen beladen zwischen Küche und Hof hin und her. Der Koch und sein Gehilfe schleppten ein Spanferkel heran und hängten es über ein Feuer aus knisterndem Buchenholz.
»Spielmann«, röhrte Richard, »mach Er Musik! Bauernmusik! Ich will tanzen!«
Von allen Seiten strömte Volk herbei, bald drehte und wiegte sich alles, wirbelte und stampfte nach erfundenen Figuren.
Neue Lichter wurden entzündet. Vom Klatschen der Zuschauer voran gepeitscht, erfanden die Musikanten immer schnellere Rhythmen, trieben die Tanzenden zu immer wilderen Wirbeln. Mittendrin strauchelte ein Paar; bald rollten, kugelten und balgten sich die Tänzer quer übereinander. Die Männer waren nicht zimperlich und griffen gierig in fremde Mieder. Wurden zudringlicher, je wilder die Damen um sich stießen und bissen. Der Gong zum Essen rettete die Frauen.
Ausgelassen kehrte die Gesellschaft zu den Tafeln zurück. Knusprige Stücke Ferkelbraten wurden aufgetragen, verzehrt und mit Unmengen von Bier und Wein hinuntergespült.
Nach dem Mahl besetzten die Frauen die Spieltische. Die Männer stritten über ihrem Wein darüber, wer von den Königen, den vergangenen wie den gegenwärtigen, wohl der größte sei. Der Übungshof brodelte.
Während des Rittes zur Glouburg dachte Gandar häufig über sein Zusammentreffen mit Gwenfrewi nach. Er hatte etwas falsch gemacht, etwas übersehen, etwas vergessen, etwas falsch gedeutet - irgendetwas, von dem er nicht wusste, was es war, das ihn aber quälte wie ein nicht näher lokalisierbarer Schmerz. Er hätte gerne mit Ahmad darüber gesprochen, doch da er seinen Freunden bisher nichts von seinem Erlebnis erzählt hatte, konnte er jetzt schlecht damit anfangen. Ohnehin ging es ihn nichts an, ob Gwenfrewi von Brenneberg ihren zukünftigen Ehemann hinsichtlich ihrer Jungfernschaft betrog. Oder war alles nur Tarnung, während sie für den Erzbischof von Mainz spionierte? Wenn er sich doch nur sicher gewesen wäre, was er da eigentlich beobachtet hatte!
Ärgerlich schüttelte er den Gedanken ab. Vielleicht war alles Einbildung. Vielleicht übertrug er nur seinen Unmut auf Gwenfrewi. Vielleicht war es auch nur seine Verbitterung über die Misserfolge der vergangenen Monate. Es spielte keine Rolle. Wenn der König ihn hierherschickte, um seinen Bruder zu hüten, dann hatte er längst kein Interesse mehr, den Name des Verräters herauszufinden.
»Ist das da vorne der Glouberg?«, fragte Gareth neben ihm. »Sagtest du nicht, Kaiser Federico habe den Bau einer Reichsstadt befohlen? Hier gibt es ja nichts außer ein paar Höfen.«
»Burg und Stadt liegen auf dem Plateau«, erklärte Gandar. »Du wirst sehen warum, wenn wir erst oben sind.«
Gandar wählte einen Hirtenpfad, der dem Verlauf der mächtigen Annexwälle entlang der Bergflanke folgte, bis er in einem scharfen Winkel auf den Zufahrtsweg zur Burg traf. Weder auf den Feldern noch auf den Wiesen entlang des Pfades zeigte sich eine Menschenseele, obwohl die Abenddämmerung noch einige Stunden entfernt war. Ein Gutteil der Wiesen war gemäht, das Gras jedoch noch nicht vollständig aufgeheut. Das kürzlich niedergegangene Unwetter schien hier um einiges heftiger ausgefallen zu sein, als in der Gegend, durch die sie zuvor gezogen waren. Das Wasser hatte tiefe Rinnen in den Hang gegraben und den Schlamm in Bahnen auf den Weg gespült. Ein Umstand, der den Pferden das Vorankommen so sehr erschwerte, dass die Männer schließlich absaßen und ihre Tiere am Zügel führten. Gandar hatte auf eine Präsentation seines Wappens verzichtet, um zu prüfen, wie aufmerksam Richards Wachmannschaft ihrer Aufgabe nachkamen. Doch der erwartete Anruf blieb aus.
Die Tore der Vorburg standen einladend offen und die Männer passierten sie, ohne behelligt zu werden. Gandars Herz übersprang einen Schlag und begann dann ganz weit oben in seinem Hals zu pochen. Immerhin waren die Flügel des Haupttores geschlossen, was in Gandars Augen jedoch eine nutzlose Maßnahme war, da niemand sich die Mühe gemacht hatte, die Mannpforte ebenfalls zu verriegeln. Er übergab Ahmad die Zügel seines Pferdes, schloss die Pforte und legte mit Gareths Hilfe den Querbalken vor.
Und dann hörte er den Lärm. Er kam aus der Wachstube der Soldaten. Die Männer saßen über ein Würfelspiel gebeugt und kommentierten die Würfe der Spieler mit Gelächter und trunkenem Grölen. Er roch den sauren Wein, der mit dem Atem der Kerle zu ihm kam. Er stand in der Tür und besah sich das Treiben. Mehrere Herzschläge lang. Niemand bemerkte ihn.
Gandar schickte seine Freunde zu den Pferdeställen und betrat den Außenhof. Molkerei, Schmiede, die Werkstätten der Handwerker lagen dunkel und still. Alles wirkte wie verlassen. Er passierte den Durchgang zum Innenhof, der immerhin von der üblichen Anzahl Fackeln erhellt wurde und sah sich um.
Nichts erinnerte mehr an den unwirtlichen Wohnturm und die hölzernen Nebengebäude der früheren Glouburg. Alle Gebäude waren jetzt aus Stein, die Wehranlagen ausgebaut, verstärkt und mit den neuesten Waffen gespickt, wie Gandar zufrieden erkannte. Wälle und Stachelgräben schützten die Hänge, die Burganlage selbst war umgeben von einer Ringmauer, die jetzt bis zu sechsfacher Mannshöhe aufragte. Doch kein einziger Wachsoldat zeigte sich.
Gandar schüttelte den Kopf. Was ging hier vor? Wo steckte Richard?
Hat mich der König hierher geschickt, überlegte er, weil ihm zu Ohren gekommen war, welche Sorglosigkeit sich hier breitgemacht hatte?
Von irgendwoher erklang Gesang. Gandar lauschte. Hörte, wie der Gesang zu trunkenem Johlen anschwoll, zu Gelächter wurde, wieder verstummte. Er wandte sich nach rechts, betrat durch eine Pforte den Nordzwinger, kletterte die Treppe zum Wehrgang hinauf, lief darauf entlang bis zum Ursprung des Lärms und spähte über die Brüstung. Eine ausgelassene Gesellschaft bevölkerte den Übungshof. Neben dem Feuer lagen die Reste eines Spanferkels, flankiert von einem offenen Bierfass, aus dem eifrig geschöpft wurde.
Der Hof brodelte. Mehrere Spielleute hatten sich zusammengetan und ließen ihre Finger nur so über die Saiten von Laute und Rebec tanzen, angefeuert vom rhythmischen Stampfen der Zuschauer.
Inmitten seiner Burgleute saß Richard auf einer Bank und leerte zügig Becher um Becher, als gälte es einen Preis für den schnellsten Trinker zu gewinnen. Einer der Sänger begann ein zotiges Lied vorzutragen und die Zuhörer johlten vor trunkener Begeisterung. Richard schlug sich lachend auf die Schenkel und fiel rücklings von der Bank. Jubelgeschrei und Spott brandeten auf. Hustend und spuckend rappelte der Burgherr sich auf, ein schneller Ruck an der Bank - und Burgvogt und Waffenmeister fanden sich auf dem Boden wieder. Mit einem Kriegsschrei rollte sich Richard über sie. Voller Begeisterung stürzten sich weitere Männer in den Kampf. Die Rauferei wurde schnell hitzig und immer mehr unbeteiligte Zuschauer sahen sich in das Getümmel verwickelt. Der Platz versank in einem Wirbel aus Staub und Kleie. Bald war nicht mehr zu erkennen, wer gerade obenauf war. Die Frauen griffen beherzt in das Geschehen ein und kühlten mit einigen Kübeln eisigem Brunnenwassers die Gemüter.
Als Richard aufstehen wollte, rutschten seine Füße unter ihm weg und er landete erneut in der Kleie. Er brauchte ein paar Herzschläge, und es bedurfte einiger hilfreicher Hände, um ihn wieder aufzurichten. Richard wurde mit Spottreden überschüttet, aber Gandar nahm nicht mehr wahr, was die Männer sagten. Er hörte nur noch das schnelle, harte Pochen in seinen Ohren.
Aus Richards Gewändern und Haaren tropfte Wasser und Gandar sah, wie er sich Richtung Innenhof entfernte. Er rannte zur Treppe zurück, übersprang die Stufen mit zwei, drei Sätzen und war im Innenhof, bevor Richard die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte.
Dann standen sie sich gegenüber: Bruder gegen Bruder, Trunkenheit gegen Zorn. Helle Lichtfunken tanzten vor Gandars Augen. Die Angst in ihm wurde starr. Wurde zu Eis. Und dann erwachte die Wut. Nicht plötzlich, ohne Übergang. Wut zog stets nur langsam ein in seinen Kopf. Wurde zur Befreiung. Er freute sich auf diese Wut, nahm sie nicht einfach hin, er sog sie ein, ergab sich ihr mit allen seinen Sinnen und schickte sie in seine Arme, Beine, Hände.
Gandar griff sich seinen Bruder und schmetterte ihn gegen den hölzernen Treppenaufgang zum Palas. Mit einem Stöhnen ging Richard zu Boden. Gandar beugte sich nieder, packte ihn am Gewand und zerrte ihn auf die Füße.
»Jesus«, japste Richard. »Seid Ihr das, Gandar? Warum schlagt Ihr mich?«
»Das müsst Ihr tatsächlich fragen?«
Zum zweiten Mal krachte Richard gegen die Treppe. Diesmal ging er nicht gleich zu Boden, erst ein wuchtiger Fausthieb Gandars holte ihn von den Füßen. Er spuckte Dreck, kam schwerfällig hoch, stützte sich auf Hände und Knie, rappelte sich auf. Gandar hob die Faust.
»Aufhören, verdammt noch mal«, jammerte Richard. »Ihr könnt mich doch nicht hier mitten auf dem Hof verprügeln. Was sollen meine Männer von mir denken ...«
»Da macht Euch keine Sorgen, Bruder. Uns bemerkt schon niemand. Eure wackeren Burgleute sind vollauf mit Saufen beschäftigt.«
Richard lehnte sich an die Treppe und betastete vorsichtig sein schmerzendes Kinn.
»Wie zur Hölle seid Ihr hereingekommen? Warum hat man Euch nicht gemeldet?«
»Denkt nach«, knurrte Gandar. »Dann kommt Ihr schon drauf.«
»Schon gut, schon gut. Ich habs verstanden«, erwiderte Richard missfällig. »Bleibt noch die Frage zu klären, warum Ihr hier seid. Warum müsst Ihr Euch ständig in meine Angelegenheiten einmischen?«
Gandar sah Richard an. »Das ist eine Frage, über die ich mir selbst schon Gedanken gemacht habe«, erwiderte er. »Aber je länger ich mich damit befasse, umso komplizierter scheint es mir, darauf eine Antwort zu finden. Halte ich mich für einen Übermenschen, ein Ebenbild Gottes, der alles sieht und weiß? Und wenn ich das glaube, resultiert daraus tatsächlich das uneingeschränkte Recht über Euer Leben und Eure Handlungen zu bestimmen? Oder bin ich nur ein schwacher Mensch, der nichts so sehr fürchtet, wie ein weiteres Mitglied seiner Familie zu verlieren? Ihr runzelt die Stirn, lieber Bruder? Ach ja, ich vergaß - davon soll ich ja nicht mehr sprechen. Eure verdammte Gleichgültigkeit könnte schließlich erschüttert werden, nicht wahr? Wehe mir, wenn ich gar anfangen würde zu beschreiben, wie sich das anfühlt, wenn einem ein Teil seines Herzens aus der Brust gerissen wird. Wenn nach dem Schmerz die schreckliche Stille einsetzt. Eine Stille, die Zeit und Raum auslöscht. Die nie mehr endet und ...«
»Verdammt, Gandar, es reicht«, blaffte Richard.
»Es reicht leider nie«, schoss Gandar zurück, »um Euch begreiflich zu machen, was es für mich bedeutet einen lebenden Bruder zu haben. Verdammt noch mal, Richard Ihr könnt nicht verlangen, dass ich tatenlos zusehe, wie Ihr den Untergang der Glouburg herbeiführt ...«
»Untergang? Wirklich beeindruckend, was Ihr Euch da so zusammenreimt Gandar. Ich sehe keinen Grund zu übermäßiger Besorgnis.«
Nein, dachte Gandar, du nicht, mein Bruder. Aber du siehst auch nicht, was sich vor deiner Haustür zusammenbraut. Gebe Gott, dass gewisse Leute nie von Deiner Existenz erfahren ...
»Ah«, machte Richard. »Dem Ausdruck Eures Gesichtes nach zu schließen wünscht Ihr mich gerade in den tiefsten Schlund der Hölle, habe ich recht?«
Gandar schwieg.
»Seht Ihr«, murrte Richard. »Schon verschließt Ihr Euch wieder wie eine Auster. Ihr habt keinen Funken Humor und Spaß ist für Euch ein Fremdwort.«
»Darauf könnt Ihr Gift nehmen«, murmelte Gandar. Mit der linken Hand zog er eine Fackel aus einem der eisernen Halter. Mit der Rechten packte er Richard hinten am Gewand und schob ihn auf die Treppe zu. »Vorwärts! Ihr braucht etwas Trockenes zum Anziehen.«
Mit Gandars nicht eben sanfter Unterstützung stolperte Richard die Stufen hinauf und den langen Gang entlang bis zum Gemach des Burgherrn. Gandar öffnete die Tür, schob seinen Bruder in den Raum und beförderte ihn mit einem Stoß rücklings auf das Bett. Er hob die Fackel, leuchtete im Raum umher und fand zwei Kerzen, die er entzündete. Anschließend steckte er die Fackel in einen der eisernen Wandhalter, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte seinen Bruder ohne ein Wort. Aus Erfahrung wusste er, dass es die einfachste Methode war, Richard aus der Fassung zu bringen. Und wenn er seinen Gesichtsausdruck richtig deutete, dann zerbrach sein Zwilling sich gerade den Kopf, was er sagen, wie er dieses Schweigen überwinden sollte. »Hol mich der Teufel, wenn ich Euch verstehe«, brummte Richard schließlich. »Ihr fallt über mich her, als sei das jüngste Gericht angebrochen. Warum, wenn ich fragen darf?«
»Es wäre Zeitverschwendung mit Euch darüber zu argumentieren«, gab Gandar zurück. »Ihr seid einfach zu stur, um in Eurem Leben noch etwas dazuzulernen. Schade. Vielleicht sogar tragisch.«
Richard starrte ihn verständnislos an. »Wenn Ihr Euch bloß einmal so ausdrücken würdet, dass ich Euch verstehen könnte, bloß einmal!«, jammerte er.
»Ihr habt mich schon verstanden«, erwiderte Gandar. »Schätzt Euch glücklich, dass ich nach einem Ritt, wie ich ihn hinter mir habe, nicht in der Stimmung bin für dumme Streiche. Sonst säßet Ihr nämlich jetzt draußen. Vor verschlossenen Toren. In Lumpen. Es würde mir einen Heidenspaß machen, zu beobachten, wie Ihr Eurer eigenen Torwache zu beweisen versucht, dass Ihr Richard von Glouburg seid.«
»Das wäre leicht.«
»Nicht wenn Eure Männer überzeugt wären, den richtigen Richard schon in der Burg zu haben.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Richard misstrauisch.
»Ich wette«, schoss Gandar zurück, »dass ich Eure Stelle einnehmen könnte, ohne dass einer Eurer Männer Verdacht schöpft.«
Richard sprang auf. Seine Fingerknöchel, die den Bettpfosten umklammerten, waren weiß, und weiß war auch sein Gesicht um den Mund. »Das würdet Ihr nicht wagen.«
»Wer sollte mich hindern? Ihr hättet es verdient, Eure Burg zu verlieren, so nachlässig, wie Ihr Euren Aufgaben nachkommt.«
Richard stieß einen knurrenden Laut aus und warf sich mit dem Rücken gegen den Bettpfosten, fesselte sich und seine Hände, indem er das Holz hinter sich umklammerte. »Das wird nicht geschehen. König Konrad vertraut mir.«
Zum ersten Mal lachte Gandar. »Seltsam«, bemerkte er spöttisch. »Was mag Herr Konrad sich nur dabei gedacht haben, als er mich hierherschickte, um bei Euch nach dem Rechten zu sehen?«
Richard fletschte die Zähne, in einer Grimasse, die vermutlich ein abfälliges Grinsen darstellen sollte. »Ich, mein lieber Herr Bruder, bin Herr der Mark Glouburg«, sagte er fast zärtlich. »Ihr dagegen seid ein armseliger Hungerleider. Seht Euch doch nur an! Ihr habt keine eigene Truppe, Ihr habt keine Verbündeten, Eure Gewänder sind öfter geflickt, als man zählen kann. Glaubt Ihr, meine Männer ließen sich von einem wie Euch etwas befehlen?«
Gandar stand da und sah seinen Bruder an. »Der Augenschein kann täuschen«, sagte er.
Sein gelassener Tonfall schien Richard erneut aufzubringen. »Kümmert Euch gefälligst um Euren eigenen Mist, Bruder«, knurrte er, packte den Saum seiner Tunika, zerrte sich das nasse Gewand über den Kopf und klatschte es Gandar vor die Brust. »Ich bin es leid, ständig Euren Atem in meinem Nacken zu spüren.«
»In dem Fall ist es wohl besser, Ihr rückt freiwillig mit dem Grund für Euer Besäufnis heraus. Und erzählt mir nicht, es gäbe keinen. Ich weiß, dass Ihr für gewöhnlich den Wein meidet, weil Euer Magen ihn nur schlecht verträgt. Also? Was geht hier vor?«
Richard hob angriffslustig das Kinn. In seinem Gesicht zuckten die Wangenmuskeln. »Hab ich Euch nicht gesagt, Ihr sollt Eure Nase aus meinen Angelegenheiten halten?«
»Wenn Ihr etwas vor mir verbergen wollt, Bruder, dann dürft Ihr Eure Augen nicht reden lassen.«
Richard sah hastig zu Boden. Seine Wangenmuskeln kamen zur Ruhe.
Gandar stand gespannt wie ein Jagdhund neben der Tür und behielt seinen Bruder im Blick. Um seine Lippen lag ein grimmiges Lächeln.
Richard gab einen Laut von sich, der einem Seufzer sehr nahe kam. »Geht hinüber zum Betpult«, sagte er. »Da muss ein Brief liegen. Lest ihn.«
Gandar fand einen Brief mit dem königlichen Siegel. Er nahm sich eine Kerze, stellte sie auf die Truhe und setzte sich daneben. Den Brief schräg haltend, damit das Licht besser auf die Worte fiel, überlas er die übliche Einleitungsformel und begann gleich mit der eigentlichen Nachricht.
Mit einigem Missvergnügen haben Wir festgestellt, dass Du noch immer keine Vorbereitungen triffst, Dich zu verheiraten, obwohl Wir Dir gegenüber schon mehrmals den Wunsch geäußert haben.
Wie Wir uns erinnern, gaben Wir Dir vom letzten Hoftag an eine Frist von vier Monaten eine Dame Deiner Wahl zu finden. Diese Zeit erschien Uns mehr als reichlich bemessen und Wir sind deshalb sehr ungehalten, Dich nach Ablauf der Frist noch immer ohne Weib vorzufinden. Dies können Wir nicht länger dulden, deshalb haben Wir Brautwerber ausgesandt, mit dem Befehl, eine Grafentochter von makelloser Herkunft für Dich zu erwählen. Deine Braut wird am Sonntag vor Jakobus bei Dir eintreffen und Wir wünschen eine sofortige Vermählung.
Sobald Du verheiratet bist, werden Wir Dir ein Horoskop senden, in dem die besten Tage und Stunden für den Vollzug der Ehe bezeichnet sind und um die Empfängnis eines männlichen Erben zu gewährleisten.
Unseren Gruß und Unseren Segen
Konradus, in Romanorum regem electo, im Jahre des Herrn 1246
Gandar rollte das Pergament zusammen, legte es auf das Betpult zurück und sagte erst einmal nichts.
»Eine Ehefrau«, schnaubte Richard. »Was zur Hölle soll ich denn mit einer Ehefrau anfangen?«
»Das Übliche, nehme ich an.«
»Ihr habt gut reden. Ihr seht Euch ja nicht mit der Aufgabe konfrontiert, eine unbekannte Grafentochter heiraten zu müssen, von der Ihr weder den Namen kennt, noch wisst, wie sie aussieht.«
Aber ich weiß es, dachte Gandar. Oh Gott!
Er senkte den Kopf und starrte zu Boden. Aber das half nicht. Alles passte zu gut zusammen. Richards Braut hieß Gwenfrewi von Brenneberg.
Er konnte ihr Gesicht vor sich sehen: Die großen, bernsteinfarbenen, goldgesprenkelten Augen, die ihn verwundert angestarrt hatten, die Flügel der ein wenig zu langen, fein geschwungenen Nase, und der breite, warme, wunderbare Mund, dessen Geschmack ihm noch auf der Zunge lag und … Oh Gott!
»Mit Verlaub, Bruder, ein wenig Mitgefühl hätte ich schon von Euch erwartet.«
»Ihr hattet Zeit genug, selbst eine passende Gemahlin zu finden«, bemerkte Gandar.
»Die Wahrheit ist, dass es keine Frau gibt, die mich lange genug fesselt, dass ich sie danach auch noch heiraten will.«
Gandar zuckte die Achseln. »Da kann ich Euch nicht helfen.«
»Oh, ich wüsste schon etwas, was Ihr für mich tun könntet«, sagte Richard. »Schließlich betont Ihr doch immer, wie sehr Euch mein Wohlergehen am Herzen liegt.«
Gandar sah seinen Bruder an. »Erpressung, Richard?«
»Also wirklich, Gandar«, erwiderte Richard. »Meine Absicht war, Euch um einen Gefallen zu bitten. Aber wenn das zu viel verlangt sein sollte ...«
»Was wollt Ihr?«
»Ich möchte, dass Ihr meine Braut kompromittiert. Reitet Ihr entgegen und schafft eine Situation, die verfänglich genug ist, um die Hochzeit mit ihr unmöglich zu machen.«
»Nein«, sagte Gandar schneidend. »Kommt nicht infrage.«
Richard fuhr zu ihm herum. »Na wunderbar! Da bitte ich Euch einmal im Leben um einen Gefallen und Ihr lasst mich im Stich.«
Gandar biss die Zähne zusammen und schwieg.
»Also wirklich, mein teurer Bruder. Manchmal kommt mir in den Sinn, dass Ihr einen Ungläubigen zu Euren liebsten Freunden zählt. Man fragt sich, wo Eure Loyalitäten liegen.«
Gandar öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, und klappte ihn wieder zu. Er war sprachlos. Doch diese untypische Anwandlung war nur von kurzer Dauer, und nach einem Moment räusperte er sich entschlossen. »Ist Euch eigentlich bewusst, wie unangebracht dieser Tiefschlag eben war? Ihr habt eine unfeine Art, Euch die Dinge so zurechtzubiegen, wie sie Euch passen, Herr Bruder. Aber was kann man schon erwarten – von einem, der sich um den Verstand getrunken hat?«
Richard machte eine abfällige Geste. »Was Ihr denkt, interessiert mich wenig«, gab er zurück. »Weil ich weiß – und jeder, der auch nur einen Tag mit mir zugebracht hat, weiß es - dass es nicht wahr ist.«
Gandar schüttelte den Kopf. »Es wäre hilfreich«, sagte er, »sehr hilfreich, wenn Ihr von jetzt an nur noch das Wort ergreifen würdet, falls es etwas zu sagen gibt, das der Rede wert ist. Wir müssen einander noch ein paar Tage ertragen. Machen wir es uns also nicht schwerer als nötig.«
Gandar sprach sehr ruhig, aber der Zorn in seiner Stimme war unüberhörbar. Doch Richards Verstand schien schon zu sehr vom Wein benebelt, um die heraufziehende Gefahr zu bemerken.
»Tja, was kann ich sagen, Gandar?«, höhnte er stattdessen. »Ihr bringt ja doch noch einen brauchbaren Gedanken zustande. Verzieht Euch und geht feiern, damit Ihr Euren Überschuss an schwarzer Galle loswerdet. Dann hört Ihr vielleicht auf, so ein entsetzlicher Langweiler zu sein.« Damit ließ Richard sich rücklings aufs Bett fallen und war im nächsten Moment eingeschlafen.