"Erzähl mir von Helena«, bat Nael den Freund, während sie zu dem Landungssteg gingen, an dem Niccos Mascareta vertäut lag.
»Was willst du wissen?«
»Alles«, sagte Nael und breitete mit einem verlegenen kleinen Lächeln die Arme aus. »Jede noch so kleine Nichtigkeit, selbst wenn du sie vielleicht nur vom Vetter eines Freundes deines Schwagers gehört hast …«
Nicco lachte leise. Es war ein warmes, aber fast ein wenig spöttisches Lachen. »Ich habe mich schon gefragt, wann du anfängst, mich auszufragen.«
Er stieg ins Boot und wartete, bis auch Nael sich hinabgelassen hatte, bevor er ihm ein langes Ruder in die Hand drückte. »Deine kleine Schwester hat sich zu einer hübschen jungen Frau gemausert, der die Männer auf der Straße hinterhersehen.«
Nael steckte die Rudergabel in die Forcola am Heck der Mascareta, dann schob er das lange Holzblatt der Ruderstange ins Wasser und stieß das Boot vom Steg weg. »Ist sie verheiratet?«
»Nein. Auch nicht verlobt, soweit ich weiß«, erwiderte Nicco, während er mit geschickten Handgriffen das weinrote Gaffelsegel aufzog.
Nael hob die Brauen.» Nicht verheiratet? Sieh an. Wie das?«
»Oh, nicht dass es ihr an Bewerbern mangeln würde«, versicherte Nicco eilig. »Doch Florimond ist schrecklich wählerisch, was ihren zukünftigen Ehemann betrifft. Es scheint, als hätte er nicht die Absicht Helena herzugeben. Sie führt inzwischen einen Gutteil seiner Geschäfte, weißt du?«
Nael hielt mit dem Rudern inne und sah ihn an. »Allmächtiger. Das hätte er früher nie zugelassen.«
»Bist du jetzt schockiert?«
Der Medicus schüttelte den Kopf. »Verwirrt. Ziemlich verwirrt, wenn du die Wahrheit wissen willst, mein Freund.«
Nicco drehte das Segel in den Wind und sah zu, wie es sich knatternd füllte. »Dein Entschluss, aus Venedig fortzugehen, hat Florimond schwer getroffen, Reni. Er hat lange getrauert, und wenn du mich fragst: Er ist bis heute noch nicht vollständig darüber hinweg, dass du …«
»Ich will das nicht hören«, unterbrach Nael schneidend. Mit einem Mal spürte er Schweiß auf Brust und Rücken, der nicht von der Anstrengung des Ruderns herrührte. Er war sich vollständig darüber im Klaren, was er seiner Familie angetan hatte, das musste ihm niemand unter die Nase halten.
Nicco saugte einen Moment nachdenklich an seiner Unterlippe. »Du kannst es verleugnen, Reni, aber es bleibt trotzdem eine Tatsache. Nachdem du fort warst, konzentrierte Florimond sich ganz auf Helena. Ich fürchte, sie ist inzwischen zu einer Art Besessenheit für ihn geworden.«
Nicco hielt inne und schien in Gedanken versunken. »Ja, eine Besessenheit. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Helena ist dir in allem schier unglaublich ähnlich, wusstest du das? Sie hat sogar die gleichen Augen wie du, mal braun, mal golden. Man kann es nie genau sagen, wie bei dir. Je nach Licht, je nach Stimmung scheinen sie ihre Farbe zu wechseln.«
»Ein Erbe unserer byzantinischen Großmutter.«
»Das mag sein.« Er schwieg wieder einen Moment, dann straffte er in einer entschlossenen Geste die Schultern. »Es ist dir ernst damit, deine Eltern darüber im Unklaren zu lassen, dass du in der Stadt bist, nicht wahr?«
Nael nickte, den Blick immer noch in die Ferne gerichtet. Dann schaute er seinen Freund wieder an. »Es geht nicht anders.«
»Kein Wort, keine Nachricht, die ihren Schmerz ein wenig mildern könnte?«
»Hör auf damit!« Naels Hände ballten sich um die Ruderstange, um sich unter Kontrolle zu halten. »Ich würde nichts lieber tun, als ihnen meine Rückkehr zu verkünden, doch ich darf sie nicht in Gefahr bringen. Hörst du? Ich darf nicht!«
»Na schön. Es sei, wie du sagst. Ich möchte mich nicht mit dir streiten. Wir sind ohnehin schon fast da.«
Nicco holte das Segel ein und sie setzten ihre Fahrt mit dem Ruder fort. Mit einem exakten Manöver bog Nael in den Rio dell´Arsenale ein.
»Nimm die Anlegestelle neben dem Haupttor und lass mich aussteigen.«
Nael tat wie geheißen. Niccolò hob die Hand zu einem kurzen Gruß, dann war er auch schon im Arsenal verschwunden.
Nael sah auf den Boden des Bootes. Er wusste, dass er dem Drang, seine Familie sehen zu wollen, nicht hätte nachgeben dürfen. Was er vorhatte, war im besten Fall unklug, im Schlimmsten gefährlich. Und dennoch war es ihm in Niccolòs Haus mit einem Mal so vorgekommen, als drücke ein monströses Gewicht auf seine Brust, sodass er nicht mehr atmen konnte. Einen Moment lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich Ravena anzuvertrauen. Aber dann konnte er es nicht. Ihre Bürde war schon schwer genug, ohne dass er noch dazu beitrug. Was er natürlich trotzdem tun würde. Schließlich war er im Begriff eine riesige Dummheit zu begehen. Wieder einmal.
Wobei er hoffe, in seiner Verkleidung als wohlhabender, byzantinischer Kaufmann nicht allzu sehr aufzufallen. Getreu seiner Rolle hatte er sich in einen reich mit orientalischen Mustern bestickten Kaftan gehüllt und ein seidenes Turbantuch um den Kopf geschlungen. Wobei der mit Dolch und Krummsäbel bestückte Waffengurt um seine Taille und sein grimmiger Blick den friedlichen Eindruck beinahe wieder zunichtemachten. Aber daran konnte er nichts ändern. Unbewaffnet durch Venedig zu laufen wollte er nicht riskieren.
Nael stieß das Boot vom Ufer ab und begann konzentriert zu rudern. Trotz der frühen Stunde herrschte in der Lagune schon reger Betrieb. Hoch beladene Lastkähne und Fischerboote kreuzten seine Bahn. Auf der Mole beim Palazzo Ducale stapelten sich Körbe und Säcke von den Booten, während die Marktleute ihre Waren auf die Piazzetta schleppten. Die ersten Käufer sammelten sich an den Verkaufsständen und vor den Läden. Der Anblick nagte an ihm. Während seiner Studienzeit hatte er es nie versäumt, sich am ersten Markttag nach seiner Rückkehr unter die frühen Käufer zu mischen, um eine süße Leckerei für Helena zu erstehen, mit der er sie überraschen konnte. Während seiner Zeit als Ruderer hatte er sich mit vielen ungewohnten Umständen abfinden müssen und kaum Gelegenheit gehabt, seinem alten Leben nachzutrauern. Umso mehr setzte ihm jetzt die Erkenntnis zu, wie sehr ihm gerade die kleinen Alltagsfreuden fehlten.
Nael lenkte sein Boot in den Canalezzo und glitt wenig später in einen der verwinkelten Seitenkanäle von San Marco.
Es war ein grauer Morgen und die rechts und links aufragenden Fassaden der Häuser mit ihren Auskragungen, die kaum drei Armlängen über seinem Kopf beinahe zusammenstießen, ließen nur spärliches Tageslicht in den Kanal. Es wurde erst heller, als er unweit der Rialtobrücke wieder in den Canalezzo einbog. Eine fahle Herbstsonne kämpfte sich durch das Grau und ließ Häuser und Brücke in einem beinahe unwirklichen Licht aufleuchten. Nael hatte jedoch keinen Blick für die neue Brücke über den Canal, die bei seinem letzten Besuch noch nicht da gewesen war. Seine Augen suchten in der Reihe der Palazzi nur nach einem bestimmten Gebäude: der Ca´Contarini. Sobald er die Brücke passiert hatte, musste das Haus in sein Sichtfeld kommen und dann würde er …
Halt, dachte er bei sich. Du wirst gar nichts. Vielmehr wirst du am Haus vorbeirudern und es dabei keinesfalls anstarren wie ein Schwachsinniger, der nicht mehr Herr seiner Sinne ist …
Doch kaum das sein Boot unter der Brücke hindurch geglitten war, lenkte er den Kahn auch schon zum nächstbesten Anleger und trat auf die Fondamenta. Erleichterung und bittere Enttäuschung über seine Schwäche rangen in Nael um die Oberhand, aber er zögerte nicht. Es war Jahre her, seit er seine Familie zum letzten Mal gesehen hatte, Jahre, von denen er jedes Einzelne wie ein Salzkorn in einer ohnehin schwärenden Wunde empfunden hatte.
Entschlossen setzte er sich in Bewegung, tauchte ein in das verwinkelte Gassengewirr, das sich hinter den Prachthäusern am Canalezzo entlangzog. Gerade war er in einen Torbogen getreten, von dem aus er den Seiteneingang der Ca´Contarini sehen konnte, als sich die Tür auch schon öffnete und zwei Frauen in Begleitung eines Dieners aus dem Haus traten. Der Diener trug einen Schließkorb bei sich, was nur heißen konnte, dass die Frauen auf dem Weg zum Rialto waren, um Einkäufe auf dem dortigen Markt zu machen.
Nael war zu schockiert, um sich bewegen zu können. Die jüngere der Frauen war Helena, seine kleine Schwester, die andere Dame seine Mutter, Viviana Contarini.
Naels Hände waren feucht und sein Herz raste. Aber er zwang seine Erschütterung zurück, kämpfte darum, sie nicht zu zeigen. Aus seinem Versteck heraus starrte er die fröhlich plaudernden Frauen an, konnte sich nicht sattsehen an den geliebten Gesichtern. Und Helena - Helena! Was für eine bezaubernde Frau aus dem schlaksigen Mädchen geworden war, an das er sich erinnerte. Voller Würde, Heiterkeit, Ruhe. Sie war auch schön, sicher. Aber das war es nicht, was ihn am meisten beeindruckte. Eher etwas anderes, etwas in ihrer Haltung, eine gewisse Selbstbeherrschung und eine Ehrfurcht einflößende Ausstrahlung von Reinheit.
Die Frauen kamen näher und er zog sich noch tiefer in den Schatten des Torbogens zurück. Mit dem Rücken an der Wand lehnend, die Handflächen gegen die raue Oberfläche der Steine gepresst, schloss er die Augen und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Er hätte es besser wissen sollen und niemals hierherkommen dürfen. Nun saß er in der Klemme. Helena war schon immer eine sehr aufmerksame Beobachterin gewesen, der so leicht nichts entging. Während er einige Herzschläge lang unschlüssig dastand, fröstelte er plötzlich in der kalten Morgenluft. Was sollte er tun, wenn sie ihn erkannte?
Er trat die Flucht nach vorne an, verließ den Bogen, schritt kräftig aus und eilte mit gesenktem Kopf an den Frauen vorbei, ohne sie zu beachten. Trotzdem blieb Helena abrupt stehen und drehte sich nach ihm um; eine Bewegung, die er mehr erahnte, als dass er sie tatsächlich sah.
Eilig ging er weiter zur Fondamenta, bestieg Niccos Boot und ruderte davon.
Helena wurde das vage Gefühl nicht los, den Mann zu kennen, der in unziemlicher Hast an ihnen vorbeigeeilt war. Viel hatte sie von seinen Zügen nicht sehen können, da er den Kopf gebeugt hatte, und dunkle Locken in sein Gesicht hingen. Trotzdem war ihr alles an ihm eigenartig vertraut erschienen. Seltsam.
»Mutter? Hast du den Mann gesehen, der gerade an uns vorbeigekommen ist?«
»Sicher, mein Kind. Warum fragst du?«
»Es war mir, als ob ich ihn kennen müsste.«
»Oh. Ich hoffe nicht, dass wir solche Flegel in unserem Bekanntenkreis haben. Grußlos an einer Dame vorbeizustürmen ist ausgesprochen unhöflich.«
Helena verengte die Augen und richtete den Blick auf ihre Mutter. »Sonst ist dir nichts aufgefallen an dem Mann? Nur dass er unhöflich war?«
»Ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst, Helena. Was hätte mir den auffallen sollen?«
»Nichts, Mutter. Schon gut.« Helena seufzte. Es war besser, Viviana nicht mit den Eindrücken zu konfrontieren, die ihr durch den Kopf geschossen waren. Das niederschmetternde Ergebnis ihres jüngsten Versuchs, mit ihrer Mutter über Reni zu sprechen, war ihr eine Lehre gewesen. Er hatte ihr keine neuen Erkenntnisse eingebracht, nur eine Menge unangenehmer Fragen und einen strengen Verweis ihres Vaters.
Viviana studierte ihr Gesicht und in ihren dunklen Augen lag Besorgnis. »Du wirkst … enttäuscht, Tochter. Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein. Natürlich nicht.« Helena rang sich ein Lächeln ab. »Das könntest du gar nicht, liebste Mutter.«
»Das will ich schwer hoffen.«
»Es ist eher das, was du nicht gesagt hast.«
»Sieh an. Sei so gut mir das näher zu erklären, ja?«
»Mutter… ich glaube, der Mann war Reni«, sagte Helena leise.
»Nein.« Viviana hob beide Hände zu einer abwehrenden Geste. Ihr Ausdruck war mit einem Mal abweisend und streng.
Helena verspürte den Drang, die warnenden Anzeichen zu ignorieren, ihre Mutter einfach stehen zu lassen und dem Mann nachzueilen. Doch sie nahm sich zusammen, weil ihr Gefühl ihr sagte, dass es ausgesprochen unklug wäre, Viviana von dem Band aus geflochtenen Lederschnüren zu erzählen, das sie am Handgelenk des Fremden entdeckt hatte. Sie war sich sicher, dieses Muster aus hundert anderen herausfinden zu können, denn sie selbst hatte das Band für ihren Bruder angefertigt. Wie glücklich sie gewesen war, als Reni ihr geschworen hatte, ihr Geschenk niemals abzulegen …
Nun, dieser Schwur lag beinahe sieben Jahre zurück. Inzwischen war sie eine junge Frau, die wusste, dass die Welt nicht der Spielplatz war, den sie als Kind darin gesehen hatte.
Mit einem Seufzen drehte Helena sich zu ihrer Mutter herum. »Wirst du wenigstens erlauben, dass Paolo sich nach dem Mann erkundigt?«
»Dazu besteht kein Anlass«, erklärte Viviana ungerührt. »Ich sage dir, der Mann stammt seiner Kleidung nach zu urteilen nicht aus der Lagune. Was er hier tut, geht uns nichts an. Er hat ein Recht darauf, in Frieden gelassen zu werden. Und jetzt Schluss mit diesem Thema. Ich will nichts mehr davon hören.«