Ragnar war kein Narr. Keinen Moment lang glaubte er, dass sich sein Angreifer selbst das Leben genommen hatte. Es mochte ja angehen, dass der Gürtel um den Hals des Toten tatsächlich dessen Eigentum gewesen war … Doch was bedeutete das schon? Lag es nicht eher auf der Hand, dass jemandem daran gelegen war, dass die Wahrheit nicht ans Licht kam?
Santór verzog nur ein wenig die Lippen, als er Ragnars Reaktion auf seinen Bericht anhörte.
»Ihr seid ein kluger Mann, Jarl Ragnar«, brummte der Mann aus Naoned. »Wer könnte einen Mannesleggo gegen Euch gehetzt haben? Wer zöge aus Eurem Tod Nutzen?«
Ragnar lachte bitter. »Ich weiß sehr genau, wer es auf mein Heim und meinen Stand abgesehen hat«, bestätigte er, was sich Santór schon gedacht hatte. »Doch trotz des offensichtlichen Angriffs dieses bezahlten Meuchlers werde ich es noch nicht beweisen können.«
Der Jarl sah den Franken nachdenklich an. »Ich muss Geduld aufbringen und dafür sorgen, dass Arngrim mit mir gemeinsam in Straumfjorður eintrifft. Dann wird seine Schuld offensichtlich sein.«
Santór strich sich nachdenklich über den Bart. »Glaubt Ihr nicht, dass euer Feind es erneut versuchen wird, Euch zu töten?«
»Möglich! Doch ich muss es wohl darauf ankommen lassen …«
»Angenommen, der Mann versucht wieder, Euch anzugreifen«, murmelte der Heiler nachdenklich. »Dann solltet ihr so viele verlässliche Männer um Euch haben, wie Ihr nur könnt …«
Ragnar nickte stumm.
»Ich könnte so ein Mann sein!«, ergänzte Santór.
Der Jarl hob erstaunt den Blick, der vorher nachdenklich auf seine Hände gerichtet gewesen war. »Ihr, Santór?«, forschte er erstaunt nach. »Dann würdet Ihr Euch noch weiter von Eurer Heimat entfernen, als Ihr es jetzt schon seid. Warum solltet Ihr das wünschen?«
Der Heiler sah nachdenklich zu Boden. Ganz offensichtlich war ihm bei dieser Frage nicht wohl. »Seht mich doch an, Jarl Ragnar«, entgegnete er dann leise. »Alles, was ich noch besitze, sind diese Lumpen auf meinem Leib und das Wissen in meinem Kopf. Nicht viel, um damit einen Weg nach Hause zu finden. Alle meine Besitztümer – wenn man meine Waren so nennen möchte – sind mit dem Segler vor Gent untergegangen. Ich stehe hier mit leeren Händen und leerem Magen und vermag kaum zu sagen, wie ich hier in Heiðabýr über den Winter kommen soll. Was schadet es da, noch ein wenig weiter nach Norden zu gehen? Vielleicht kann ich euch von Nutzen sein. Oder in eurer Siedlung ein besseres Auskommen finden als hier. Mag sein, ihr könnt einen Heiler nicht nur hier gebrauchen.« Santór seufzte. »Und möglicherweise wird es ja im nächsten oder übernächsten Jahr eine Fahrt Richtung Süden geben, der ich mich anschließen kann.«
Ragnar schwieg und dachte über das Gehörte nach. Vielleicht war es vernünftig, neben Jorrun noch einen zweiten Heilkundigen in Straumfjorður zu haben. Damit würde er die Macht der Völva ein wenig eingrenzen, die ihm bedrohlich gewachsen erschien. Und möglicherweise konnte er Santór zu einem Berater machen. Über die Franken musste der Mann aus Naomed wesentlich mehr wissen als alle Nordländer, die er hätte befragen können. Außerdem war der Mann vor ihm wirklich bettelarm. Er konnte ihm nicht gefährlich werden. Im Gegenteil, wenn er Santór jetzt unterstützte, konnte er vermutlich einen treuen Gefolgsmann aus ihm machen. Einen Versuch war es jedenfalls wert, dachte Ragar.
»Also gut«, stimmte der Jarl schließlich zu. »Versuchen wir es miteinander. Sobald es geht, werden Horik und seine Mannen aufbrechen. Den König treibt es, nach Hause zurückzukehren und seinen Sieg zu feiern. Und auch ich wünsche mir nichts sehnlicher, als Straumfjorður wiederzusehen und mich zu versichern, dass mein Volk und mein Land keinen Schaden durch Arngrim genommen hat. Wenn du mir also nach Norden folgen willst, so bist du willkommen.«
Später am Tag gab der Jarl Anweisung an seine Männer, dass der Heiler aus dem Süden für die Schiffsreise eine ordentliche Ausrüstung bekam und man ihm zumindest ein taugliches Messer und ein paar Dirhem aushändigte. Somit war Santór nun auch äußerlich zu einem freien Mann geworden. Der aufrechte Gang des Heilers und der stille Stolz in dessen Blick bestätigten die Wandlung des fränkischen Sklaven zu einem Mann des Jarls. Ragnar war mit seiner Entscheidung zufrieden.
Dennoch vergingen noch fünf Tage, bis der Tross um den König bereit war aufzubrechen. Ragnar hatte sich inzwischen soweit erholt, dass er ohne Hilfe und aufrecht seine Súð besteigen konnte. Während der Ausfahrt aus dem Hafen nahm er wie selbstverständlich den Platz am Steven ein. Doch sobald der Hafen außer Sicht war, bettete er sich in die Felle, die man für ihn vorbereitet hatte. Der Wundbrand hatte ihm übel zugesetzt.
Wetter und Wind meinten es gut mit den Reisenden und so verlief ihr Weg nach Norden zügig und reibungslos.