Während sich Ragnar in Heiðabýr in Geduld üben musste, da über den Tod seines Gegners nur wenig herauszufinden war, fand das Leben auf dem Moorseehof zurück in einen gewohnten Rhythmus. Die Bedürfnisse von Menschen und Tieren schrieben den Tagesablauf vor. Arbeiten wurden wie immer nach ihrer Dringlichkeit erledigt und daneben gab es die Abendstunden, in denen die Hofbewohner sich zusammenfanden und ihre verdiente freie Zeit genossen. Geschichten wurden erzählt, Spiele gespielt und Rätsel geraten. Dabei dauerte es nicht allzu lange, bis auch der fremde junge Mann aus dem Frankenland vorsichtig in den Kreis der Gemeinschaft aufgenommen wurde.
Rúna war es gelungen, dessen Bauchwunde zum Abheilen zu bringen. Die Natur hatte mitgeholfen und so war Hademund oder „Linnet“, wie ihn Thorstein weiterhin scherzhaft nannte, wieder zu Kräften gekommen. Bald hatte sich herausgestellt, dass der junge Mann zwar kein herausragender Kämpfer, aber ein ganz passabler Handwerker war. Obwohl man ihm keine Werkzeuge anvertrauen konnte, die er als Waffe hätte benutzen können, gab es doch genug zu tun, um den Franken zu beschäftigen. Besonders Teitr war mit dem Jungen zufrieden. Derzeit betätigten sich beide als Seilmacher und Linnet zeiget sich dabei anstellig und geschickt.
Dennoch stand dessen ungeklärte Zukunft wie eine dunkle Wolke über der unbeschwerten Zeit. Und Thorstein wurde immer klarer, dass der junge Franke kaum als Mann bezeichnet werden konnte. Dreizehn Jahre zähle er, hatte er dem Steuermann berichtet, und dass ihn sein Lehensherr vor drei Jahren als Knappe zu dem Frankenritter gegeben habe – als Teil einer Ausbildung, an deren Ende er selbst zum Ritter hätte geschlagen werden sollen.
Dreizehn Jahre – Thorstein hatte mehrfach über diese Zahl gegrübelt. Dreizehn! Wer war man schon in einem solch jungen Alter? Und wenn man wie Linnet einem Krieger diente – wieviel Entscheidungsfreiheit hatte man da überhaupt?
Der Steuermann ahnte, dass Ragnar und Horik nicht zögern würden, auch den Jungen zu töten, wenn man Arngrims Hinterhalt vor dem König aufdeckte. Doch ob das wirklich gerecht war?
„Du solltest dem Jungen keine Hoffnungen machen, die du vielleicht nicht erfüllen kannst“, warnte Teitr seinen Freund nachdrücklich. „Mag sein, Ragnar lässt zu, dass du ihn als Sklaven auf dem Hof behältst, nun, da Rúna ihn gesundgepflegt hat. Aber wenn er Dänen töten muss, wird er auch vor Franken nicht zurückschrecken. Es ist nicht richtig, vor ihm von Zukunft zu sprechen.“
Thorstein spuckte resigniert aus und nickte dann. „Ich weiß!“, knurrte er unzufrieden. „Und es fuchst mich unglaublich! An dieser ganzen Öde ist allein Arngrim schuld. Warum hat er diese Ritter angeschleppt und konnte seine Gier nicht beherrschen?“
Die Ungeheuerlichkeit, dass ein Jarl den anderen hinterrücks angriff, während dieser seinem Dienst am König folgte, war eine Art des Kampfes, die ihnen beiden widerstrebte. Mut und Ehre konnten die Freunde nicht dahinter erkennen. Dass nun auch Linnet unter Arngrims Tun leiden würde, verursachte ihnen ein schmerzliches Gefühl, das keiner der beiden erklären konnte. Ja, Linnet gehörte zu den Feinden. Doch er war kein starker Mann, war fast noch ein Kind. Und sie kamen sich ein wenig schäbig vor, ihm keinen Ausweg aus seiner Lage zeigen zu können.
Doch weder Thorsteins Zähneknirschen noch Teitrs unterdrücktes Fluchen halfen ihnen, eine Lösung zu finden.
So vergingen einige Tage, die die Freunde sehr grüblerisch verbrachten und keine Idee hatten, wie es mit Linnet weitergehen sollte.
Teitr und er beschäftigten sich weiterhin mit der Herstellung von Hanfseilen. Katla und Rúna schlossen sich den beiden an, indem sie mit Solvig ebenfalls auf den Hof kamen und den gerösteten Hanf hechelten und zu Garn spannen. Rúna hatte Gefallen an den lustigen Liedern von Glókolla und Lathgertha gefunden und lockte ihre Magd, mit ihr zu singen. Solvig saß auf einem alten Schafsfell und kaute zufrieden an einem Brotkanten.
Am anderen Ende des Hofes ging es weniger friedlich zu. Thorsteins Hirten hatten die Kühe zum Hof getrieben, um den im Frühjahr geborenen Kälbern und einigen Färsen und Stieren dessen Brandzeichen aufzudrücken. Protestierendes Muhen und aufmunternde Rufe schallten bis zu den Frauen und ließ die Bäuerin mehr als einmal aufschauen und ihren Mann bewundernd anstarren.
Thorstein, dem ihre Blicke nicht entgingen, grinste still.
Es gefiel ihm, wie Rúna ihn betrachtete. Sie war selbstbewusster geworden, offener. Mutig! Wenn er es recht betrachtete, war sie aber schon immer mutig gewesen. Die Gedanken des Steuermannes reisten zurück zu ihrer ersten Begegnung. Schon auf der Ragnarsúð hatte sie Mut bewiesen, wehrhaft war sie gewesen …
Thorstein ließ seinen Erinnerungen freien Lauf. Die Ablenkung von den Sorgen der Gegenwart tat gut.
Vielleicht war es Zufall, vielleicht lag es aber auch an den geheimnisvoll verwobenen Schicksalsfäden der Nornen, dass ein begehrlicher Blick Rúnas Thorstein so sehr ablenkte, dass er zu spät bemerkte, wie sich einer der Stiere so kraftvoll gegen das Aufbringen des Brandzeichens wehrte, dass er seinem Treiber entkam.
Das schmerzleidende Tier warf sich mit aller Gewalt gegen den Führstrick, der mehrfach um seine Hörner geschlungen war und riss den Mann am anderen Ende des Seils um, als es unkontrolliert losraste – direkt auf die Gruppe der Frauen und der Seilmacher zu.
Mit einem Fluch versuchte Thorstein, das Seil zu ergreifen oder den Stier irgendwie zurückzuhalten, doch er erreichte das tobende Tier nicht mehr. Hufe donnerten, Staub wirbelte auf.
Katla und Rúna saßen reglos vor Schreck und starrten der herannahenden Gefahr hilflos entgegen. Solvig kaute ungerührt weiter auf ihrem Brot – niemand schien zu bemerken, dass sie direkt im Weg des tobenden Rindes saß …
Teitr und Hademund reagierten als erste. Obwohl Teitr näher an dem Tier stand als der Franke, war ihm sein steifes Bein wieder einmal im Wege. So blieb nur Linnet.
Und der junge Mann tat sein Bestes und wuchs weit über sich hinaus. Mit einem wilden Schrei griff er nach seinem Hemd, dass er achtlos über einen Pfahl geworfen hatte, winkte damit heftig hin und her und sprang in den Weg des flüchtenden Stieres, direkt vor Solvig, die in diesem Moment zu schreien anfing.
„Du Biest! Du Biest! Weg da!“, schrei der junge Mann das Rind an. Und tatsächlich wurde der Stier langsamer und wich dann zur Seite hin aus. Der herumwedelnde, laute Mensch verwirrte ihn. Besser, er kam ihm nicht zu nahe.
Unsicher, wohin er sich nun wenden solle, wurde der Stier etwas langsamer und schwenkte dann an der Einfriedung des Hofes herum, um dem Verlauf der Mauer zu folgen. Um die Gefahr endgültig abzuwenden, riss einer der Knechte das Tor weit auf und der Stier nutzte die Gelegenheit zu entkommen. Er stob ins Freie und blieb nach einem weiteren Lauf schließlich stehen. Noch einmal wandte er sich dem Hof zu, als wolle er sich überzeugen, weit genug weg von seinen Peinigern zu sein, dann siegte der Appetit und das Tier begann zu grasen.