Gandar trat ans Fenster und sah eine Weile zum Sternenhimmel hinauf. Er war erschöpft, aber er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich irgendwo hinzulegen. Er würde nur wieder an sie denken, während er wach lag, und sich schmerzerfüllt herumwälzen. Gwen … Für eine kleine Weile hatten Anstrengung und Sorge es geschafft, ihr Bild aus seinen Gedanken zu vertreiben. Jetzt war es wieder da. Verbunden mit dem, was er inzwischen wusste, war es schlimm.
Er presste beide Handflächen gegen die Stirn und befahl seinem Herzen, dass es schweigen solle. Doch das tat es nicht. Vielmehr überkam ihn die erschreckende Gewissheit, dass sein Leben dabei war, völlig aus den Fugen zu geraten – wenn es ihm nicht gelang, die Vermählung zwischen Gwenfrewi von Brenneberg und Richard zu verhindern. Sicher, die Hochzeit als solche würde er nicht abwenden können. Aber er konnte bei Konrad gewichtige Argumente vorbringen, die gegen die Wahl der Braut sprachen. Wobei er sich längst nicht mehr sicher war, ob er damit tatsächlich Richard vor Gwenfrewis Intrigen zu schützen versuchte – oder vielmehr Gwen vor den unberechenbaren Launen seines Bruders.
Gandar zog sich die graue Perücke vom Kopf und schüttelte sein schwarzes Haar aus. Besser, er dachte nicht weiter darüber nach. Das hatte Zeit bis morgen. Heute Nacht musste er dafür sorgen, dass Richards Leichtsinn keine Folgen für die Glouburg hatte. Gandar spähte in den Waschkrug und befand, dass genug Wasser für eine Rasur vorhanden war. In Richards Truhe fand er, was er sonst noch benötigte. Er bereitete alles vor, wobei er sich bemühte nicht allzu viel Lärm zu veranstalten. Was vermutlich gar nicht nötig gewesen wäre. Richard schnarchte seelenruhig.
Was zum Teufel tue ich hier eigentlich, dachte Gandar, während er sich rasierte. Warum kann ich nicht aufhören, für Richard in die Bresche zu springen? Er wusste nicht und konnte auch nicht entscheiden, welche Gefühle ihn an seinen Zwillingsbruder banden. Das verwirrte ihn. Er liebte seinen Bruder – oder? Ja, das tue ich, versuchte er sich laut vorzusagen. Aber die Worte wollten ihm nicht über die Lippen kommen.
Wütend öffnete er Richards Kleidertruhe, griff sich Cotte, Surcot, Gürtel sowie einen Hut und kleidete sich an. Er faltete seine eigenen Gewänder zu einem handlichen Bündel, verstaute es in der Truhe und verließ Richards Kammer.
Sein erster Weg führte ihn ins Torhaus, wo er durch sein lautloses Eintreten die Wachen zu Tode erschreckte. Während sie ihn noch anstarrten, fegte er mit einer ausholenden Armbewegung die Becher vom Tisch und stürzte den Weinbottich um. Wer aufbegehrte, bekam seine Fäuste zu spüren. Sie hätten, so verfügte er, am Morgen als Erstes vor ihm zu erscheinen, gewaschen und nüchtern, um das Maß ihrer Strafe zu hören.
Dann stieg er auf den Turm. Mit einer herrischen Geste scheuchte er die beiden kichernden Mägde davon, die versuchten, sich ihm an den Hals zu werfen. Wortlos packte er das Spielbrett und beförderte es samt Würfeln, Bechern, Einsätzen und gewonnenen Münzen über die Mauer hinunter in den Stachelgraben. Auch hier befahl er den wie versteinert dastehenden Wachsoldaten, am nächsten Morgen vor ihm zu erscheinen. Danach war ihm wohler.
Er machte sich auf die Suche nach Ahmad und Gareth und erklärte ihnen die Sachlage, bevor er in den Übungshof zurückkehrte. Der ausgelassenen Stimmung hatte der Abgang des Burgherrn keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Alle waren so betrunken, dass niemand von ihm Notiz nahm, geschweige ihn erkannte; er mischte sich ins Getümmel. Ohne selbst viel zu reden, lauschte er, und erfuhr, dass der Burgherr beliebt war. Mit einem vollen Weinkrug und einem Becher ausgestattet, zog er sich schließlich in eine ruhigere Ecke zurück.
Aus der Ferne hörte er, wie das Jaulen der Hunde in ihrem Pferch neben dem Stall zum schrillen Freudengekläff wurde; es entfernte sich; es verstummte.
Was dagegen nicht verstummen wollte, waren die düsteren Gedanken, die durch seinen Kopf jagten. Die Sache mit Richard bedrückte ihn. Schwer. Er wollte nicht noch einen geliebten Menschen verlieren. Aber er war sich fast sicher, dass es bei Richards Leichtsinn nur eine Frage der Zeit war. Langsam hob er seinen Becher und trank einen großen Schluck. Seit er Konrads Nachricht erhalten hatte, war ihm speiübel und er hatte nur wenige Bissen trockenes Brot hinunterwürgen können. Der Wein hätte also längst seine Wirkung zeigen müssen. Warum spürte er nichts?
Gandar schloss die Augen und lehnte sich zurück. Versuchte nicht weiter zu denken. Sich an nichts zu erinnern. Aber es gelang ihm nicht. Es ging einfach nicht.
Ihn schauderte. Er schlug die Augen auf. Und schloss sie gleich wieder. Besser gesagt, sie fielen ihm zu. Es war nicht Schlaf, sondern Schwäche, die ihn überkam. Mit zitternden Händen hob er den Becher an den Mund und trank gierig. Saß dann zusammengesunken und mit hängendem Kopf da. Starrte auf seine Hände, die den Becher umklammert hielten, und bemühte sich ein Gebet zu murmeln. Aber ihm wollten die vorgeschriebenen Worte nicht einfallen und ein ungewollter Seufzer entfuhr ihm.
Indes bemerkte dies niemand; der Lärm übertönte alles. Grölen und Stampfen feuerten einen Ringkampf zwischen zwei Knappen an. Die Musikanten waren längst irgendwo im Heu verschwunden – aller Wahrscheinlichkeit nach mit den Mägden, deren Aufgabe es gewesen wäre, die Gäste zu bedienen.
Gandar leerte einen weiteren Becher Wein. Weil er wusste, dass ihm nur die eine Möglichkeit blieb, wenn er noch ein paar Stunden dringend notwendigen Schlaf bekommen wollte: Zu trinken, bis sein Körper schließlich nachgab.
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Wenigstens würde er nicht der Einzige sein, der beim Erwachen das Gefühl hatte, ihm sei der Himmel auf den Kopf gefallen.
Der Herr Kaplan hatte kein Einsehen. Mit genüsslichem Grinsen und mehr Vehemenz als nötig betätigte er am nächsten Morgen das Zugseil der Glocke, welche die Burgleute zur Frühmesse rief.
Es dauerte geraume Zeit, bis die Ersten sich rührten, und was da schließlich in die Kapelle schlurfte, war ein solches Bild des Jammers, dass das schadenfrohe Grinsen des Kaplans noch um einiges breiter wurde. Seufzend und stöhnend, sich gegenseitig stützend, schleppten sich die Männer zu ihren Plätzen und sanken auf die Knie.
In diesem Augenblick betrat der Burgherr mit festen Schritten die Kapelle – ein wenig blass um den Mund, aber deutlich ausgeruhter als die anderen Männer.
Köpfe fuhren herum und verblüffte Blicke folgten ihm, während er den Mittelgang entlang schritt und seinen üblichen Platz in der vorderen Reihe einnahm.
Zunächst amüsierte sich Richard über die erstaunten Blicke. Im Verlauf der Messe begann er sich jedoch ernsthaft zu fragen, woher sie rührten. War während der Nacht etwas geschehen, wovon er als einziger nichts wusste? Ein wenig beklommen dachte er an Gandars Drohung. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass sein Zwillingsbruder in der Lage war, seinen Platz einzunehmen, wann immer er das wollte. Fragte sich nur: Hatte er es tatsächlich getan?
Ich war es jedenfalls nicht, der die Wachsoldaten zum Säubern der Aborte geschickt hat, dachte Richard bei sich. Gandar dagegen würde so etwas durchaus ähnlichsehen.
Heute Morgen, nach dem Aufwachen, hatte er entdeckt, dass sein Bruder fort war. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Nicht ein Stäubchen deutete darauf hin, dass er überhaupt da gewesen war.
Darüber dachte Richard nach. Redete sich ein, dass Gandar vielleicht schon auf dem Weg zu König Konrad war, um ihm diese verfluchte Hochzeit auszureden. Aber im selben Augenblick, in dem er den Gedanken formte, wusste er, dass er darauf nicht hoffen durfte.
Die Unsicherheit drückte wie ein Stein auf seinen gequälten Magen. Er wollte keine Gemahlin. Schon gar keine, die er noch nie gesehen hatte. Schließlich wusste er aus erster Hand, was eine arrangierte Ehe einem Mann antun konnte. Seine Mutter war eine fade und langweilige Person gewesen. Gut, sie hatte ihre Pflicht erfüllt, vier Söhne und eine Tochter geboren, aber darüber hinaus ... Sie hatte sich vor den Jagdfalken gefürchtet, war zu unbeholfen gewesen, um im Sattel mit den Männern mithalten zu können. Und was das Ehebett anging, nun, da schien sie mehr Ähnlichkeit mit einem leblosen Stück Fleisch gehabt zu haben, als mit einer lebendigen, warmen und willigen Frau. Sein Vater war jedenfalls sehr oft gezwungen gewesen, die Küchenmägde aufzusuchen, wenn er seinen Spaß haben wollte. Was der langen Liste ihrer Unzulänglichkeiten schließlich die Krone aufgesetzt hatte, war die Tatsache, dass sie nicht in der Lage gewesen war, ihre wenige Wochen alten Zwillinge gegen den Angriff einer Bande Straßenräuber zu verteidigen. Bei diesem Angriff war Gandar verschwunden. Trotz aller Bemühungen seines Vaters war nie herausgekommen, was mit seinem Bruder geschehen war. Das hatte er erst viel Später und mehr durch einen Zufall erfahren.
Wobei mein teurer Herr Bruder trotz seiner Entführung den weitaus besseren Teil erwischt hat, dachte Richard grimmig. Er führte ein ungebundenes Leben, ohne die lästige Verantwortung, für den Fortbestand der Dynastie sorgen zu müssen. Ihm dagegen schickte der König eine Ehefrau, die, gemessen am Umfang ihrer Mitgift, vermutlich eine unansehnliche Jungfer war.
Richard fluchte leise vor sich hin und der Kaplan warf ihm einen tadelnden Blick zu. Herr im Himmel, dachte Richard, zur Strafe hält er jetzt bestimmt eine noch längere Predigt als üblich. Womit habe ich nur solche Untergebenen verdient?