Warum ausgerechnet Tarun?«, fragte Ravena von Rocca d´Aquila. »Warum hat man gerade ihn entführt?« Sie wandte sich vom Fenster ihrer Kräuterkammer ab und rieb sich gedankenverloren die Arme, als ob sie fröstelte. »Was kann ein Junge mit seiner Beeinträchtigung schon wert sein? Wem kann er etwas wert sein?«
Nael hob die Hände zu einer Geste der Hilflosigkeit. »Ich habe keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Er hat mir nie etwas über seine Vergangenheit erzählt …«
»Er erinnert sich nicht.« Ravena nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute nachdenklich darauf herum. »Seine Reisegruppe wurde zweifellos überfallen. Ich habe mir eingeredet, dass seine Eltern umgekommen sind, weil ich ihn behalten wollte. Aber ich hätte es besser wissen und nachforschen sollen, nicht wahr? Immerhin kann er lesen und schreiben …«
Nael schüttelte den Kopf, nahm Ravena beim Arm und führte sie zum Arbeitstisch zurück. »Komm, wir wollen uns setzen, ja?«
Ravena erhob keine Einwände, auch nicht, als Nael einen Becher aus dem Regal nahm, ihn mit Apfelmost füllte und ihr in die Hand drückte, ehe er ihr gegenüber auf einem Schemel Platz nahm.
Sie unterbrach Naels Schweigen mit der Frage: »Du hast eine schlechte Nachricht für mich, nicht wahr?«
Er nickte und hob gleichzeitig die Schultern. »In gewisser Weise.« Er griff in den Ärmel seiner Tunika und zog ein Stück Stoff hervor, das er auf dem Tisch ausbreitete. »Ich fürchte, die Sache ist komplizierter als wir ahnen. Hier.«
Sie setzte ihren Becher ab und zog den Stoff zu sich heran. »Grundgütiger. Der Löwe von San Marco, das Wappen von Venedig. Woher hast du das?«
»Ich habe es unter dem Baum gefunden, bei dem alle Spuren endeten.«
Ravena betrachtete den Stofffetzen mit einem verwirrten Kopfschütteln. »Das … das begreife ich nicht. Tarun und Venedig? Was hat das zu bedeuten?«
»Er könnte aus Venedig stammen, Ravena. Zumindest versteht er die Mundart von San Marco.«
»Wie willst du das wissen?«, wandte Ravena ein. Sie steckte den rechten Daumennagel in den Mund, ließ ihn jedoch fast sofort wieder sinken. »Ich … ich verstehe, dass du mir helfen willst, Erklärungen zu finden. Aber Venedig ist groß. Du kannst keineswegs sicher sein, dass Tarun aus San Marco stammt.«
»Doch, Ravena. Das bin ich. Ich weiß, ich hätte dich nicht so lange im Unklaren lassen dürfen, aber es schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein und ich …« Er verstummte.
Ihre Augen verengten sich ein wenig. »Der richtige Zeitpunkt? Wofür?«
»Um dir zu gestehen, dass ich Venezianer bin«, erklärte er. »Ich habe Tarun auf mehr Proben gestellt, als er je gemerkt hat. Ich glaube, er erinnert sich durchaus an die Stadt - auch wenn ihm anscheinend nicht klar ist, an was genau er sich da erinnert.«
Ravena antwortete nicht sofort. Sie schien genau abzuwägen, was sie sagen sollte. Nael konnte ihrem Gesicht ansehen, wie Ärger und Sorge miteinander rangen. Schließlich verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Warum hast du mir von deinen Nachforschungen nichts gesagt, Nael? Sollte es einer Mutter nicht zustehen, solche Dinge zu erfahren?«
Nael hob ergeben die Hände. »Du hast ja recht. Es ist nur … über Venedig zu reden fühlt sich an, als ob man absichtlich eine offene Wunde berührt.« Er blickte an ihr vorbei, hinüber zu den Regalen mit den säuberlich beschrifteten Tiegeln und Dosen. »Ich versuche, es möglichst zu vermeiden.«
»Warum?«, fragte sie.
Er richtete seinen Blick wieder auf sie, auf ihre blassen Wangen, die gequälten Augen. »Ich bin ein Verbannter, Ravena. Ich darf meine Heimatstadt nie mehr betreten. Es könnte mich den Kopf kosten.«
»Oh Nael.« Sie hob die Hände zu einer hilflosen Geste. »Hätte ich nur geahnt … auf einen Schlag alles zu verlieren … wie verloren musst du dich gefühlt haben.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es tut mir sehr leid.«
»Schon gut«, murmelte er. »Ich denke gar nicht mehr die ganze Zeit daran.« Sonst hätte ich längst den Verstand verloren.
Ravena nickte. »Danke, dass du es mir gesagt hast.«
Er stand auf und trat zum Fenster. »Es war falsch, so lange damit zu warten. Aber manchmal kommt die Erinnerung hoch und schmerzt so sehr, dass man glaubt, es nicht aushalten zu können.«
»Ich weiß.« Sie trat zu ihm, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn sanft.
Sie sieht so unglücklich aus, dachte er. Und bemüht sich trotzdem, mir Trost zu schenken. Er schluckte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ihr sanfter Kuss nahm ihm den Atem, doch gleichzeitig verkrampften sich seine Eingeweide. Sie hatte Trost viel nötiger als er, doch was er ihr geben konnte, war nichts als neuer Kummer. Unauffällig befreite er sich aus der innigen Umarmung.
Ravena ließ die Hände sinken und sah ihn an. »Darf ich dich um etwas bitten?« Unvermittelt hielt sie inne und zuckte die Achseln. »Obwohl … lieber nicht.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde dir helfen, Tarun zu finden. Irgendwie ist mir der vorlaute Bengel ans Herz gewachsen.«
Und du mir auch.
Für einen winzigen Moment weiteten sich ihre Augen und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Doch Ravena scheuchte es gleich wieder fort, verwandelte es in einen ernsten Zug. »Das war es nicht, worum ich dich bitten wollte. Ich kann unmöglich von dir verlangen, mit mir nach Venedig zu reisen.«
Nael zog eine Braue in die Höhe. »Warum nicht? Du brauchst jemanden, der die Eigenarten der Venezianer kennt …«
»Mit diesen Krämerseelen werde ich schon fertig«, erklärte sie spitz.
Nael gab ein kurzes Schnauben von sich, das fast wie ein ungläubiges Lachen klang.»Warst du schon einmal in einer Stadt von der Größe Venedigs, Madonna? Kannst du dir vorstellen, wie es da zugeht?«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
Nael ergriff ihre Hand und führte sie zu ihrem Schemel zurück. »In der Lagune leben beinahe so viele Bürger wie in Florenz. Ein Netz von Kanälen verbindet die einzelnen Stadtteile miteinander. Es gibt nur wenige Brücken und wer sich nicht auskennt, irrt vielleicht stundenlang durch die Gassen, ohne sein Ziel zu erreichen. Hast du das bedacht? Wie soll das denn …«
»Spar dir den Rest«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich weiß es zu schätzen, dass du mich begleiten willst. Meine Aufgabe wäre ohne Zweifel um einiges leichter. Doch es ist besser, wenn du nicht …«
»Verstehe ich dich richtig?«, unterbrach er sie fassungslos. »Du willst meine Begleitung nicht?«
Sie sah zu ihm auf. »Ich verbitte sie mir. La Serenissima hat mir schon meinen Sohn genommen. Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren.«
Nael schüttelte fassungslos den Kopf und verspürte gleichzeitig eine eigentümliche Freude, eine Art heimelige Wärme, die so überwältigend war, dass er davon weiche Knie bekam. Er zog Ravena auf die Füße und küsste sie auf den Mund, ehe sie auch nur begriff, wie ihr geschah.
»Das Gleiche gilt umgekehrt, Ravena. Notfalls hefte ich mich an deine Fersen, ob es dir nun passt oder nicht.«
Sie schüttelte wortlos den Kopf und Nael bemerkte überrascht, dass sie mit einem Mal Tränen in den Augen hatte, die sie jedoch hastig wegblinzelte.
»Danke«, sagte sie mit dünner Stimme.
Er stieß den Atem scharf zwischen den Zähnen durch und sah sie an. Ursprünglich hatte er vorgehabt, ihr auch die mit eingetrocknetem Blut verkrustete Münze zu zeigen, die er zusammen mit dem Wappen gefunden hatte. Doch nun brachte er es nicht über sich. Der Anblick der Münze hatte ihn nicht nur erschreckt, sondern regelrecht schockiert. Er hatte gehofft, dass mit der Zeit Gras über die Vergehen seiner Vergangenheit wachsen würde. Es war erschütternd zu erkennen, wie trügerisch diese Hoffnung gewesen war. Jemand wusste Bescheid. Die Münze war ein Zeichen, dass die Jagd auf ihn begonnen hatte. Und Tarun war Mittel zum Zweck.
Er legte die Hände um Ravenas Oberarme und zog sie an sich. Obwohl sie sich wehrte, hielt er sie fest.
»Ich will nicht, dass du meinetwegen dein Leben riskierst.« Ich will gar nichts von dir. Lass mich los.«
»Nein.«
Plötzlich gab sie ihren Widerstand auf und schlang die Arme fest um ihn. »Oh, Nael, ich habe solche Angst. Es ist, als würde mir alles entgleiten, was ich jemals erreicht habe. Und ich weiß nicht einmal, warum.«
Er bettete ihren Kopf an seine Brust und drückte sein Gesicht in ihr Haar.
»Und jetzt heule ich auch noch deine Tunika nass.«
»Das macht nichts. Niemand sieht dich außer mir und ich kann schweigen.«
»Ich muss dauernd an Tarun denken. Wo er jetzt wohl ist? Bestimmt ängstigt er sich zu Tode.«
»Der Junge ist stärker, als du denkst.«
»Wenn es nach mir ginge, würde ich diese Stadt mit Flammen überziehen und in Tränen ertränken«, sagte sie mit zittriger Stimme.
»Ich fürchte, gegen deine Tränen würde keine Feuersbrunst lange bestehen können.«
»Dann benutze ich eben griechisches Feuer«, gab sie spitz zurück. »Das brennt auch auf dem Wasser.«
Nael lachte in sich hinein, aber das Gefühl, als habe sich ein Mühlstein auf sein Herz gelegt, blieb.