Ein viertel Mond war eine lange Zeit, um zu genesen, dachte Ragnar, auch wenn ihm bewusst war, dass Santór ihn nur um Haaresbreite von seinem Weg nach Helheimr zurückgeholt hatte. Wenn er das dunkelrote, fast brandige Gewebe ansah, das die Stichwunden in Arm und Schulter nach dieser Zeit umgab, ahnte der Jarl, wie knapp er dem Tod entgangen war. Nur mühsam ließ sich der Ellenbogen beugen und auch seinem Faustschluss fehlte jegliche Kraft. Die wenigen Tage hatten aus dem Jarl einen kraftlosen, schwachen Mann gemacht. Ragnar mochte sich lieber nicht vorstellen, dass der Franke ihm vermutlich wie einem Kind den Hintern hatte putzen müssen, wenn sein Körper die Erleichterung gesucht hatte.
Doch der Heiler schien darüber kein Wort verlieren zu wollen und so ließ es Ragnar geschehen, dass der Mann ihn in den folgenden drei Tagen wie ein Kind fütterte und ihn wusch und bettete. Zum Glück war jemand auf die gewitzte Idee gekommen, einen ausgehöhlten Kürbis neben das Bett zu legen, in den er sein Wasser abschlagen konnte. Alles andere wäre auch zu peinlich und unwürdig gewesen.
Horik kam am vierten Tag vorbei und versuchte, sich seinen Schrecken beim Anblick des Kranken nicht anmerken zu lassen. Er reichte Ragnar persönlich sein Trinkhorn und ließ ihn von dem kühlen Heiðabýrer Met kosten.
„Mach, dass du schnell wieder zu Kräften kommst“, befahl er dem Jarl. Grinsend fügte er hinzu: „Du hast mir ein Ehrenfest versprochen! Das habe ich nicht vergessen. Auch wenn Arngrim sehr dreist zum Aufbruch drängt, werde ich warten, bis wir gemeinsam nach Straumfjorður segeln können. Also stärke dich, mein Freund, damit wir bald gemeinsam an deiner Tafel sitzen und unseren Sieg genießen können.“
Dann wandte sich Horik dem fränkischen Heiler zu. „Du aber hast deine Arbeit gut gemacht! Das erkenne ich an, auch wenn ich es dir am Anfang nicht zugetraut habe.“ Der König räusperte sich. „Ich werde dich heute Abend vor Zeugen von deinem Sklavenstand freisprechen. Doch ich erwarte, dass du so lange für den Jarl sorgst, bis er wieder auf seinen eigenen Beinen stehen kann. Dann erst magst du gehen, wohin deine Wünsche dich führen. Möge Thor dich auf allen deinen Wegen schützen.“
Der kurze Besuch des Königs hatte den Jarl bereits wieder sehr erschöpft. Dennoch schaffte er es, Santór höflich die Hand zu drücken. „Ich gratuliere dir zu deinem Freispruch vom Sklavenstand“, versicherte er dem Franken freundlich. „Sicher ist dir klar, wie viel es bedeutet, ein freier Mann zu sein.“
Santór lachte bitter auf. „Frei mag ich damit schneller wieder sein, als ich es je hoffen konnte. Doch meine Heimat liegt weit entfernt im Süden. Kaum ein Schiff wird dieses Jahr noch einmal nach Naoned segeln. Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als einen Winter in Heiðabýr zu verbringen. Doch was für eine Arbeit ich hier finden kann, nach allem, was war …“ Der Franke schüttelte nachdenklich den Kopf. In wieweit er aus seinem Freispruch Nutzen ziehen konnte, war trotz allem sehr ungewiss.
Ragnar schwieg zu diesen unausgesprochenen Fragen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Ob er Santór helfen wollte und welches Angebot er dem Heiler machen konnte, wusste er noch nicht. Doch es gab andere Fragen, die ihm heftiger unter den Nägeln brannten: Was war aus Arngrims Mann geworden? Hatte der seinen Auftraggeber verraten, wenn es denn tatsächlich ihr Nachbar gewesen war, der einen Meuchler auf ihn angesetzt hatte … Und welche Pläne konnte Arngrim verfolgen, nun, da sein Ziel, Ragnar hinterrücks zu töten, fehlgeschlagen war?
Der Jarl versuchte, sich zu konzentrieren und nachzudenken. Doch die Bedürfnisse seines Körpers waren stärker als sein Geist. Noch bevor er alle seine Überlegungen beendet hatte, war er schon wieder eingeschlafen.
Santór ließ den Jarl schlafen. Er wusste, dass dessen Körper zur Erholung vor allem Ruhe brauchte. Am besten wäre es, wenn dieser Schlaf bis zum Abend dauern würde. Nur so konnte Ragnar Kraft schöpfen.
Daher war der Franke recht ungehalten, als am frühen Nachmittag Lärm in der Siedlung aufbrandete. Ungehaltene Stimmen dröhnten durch die Häuserreihen. Fragende Rufe wurden laut und auf dem Marktplatz schienen sich die Bewohner zu versammeln. Hier und da wurde erregt miteinander gestritten. Doch wovon die Nordländer so aufgebracht waren, verstand der Franke nicht.
Auch Ragnar wurde von dem allgemeinen Gezeter vor seinem Haus wach. Anders als Santór hörte er jedoch schnell aus den lauten Gesprächen heraus, was vorgefallen war : Der Mann, der Ragnar angegriffen hatte, war tot.
Leise fluchte der Jarl, als er begriff, dass es nun niemanden mehr gab, der sagen konnte, wessen Gold geflossen war, um ihn zu töten. Vielleicht war der Mann wirklich von Arngrim bezahlt worden, vielleicht war auch ein anderer der Spender des Blutgeldes gewesen, dass man bei dem Gefangenen im Gürtel gefunden hatte. Sicher konnte er nicht sein.
„Geh und versuche herauszufinden, was da los ist“, bat er Santór. „Finde heraus, wie der Mann zu Tode kam und, wenn man das weiß, durch wen.“
Der Franke sah Ragnar fragend an. „Wer ist tot, Jarl Ragnar? Wirklich viel habe ich aus dem wirren Durcheinander nicht heraushören können.“ Er lachte leise. „Sie sprechen zu schnell!“
Ragnar grinste nun auch. „Für einen Franken verstehst du uns ganz gut, nicht wahr?“, lobte er die Sprachkenntnisse des Heilers. „Für einen Reisenden ist das mehr als genug.“ Er wurde wieder ernst. „Doch die Leute der Siedlung sind über den Tod des Mannes erbost, der mich angegriffen hat. Er wurde leblos in der Hütte gefunden, in der man ihn am Hafen eingesperrt hatte. Aber ich konnte bisher nicht heraushören, wie er gestorben ist. Hat er sich also selbst umgebracht oder wurde er getötet? Das wäre für mich zweifellos wichtig zu wissen. Sei so gut, Santór, und finde es für mich heraus.“
Der Franke verstand, dass der Jarl in dieser wichtigen Frage Klarheit brauchte. Also nickte er höflich. „Ich werde tun, was ich kann.“ Er stellte Ragnar noch einen Becher mit Weidenrindentee bereit. Denn verließ er das Haus und machte sich daran, Nachforschungen anzustellen.
Ragnar aber lehnte sich unzufrieden zurück in die Felle. Der Wirrwarr um Arngrim und seine geheimen Machtansprüche nahm und nahm kein Ende.