Das Haus hatte nichts von seiner abschreckenden Wirkung verloren. Der Geist fühlte sich jedes Mal wie ein Verbrecher auf dem Weg zum Schafott, sobald er gezwungen war, sich dem prunkvollen Gebäude zu nähern, das zu den Vornehmsten ganz Venedigs zählte.
Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, eine kalte weiße Scheibe am trüben Herbsthimmel, die Ziegelmauern und Mamorsäulen des Hauses in fahles Licht tauchte. Der Geist stieg aus der Gondel, blickte sich um, und fand alles unverändert … und seltsam fremd. War er tatsächlich so lange nicht mehr hier gewesen, dass ihm San Marco erschien, als sähe er es zum ersten Mal? Er empfand nichts, nur die kalte Stille des Morgens ringsum.
Er warf dem Gondoliere eine Münze zu und schritt durch den Sotoportego in den Hof. Am Fuße der Außentreppe erwartete ihn der Haushofmeister.
»Herr?« Die Stimme des Dieners klang feindselig, obwohl sein Verhalten völlig korrekt war. Einen Herzschlag lang war der Geist versucht, sich Respekt zu verschaffen, doch dann überlegte er es sich anders. Die Feindseligkeit des Dieners hätte ihn nicht überraschen dürfen. Der Mann ahmte nur das Verhalten seiner Herrin nach.
»Melde mich bei Madonna Theodora.«
»Sehr wohl, Herr. Bitte folgt mir.«
Hintereinander erklommen sie die Stufen zum Portego, einer über die ganze Länge des Stockwerkes reichenden Halle mit schimmerndem Terrazzoboden. Bunt gemusterte Stoffe und reich geschnitztes Holz schmückten die Wände. Die Stühle und Tische waren vergoldet und mit Elfenbein und Ebenholz eingelegt. Der Diener führte ihn zu einem behaglichen Raum im hinteren Teil des Portego.
Theodora Zarelli saß an einem Tisch, der von Pergamentrollen, Seekarten, Briefen und hingekritzelten Notizen bedeckt war, und siegelte Pergamente. Wie gewöhnlich war sie in Schwarz gekleidet, aber der Geist erkannte schweren, mit feinen Goldfäden durchwirkten Atlas und kunstvoll gefasste Edelsteine, die ihren Hals und die Nadeln zierten, mit denen sie ihr Haar aufgesteckt hatte. Eine silberne Schale mit Äpfeln und Trauben, getrockneten Feigen und süßem Mandelgebäck stand in Reichweite. Theodora hatte die Ankömmlinge noch nicht bemerkt. Oder zumindest gab sie das vor. Sie nahm sich eine Feige aus der Schale, schob sie in den Mund und kaute genüsslich. Ihre Feder raschelte über das Pergament.
Schließlich griff sie nach einer Dose, Streusand ergoss sich über die Schrift, der Bogen knisterte beim Löschen.
Der Haushofmeister ergriff die Gelegenheit, um vorzutreten. »Herrin. Ich bringe Euch Messèr Joran Ferroni.«
»Ah«, machte Theodora und es klang nicht im Geringsten überrascht. Sie erhob sich von ihrem Sitz: Eine scheinbar alterslose Frau, hochgewachsen und schlank, mit blauen Augen, die wie zu Eis erstarrte Seen wirkten. »Willkommen in Venèzsia, Messèr Ferroni.«
Joran schlenderte in den Raum und nickte der Hausherrin knapp zu. »Madonna.«
»Bring Wein für meinen Gast«, befahl sie dem Haushofmeister, während sie ihren Besucher mit einem rätselhaften Lächeln betrachtete. »Mein junger Freund. Ihr seid länger fortgeblieben als gedacht. Ich war ein wenig in Sorge um Euch.« Das Lächeln wurde noch breiter. »Umso erfreuter bin ich nun, Euch bei guter Gesundheit zu sehen.«
Joran ging nicht auf die leere Floskel ein. Er war sicher, dass sie längst von seinem Besuch im Haus des Bischofs wusste. Vielleicht hatte sie sogar den Kunden für ihn ausgewählt und ergötzte sich nun im Stillen an der Vorstellung, wie sehr er die Handlungen hasste, die man ihm aufgezwungen hatte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und erwiderte wortlos die unverhohlene Musterung.
Sie ließ sich von seinem Schweigen nicht aus der Fassung bringen. »Setzt Euch, Messèr Joran.« Sie wies auf die Stühle vor dem Kamin. »Kann ich Euch einen Imbiss bringen lassen?«
»Nein, vielen Dank.«
Theodora zuckte die Schultern. »Ganz wie Ihr wollt.«
Ein Diener erschien mit einer Karaffe dampfenden Würzweins, füllte ihnen die Becher und zog sich diskret in eine Ecke des Raumes zurück.
Sieh an, sieh an, dachte Joran, ein als Diener verkleideter Raufbold. Madonna Theodora geht wahrlich kein Risiko ein…
Die Hausherrin setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Nun, kommen wir zum Geschäft. Konntet Ihr beschaffen, was ich bei Euch bestellt hatte?«
»Ihr meint den Medicus, der das Pech hatte, Eure überaus tugendhafte Tochter behandeln zu müssen? Ja und nein.«
Theodora lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn abschätzend. »Ihr wagt es, mir mit leeren Händen unter die Augen zu treten?«
Joran stieß einen übertriebenen Seufzer aus, während sein Herzschlag sich beschleunigte.
»Aber Madonna! Es schmerzt mich, zu hören, dass Ihr so schlecht von mir denkt. Habe ich Euch jemals enttäuscht?«
Theodora lächelte. Es war ein heiteres Lächeln, aber irgendetwas Unangenehmes zeigte sich darin. »Wollt Ihr darauf wirklich eine Antwort?«
Joran verengte die Augen. Einen Moment lang stellte er sich vor, seine Hände um ihren schlanken Hals zu legen und zuzudrücken, bis sie röchelnd ihr Leben aushauchte. Doch solche Gedanken waren müßig und lenkten ihn nur von seiner Aufgabe ab. Er durfte sich keinen Fehler erlauben.
»Ich bin in der Lage, Euch etwas weitaus Wertvolleres zu bieten als die schlichte Befriedigung Eurer Rachegelüste«, sagte er.
»Und zwar?« Theodora betrachtete ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. »Ich bin gespannt, mein Lieber. Was könnte mehr wiegen als die Erfüllung meines Herzenswunsches?«
»Erinnert Ihr Euch an den jungen Raffaele Badoer, der mitsamt seiner Eskorte in den Alpen verschollen ist?«
»Vage«, antwortete Theodora und nahm sich eine neue Feige.
»Man erzählt sich, mit ihm sei auch der einzig existierende Hinweis auf den Fundort eines unermesslich kostbaren Schatzes verloren gegangen.«
Theodora winkte ab. »Gerüchte, Ferroni. Dummes Gerede, über das es sich kaum nachzudenken lohnt.«
Joran sah auf seinen unberührten Becher. »Ich habe etwas, das Eure Meinung ändern könnte.«
»Das meine Meinung ändern könnte …«, wiederholte sie. Ihr Blick richtete sich auf einen Punkt hinter seiner rechten Schulter, als müsse sie über das Gehörte nachsinnen.
»Ich glaube Euch nicht«, befand sie schließlich. »Niemand hat je wieder von Raffi Badoer gehört. Dabei hat sein Vater seinerzeit nichts unversucht gelassen, um ihn zu finden. Der Junge ist tot, der Schatz verloren.«
Joran ließ den linken Arm lässig über die Rückenlehne seines Stuhles baumeln, während er Theodora mit einem spöttischen Lächeln bedachte. »Ihr solltet Euren Spionen den Lohn kürzen, Madonna. Sie taugen nichts.«
»Ihr nehmt den Mund ziemlich voll, mein Lieber«, bemerkte sie. Ihre Stimme war so eigentümlich leise, dass es ihn schauderte. »Muss ich Euch daran erinnern, was Eurer Familie blüht, wenn Ihr es an gottgefälligem Respekt mir gegenüber fehlen lasst?«
Joran stellte den Weinbecher ab. »Das wäre Euer Schaden, Madonna, glaubt mir.« Er erhob sich und trat vor ihren Schreibtisch. Er hatte einen Kloß im Magen, aber seine Hände waren ruhig, während er ein dünnes Büschel schwarzer Haare aus dem Ärmel seiner Tunika zog und vor ihr auf die Tischplatte fallen ließ. »Raffaele Badoer lebt. Und er ist mein Gefangener.«
»Eine interessante Konstellation. Sprecht weiter.«
»Es kommt noch besser. Ich habe herausgefunden, was mit Raffi geschehen ist. Er hat die vergangenen Monate auf einer Burg in den Alpen verbracht, als Ziehsohn der Burgherrin. Ihr Name ist Ravena von Rocca d´Aquila und sie teilt das Bett mit Eurem Todfeind.«
Theodoras Hände umklammerten die Armlehnen ihres Stuhles. »Schön. Immerhin habt Ihr den Bastard endlich aufgespürt. Demnach seid Ihr nicht völlig nutzlos …«
»Oh, wärmsten Dank.«
»Mir stellt sich jedoch die Frage«, fuhr Theodora in schneidendem Ton fort, »warum Ihr in Venèzsia seid, während sich mein Feind an einem anderen Ort befindet. Hatte ich Euch nicht darum gebeten, ihn mir zu bringen?«
»Keine Sorge, das werde ich. Ich rechne jeden Tag mit seiner Ankunft.«
»Er kommt nach Venèzsia?«
»Ja. Und er bringt seine Bettgespielin mit. Ravena ist eine außergewöhnlich hübsche Frau, die sich in Eurem geheimen Salon gut ausnehmen wird.«
Theodora verharrte mehrere Herzschläge lang unbeweglich, nachdenklich, schweigend. Dann stieß sie einen Seufzer aus, der aus tiefster Seele zu kommen schien, und nickte. »Ausgezeichnet. Ich erwarte, dass Ihr mich unverzüglich benachrichtigt, sobald sich der Medicus und seine Dirne in Eurer Hand befinden.« Sie erhob sich und legte die Hände auf die Tischplatte. »Ich denke, das wäre dann alles für heute.«
»Nein«, sagte Joran. »Keineswegs. Der Junge und die Frau sind nicht im Lieferumfang enthalten. Wenn Ihr sie wollt, müsst Ihr dafür bezahlen.«
Theodoras Augen verengten sich, und Joran war es für einen Moment, als würde der Teufel über sein Grab spazieren.
»Tatsächlich? Welche Bezahlung schwebt Euch denn vor, Messèr Ferroni?«
Joran biss sich kurz auf die Unterlippe. »Ich will Leocadia. Vorher werde ich Euch die Frau und den Jungen nicht ausliefern.« Und wehe, Ihr habt ihr ein Haar gekrümmt.
Theodora begann zu lachen. »Ihr habt wirklich Nerven, mein Lieber.« Sie zog eine dünne Kette mit einem herzförmigen Anhänger aus einem Beutel an ihrem Gürtel hervor und ließ ihn vor seinen Augen hin und her pendeln. Mit einem Mal klang ihre Stimme hart. »Bringt mir den Jungen und die Frau oder Eure liebe Mutter wird bald keinen Bedarf mehr für diesen wirklich hübschen Anhänger haben. Verstanden?«
Joran starrte sie an. Er brachte keinen Ton heraus. So erbärmlich ihm seine Reaktion auch erschien, hatte ihm der Anblick des Anhängers doch für den Augenblick die Sprache verschlagen.
»Habt Ihr verstanden?«, wiederholte Theodora.
Er zuckte die Schultern. »Mein Preis ist nicht verhandelbar.« Diesmal nicht. Diesmal wirst du bezahlen, du widerliche Kreatur.
Theodora musterte ihn aus kalten blauen Augen. »Eure kleine Schwester ist wirklich ein liebreizendes Kind, Messèr Ferroni. Wusstest Ihr, dass der Bischof mir für ihre Jungfernschaft ein kleines Vermögen geboten hat? Ah, ich sehe es Euch an. Ihr wusstet es nicht. Nun denn. Meine Entscheidung hängt ganz von Euch ab. Überlegt es Euch gut.« Damit rauschte sie aus dem Raum.
Joran musste die Zähne zusammenbeißen. Mehrere Herzschläge lang stand er vornübergebeugt da, die Hände auf die Tischplatte gestützt und konzentrierte sich auf jeden einzelnen Atemzug. Er hatte nicht erwartet, dass es leicht sein würde. Doch Theodora hatte seine Drohung beiseite gewischt, als sei sie nicht weiter von Bedeutung. Dabei wusste er, dass sie ihre Spione schon lange nach dem Badoer-Schatz suchen ließ. Sie würde alles daransetzen, den Jungen in ihre Gewalt zu bekommen, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Mit einer einzigen, beiläufigen Bemerkung hatte sie ihm klar gemacht, dass er ab jetzt keinen ruhigen Augenblick mehr haben würde. Er griff nach seinem Weinbecher und nahm einen ordentlichen Zug. Er würde es schaffen.
Die Verzweiflung, die ihn hatte übermannen wollen, wich einer grimmigen Entschlossenheit. Er stellte den Weinbecher ab und verließ den Raum. Der Diener folgte ihm und führte ihn wortlos nach unten in den Hof. Obwohl er nichts Verdächtiges entdecken konnte, war Joran sicher, dass seine Verfolger schon bereitstanden. Keinesfalls durfte er sie zum Versteck des Jungen führen, sonst war alles verloren. Aber nicht umsonst war er Ash´abah, der Geist, und er würde alles daransetzen, sich ganz und gar in ein Wesen der Nacht zu verwandeln, dessen Kommen und Gehen niemand bemerkte.