»Ta ikkje meir enn du orkar å bere «, brummte Teitr missmutig, nachdem Thorstein ihm seine Gedanken unterbreitet hatte. »Ich verstehe, dass du dich Hademund gegenüber in der Pflicht fühlst und auch mir gefällt es nicht, dass gerade der Franke den Stier zurückgehalten hat … Dennoch darfst du nicht vergessen, dass er zu unseren Feinden gehört. Er war dabei, als Arngrims Männer unser Straumfjorður überfallen haben. Niemand außer Ragnar kann ihn von dieser Schuld freisprechen. Und dass der Jarl so etwas tut, glaubst selbst du nicht!«
Thorsteins alter Vormann kratzte sich das Kinn.
»Ich vermute, ich kann dich nicht abbringen, ihn darum zu bitten. Und – ganz ehrlich – ich würde es auch versuchen. Doch er wird Hademund nicht freisprechen. Nach allem, was die Bande geplant hatte, wäre das auch schwächlich. Also lass nicht zu, dass Fe erneut Zwist zwischen euch schürt.«
Thorstein seufzte. »Ich weiß, dass du nicht unrecht hast. Dennoch! Hademund ist noch ein Junge, ein Diener eines fremden Herrn. Kann man aber den Diener für die Vergehen seines Herrn schuldig sprechen? Müssen nicht auch wir unseren Herren folgen, muss nicht sogar Ragnar einem Herrn dienen, selbst wenn dieser Herr unser König ist? Haben nicht auch wir darin keine andere Wahl?«
Der Steuermann hatte bereits einige Tage über die scheinbar ausweglose Situation gegrübelt und keine Lösung gefunden. Hademund hatte Solvig gerettet. Nach dem ungeschriebenen Gesetz des Nordens stand Thorstein nun bei ihm in einer Blutschuld, die aus seiner Sicht noch mehr als den Schutz des Jungen bedeuten sollte. Doch Hademund war auch ein Gefangener. Er gehörte zu jenen Räubern, die sie auf die Höfe verteilt worden waren, weil sie keine Möglichkeit gefunden hatten, sie über längere Zeit in der Siedlung festzuhalten. Thorstein stand vor einem unlösbaren Widerspruch. So gern er für Hademunds Zukunft gesorgt hätte, so wenige Mittel gab es.
Teitr seufzte. Thorsteins Ehrgefühl war einer der Gründe, die dazu geführt hatten, dass er seine Tage auf dessen Hof verbrachte. Ganz tief in seinem Inneren war der Steuermann ein Mensch, der nach dem Sinn des Lebens und nach Antworten auf die Fragen nach den Göttern und deren Zielen suchte. Ihn konnte man nicht mit scheinbar weisen Sprüchen abspeisen. Thorstein suchte nach Recht und nach Logik ─ etwas, das die wenigsten Männer in Ragnars Gefolge ernst nahmen.
Der alte Mann wusste, dass sich sein Freund immer weiter mit der Unlösbarkeit seines Problems quälen würde. Er wusste, dass der Steuermann nichts unversucht lassen würde, Hademund vor einem unwürdigen Tod zu retten. Doch ebenso war Teitr klar, dass Ragnar nicht mit sich handeln lassen würde. Die Macht der Jarls war bedroht worden und keiner, der sich dabei schuldig gemacht hatte, würde straffrei ausgehen.
Es gab nichts, was er Thorstein hätte raten können.
Teitr grübelte tagelang. Dann kam ihm ein Zufall zu Hilfe. Die Hirten des Steuermanns hatten ihre Schafherden weit in die Hügel getrieben, wo das Gras auch im Sommer grün und frisch war. Auf dem Weg dorthin war ihnen ein Rudel Wölfe begegnet. Obwohl die Hunde gut geschult waren und sich mutig zur Wehr setzten, wurden nicht nur zwei Schafe gerissen, sondern auch einer der zotteligen Hirtenhunde wurde schwer verletzt und musste getötet werden. Die Hirten schickten einen Jungen zum Hof, um Hilfe bei der Jagd auf die Räuber zu erbitten. Thorstein folgte mit einem Großteil seiner Männer diesem Wunsch, sodass der Moorseehof plötzlich recht still und leer erschien.
Wölfe waren gefährlich und die Unternehmung brachte auch Teitr zum Grübeln. Wenn ein Wolf einen Mann angriff, konnte dieser im schlimmsten Fall seinen Verletzungen erliegen. Für eine große Gruppe wie die Jäger bestand keine Gefahr, für einen Einzelnen aber …
›Ein Einzelner …‹ Teitrs Gedanken verharrten an diesem Wort. Wenn ein einzelner Mann in die Wildnis ging, konnte viel geschehen. Er ging weg und wurde unter Umständen nie mehr gesehen. Vielleicht fand man nach einem Wolfsangriff nicht einmal die Leiche. Es konnte doch gut sein, dass nur ein paar blutige Kleidungsfetzen auf den Verbleib des Opfers hindeuteten, dazu eine Blutlache, eine Schleifspur … Der Alte spann die Idee weiter und weiter. Wenn ein junger Mann sich für ein oder zwei Jahre auf Wanderschaft begab, wurde er danach kaum wiedererkannt. Wenn Hademund also für eine Weile verschwand, quasi als Wolfsopfer galt, würde niemand an Thorsteins Loyalität zweifeln. Kam der junge Mann dann im nächsten oder übernächsten Jahr unauffällig zurück, am besten mit einem neuen Namen und einer Geschichte für neugierige Ohren, erinnerte sicher nichts mehr daran, dass er ein Franke gewesen war. Noch war sich Teitr nicht sicher, wohin er den Jungen schicken würde, doch es eilte auch nicht mit einer Entscheidung. Bis zum Herbst konnte er das verlassene Lager im Moor bewohnen und jagen. Dort würde ihn niemand finden. Auch wenn es einsam im Moor war und nicht ungefährlich, war ein Leben wie dieses allemal besser als ein gewaltsamer Tod.
Am nächsten Morgen beschloss der Alte, mit Hademund seine Pläne zu besprechen. Er würde den Jungen für einige Reparaturen an seiner Hütte mitzunehmen. Dort waren sie ungestört und er konnte erklären, was den Jüngeren erwartete, wenn er auf dem Hof blieb. Dass es nicht Thorsteins Schuld war, wenn der Jarl keine Gnade walten ließ, durfte der Franke ruhig wissen.
Also suchte er den jungen Mann, belud mit ihm einen Karren mit Planken und Werkzeug und gemeinsam fuhren sie zu Teitrs Hütte, die ein wenig abseits gelegen war. Schon auf dem Weg dorthin weihte Teitr Hademund in seine Pläne ein.
»Ragnar, unser Jarl, ist kein duldsamer Herr«, ließ er den Jungen zu guter Letzt wissen. »Der Überfall auf Straumfjorður hat ihn arg getroffen. Wenn er zurückkommt, wird er dafür Blut sehen wollen. Wenn er dann vermutlich sogar Männer seiner eigenen Abstammung töten lässt, wird er sich über euch Franken keine großen Gedanken machen. Solltest du dann noch hier sein, wirst du sterben, ganz egal, wie viele von uns für dich sprechen.«
Der Alte seufzte. »Thorstein würde versuchen, dich zu retten. Da bin ich mir sicher. Doch selbst er hat nicht genug Macht, gegen den Jarl zu sprechen und Erfolg zu haben. Es wäre am sichersten, wenn du von hier wegläufst. Im Moor kannst du dich versteckt halten. Ich würde dir Nahrung bringen und dich auf dem Laufenden halten. Vielleicht kannst du auch weiter im Süden unterkommen. Dort schert sich niemand um unsere Nachbarschaftsstreitereien. Man munkelt sogar, dass sich dort einige zum Christentum bekennen.« Teitr brummte abfällig. »Was völlig verrückt ist, wenn du mich fragst. Doch du könntest dort überleben und eine Zukunft haben. Das ist besser, als durch eine Streitaxt zu sterben.«
Hademund schwieg lange und bedachte das Gehörte. Er zitterte. Dann senkte er den Kopf. »Ich hatte heimlich gehofft, dass ich auf eurem Hof bleiben könnte, und sei es auch nur als Sklave. Doch wenn Flucht der einzige Weg ist …« Er schluckte mehrmals. Dann stammelte er: »Wenn ich also fliehen muss, um zu überleben, dann werde ich es tun.«
Als Thorstein mit seinen Männern drei Tage später von seiner erfolgreichen Jagd zurückkam, musste er hören, dass der Junge verschwunden war. Teitr, der sich auf die Suche nach dem Entflohenen gemacht hatte, konnte nur ein zerrissenes blutiges Wams vorweisen, wie es der Gefangene getragen hatte. Er beschrieb eine große Blutlache und eine Spur, die ins dichte Unterholz geführt hatte. Wolfsabdrücke! Die Männer fluchten ein wenig und schüttelten zornig die abgezogenen Felle ihrer Beute. Doch was sollte man machen? Ein einzelner Mann konnte den Angriff eines Rudels nicht überleben, wenn er nicht ein erfahrener Jäger war. So war das nun einmal. Die Nornen spannen ihre Lebensfäden und manchmal schnitten sie sie auch vor der Zeit ab. Jammern half das wenig. Selbst Ragnar musste das einsehen, wenn er von der Leidang zurückkam. Was hoffentlich bald geschehen würde.
Bis dahin würde der Steuermann seine Runa trösten, die um den jungen Franken trauerte. Sie würden sich seiner erinnern. Das nahm sich Thorstein vor, wann immer ihm seine kleine Solvig in die Arme schloss.
„Ta ikkje meir enn du orkar å bere"—Nimm nicht mehr, als du tragen kannst.