Der Aufschlag verklang und über das Meer legte sich die gewohnte Stille, die nur von dem leisen Plätschern der anlandenden Wellen getragen wurde. Irgendwo schrie ein Rabe und ein Kind lachte in der Ferne. Nicht deutete mehr darauf hin, dass sich hier gerade eine Katastrophe ereignet hatte. Ja, so seltsam es auch war, Rollo empfand Rúnas Sprung wie ein echtes Verhängnis. Unentschieden verharrte er am Strand und starrte hinaus auf die empfindungslose See.
Das Kräuseln der Wellen hatte längst wieder seine übliche Form angenommen. Dann aber veränderte sich der Wasserspiegel. Unweit der Stelle, an der Rúna aufgeschlagen war, stieg ihr heller Körper an die Oberfläche und trieb dann reglos mit den hin und her wogenden Wellen. Schon wollte sich Rollo traurig abwenden, als ihm ein unmöglicher Gedanke kam. Was, wenn sie den Sprung doch überlebt hatte? Sollte sie dann wirklich dort draußen jämmerlich ertrinken?
Der Krieger wusste, dass er wahrscheinlich etwas Unerfüllbares erhoffte. Und ihm war auch klar, worauf er sich einließ, als er sich seiner Kleider entledigte und sich in das eisige Wasser stürzte. Bei Thors Hammer, war das kalt!
Rollo kraulte entschlossen zu dem leblosen Körper, der immer weiter in den Fjord hineintrieb. Gerade kam die Flut und Rúna glitt Alen für Alen von ihm fort. Der Krieger griff kraftvoller aus. Er würde sie retten, egal ob nun tot oder lebend. Das war er zumindest Thorstein schuldig.
Dass er es auch ein wenig für Rúna tat, weil sie ihn insgeheim an Æthelburg erinnerte, gab Rollo nicht einmal vor sich selber zu. Aber letztlich spielten die Beweggründe des Kriegers bei seinem Tun auch keine große Rolle.
Ein kräftiger, letzter Schwimmzug brachte ihn neben den dahintreibenden Frauenkörper. Leise fluchend schob er die langen Haare beiseite, die ihm wie Tang an den Armen klebten und ihn störten, als er sich die Kleine quer über die Brust legte. Sie war ja noch kälter als das Wasser selbst!
Nunmehr auf dem Rücken schwimmend und mit einer nicht unbeachtlichen Last beladen, brauchte Rollo deutlich länger für den Rückweg als vorher zu Rúna. Doch er kam schließlich keuchend und schnaufend am Strand an und zog den leblosen Körper hinter sich her auf den Sand. Die Anstrengung ließ ihn die beißende Kälte des Morgens gar nicht mehr spüren, als er sich über das Mädchen beugte. Er war sich nicht sicher, ob sie noch atmete.
Deshalb beugte er sich näher zu ihr und hielt ein Ohr auf ihren Brustkorb. Bei dem leisen Klopfen, dass von ihrem Herzen ausging, spürte Rollo große Erleichterung. Tatkräftiger nun, drehte er seinen Fang auf den Bauch, um ihr so lange auf den Rücken zu drücken, bis das Wasser aus ihren Lungen herausgepresst wäre. Doch er kam zunächst gar nicht dazu, sein Werk fortzusetzen. Der Anblick von Rúnas Rücken raubte ihm einfach und ohne Vorbereitung den Atem.
Ragnar hatte ihm zwar in wenigen Worten von dem erzählt, was zwischen Thorstein und dem Mädchen vorgefallen war, doch das hier verursachte selbst Rollo Übelkeit. Der Übergriff war noch nicht lang genug her, dass ihre Wunden ganz verheilt gewesen wären. Bei ihrem Aufprall musste sie mit dem Rücken zuerst aufgekommen sein, denn dort, wo die Narben fest und derb gewesen waren, zeigten sich deutliche Einrisse, die weit bis in die Muskulatur hinein reichten. Offenbar verhinderte es nur die erbärmliche Kälte, dass sie blutete.
Rollo rief sich zur Ordnung. Vom Anstarren kam die Kleine auch nicht wieder zu sich! Genau betachtete er noch einmal das Muster der Peitschenspuren auf ihrem Rücken, dann entschied er sich für eine noch relativ unversehrte Stelle, um ihr endlich das Wasser aus der Lunge zu pressen. Zwei, drei Mal drückte der Krieger den Brustkorb der Frau kraftvoll zusammen und sah dabei zuversichtlich, wie sich bei jedem Mal ein ordentlicher Schwapp Meerwasser aus ihrem Mund ergoss. Dann drehte er die junge Frau vorsichtig auf die Seite und begutachtete sein Werk. Und tatsächlich! Der inzwischen von der Kälte bläulich verfärbte Brustkorb hob und senkte sich ein wenig. Der Bruder des Jarl atmete auf. Hier waren seine Kenntnisse doch einmal für etwas gut gewesen.
Er ließ Rúna für den Moment auf der Seite liegen und rannte zu seinen Kleidern. Ohne groß auf die noch an ihm haftende Nässe zu achten, warf er sich die Skjorta über und zog seine Hosen hoch, die sich gegen die rohe Behandlung wehrten, indem sie ihm an den Beinen klebten. Doch Rollo hielt sich nicht mit derartigen Kleinigkeiten auf. Mit einem Blick auf seine Stiefel entschied er, dass diese hier noch eine Weile stehen bleiben konnten. Dann lief er zurück zu Rúna, wickelte sie in seine dicke Kyrtel und hob sie danach auf seine Arme. Einen Moment lang überlegte er, ob er sie gleich zur Völva bringen sollte. Doch die Grubenhütte der Heilerin lag abseits und der Weg dorthin war viel länger als bis zu seinem Haus. Außerdem hatten seine Mägde sicher längst ein Feuer entzündet und bestenfalls gab es auch schon warmes Wasser, um Rúna zu waschen. Ein paar heiße Steine würden es ebenso tun …
Also schritt Rollo schnell aus und brachte die immer noch regungslose Rúna in sein Haus. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, hagelte es Befehle für die Sklavin, seine Magd und die zwei Knechte, die er dort vorfand. Heißes Wasser solle her, verlangte er lautstark, warme Decken, Felle, heiße Steine. Snorre musste das Ersatzpferd Rollos satteln und mit ihm die Völva herholen. Viel zu langsam ginge das alles, ließ er die völlig überraschten Diener dann noch wissen.
Seine Magd hatte sich als erst gefasst. Ja, es war unwirklich, wie sich ihr Herr gerade aufführte. Doch er würde schon seine Gründe haben. Flink eilte sie zu Rollos Lager und kam mit einem Bündel Schaffellen und Decken zurück. Gemeinsam legten sie dann die eiskalte Rúna auf die schützende Wolle. Die Dienerin packte mehrere warme Steine von der Feuerstelle an ihre Seite und ihre Füße und wickelte sie dann in mehrere Decken ein.
Rollo fand sich plötzlich als Zuschauer des Geschehens wieder und es schien gut so zu sein, wie es war. Er griff nach einer Schöpfkelle und nahm sich einen Schluck von dem frischen Minzaufguss, der über dem Feuer köchelte. Inzwischen konnte er die Kälte wieder spüren. Und, verdammt nochmal, sie war ihm in jede Ritze und jede Pore gefahren! Rollo trank und hielt dann beide Hände über das Feuer. Er brauchte neue Kleider und vor allem Schuhwerk. Wieder ließ er seine Untergebenen wissen, wonach es ihm verlangte und bald darauf saß er frisch eingekleidet, gut beschuht und mit einem Becher heißem Met versorgt neben Rúna.
Je länger er die junge Frau betrachtete, um so mehr fiel ihm auf, dass sie immer noch sehr angestrengt atmete. Mit diesem Salzwasser war eben nicht zu spaßen! Vielleicht würde es helfen, wenn ihr Oberkörper ein wenig höher lag? Versuchsweise hob der Mann die junge Frau ein wenig an und setzte sich dann so hinter sie, dass sie an seiner Schulter ruhte. Zufrieden sah er, dass sie gleich viel leichter Luft bekam. So ging das doch! Also orderte er mehr Decken und Felle und polsterte Rúnas Lager so ab, dass sie halb sitzend platziert wurde.
Es dauerte nicht lange und die Völva kam. Auch sie war schon unruhig geworden, denn am Morgen war Thorstein vor ihrer Hütte erschienen. Vollkommen entkräftet hing er mehr auf seiner Stute als dass er auf ihr saß. Solvig hatte er als kleines Bündel an den Sattelknopf gehängt. Als er ihr gestand, dass Rúna am Abend nicht nach Hause gekommen war und er die ganze Nacht wartend verbracht hatte, war auch Jorunn schnell klar gewesen, dass irgendetwas geschehen sein musste. Rúna würde ihn und die Kleine niemals freiwillig so lange alleine lassen. Da war sie sich sicher. Und genau das sagte sie dem völlig aufgelösten Steuermann dann auch.
Sie war zufrieiden, als Thorstein ebenfalls mit einem Unfall oder einem ernsten Problem Rúnas rechnete. Der Mann vertraute seiner schüchternen Gefährtin wirklich. Also versprach ihm Jorunn, sich so schnell wie möglich auf die Suche zu machen. Vorher allerdings zwang sie Thorstein mit freundlicher Gewalt, sich auf ihrem Lager zur Ruhe zu legen. Sie versorgte die kleine Solvig und kochte eine große Portion Haferbrei für Kind und Mann. Gerade als sie Thorstein die erste Schale für die Kleine gereicht hatte, klopfte Rollos Knecht lautstark an ihrer Tür. Rúnas Aufenthaltsort war damit geklärt.
Sie ließ den Mann bei Thorstein zurück. Die beiden würden schon für eine Weile allein mit Solvig klarkommen. Dann ergriff sie ihr Kräuterbündel, schwang sie sich auf Rollos großen braunen Wallach und trieb dem Pferd die Fersen in die Seiten. Es war, als wollte das Schicksal ihre kleine Schülerin um keinen Preis der Welt zur Ruhe kommen lassen.