"Ich liebe Rúna"
Viel mehr hatte die junge Frau in Thorsteins Armen nicht von den Reden der drei Menschen um sie herum mitbekommen. Auch wenn sie nicht verstanden hatte, wieso ihr Steuermann nach allem, was geschehen war, noch so für sie empfinden konnte, war dieser kleine Satz doch Balsam auf die Wunden, die ihr Ragnar in der vergangenen Nacht beigebracht hatte.
Noch immer hatte sie das Gefühl, den großen, schweren und nach Bier und Met stinkenden Männerkörper auf sich zu spüren - die rohe Gewalt, mit der er sich etwas angeeignet hatte, was sie ihm nicht geben wollte … die tastenden, viel zu wissenden Hände, die sie in eine Ekstase gezwungen hatten, die nicht hätte möglich sein dürfen …
Auch viel später an jenem Tag schüttelte es Rúna immer noch voller Ekel, wenn sie in ihren Gedanken zur vergangenen Nacht zurückkehrte. Und Thorstein, Thorstein, der immer noch mit seiner beruhigenden Größe und Ruhe neben ihr lag - er ahnte ja nicht, wie sehr sie auch sich selbst verabscheute, dass sie diesen Moment zugelassen hatte. Vielleicht, wenn sie Ragnar nicht das gegeben hätte, worauf er ganz offensichtlich so dringend aus war - vielleicht wäre sie dann nicht auf die Klippen gegangen. So aber …
Rúna rückte ein wenig von ihrem Krieger ab. Sie musste mit ihm darüber reden, musste zu ihm ehrlich sein. Mehr als jeder andere Mensch, den sie je gekannt hatte, war der Steuermann immer aufrichtig zu ihr gewesen. Und auch, wenn sie ihm nicht den Namen des Jarl nennen konnte, sollte nicht noch mehr Schweigen und Lüge zwischen ihnen stehen. Rúna war froh, dass eine der Dienerinnen Rollos ihre kleine Solvig mit ins Freie genommen hatte. So konnte sie mit Thorstein frei sprechen, ohne, dass er nach ihrer Offenbarung wegen dem Kind bleiben musste.
Rúna rückte weiter zu der Wand in ihrem Rücken. Unter dem aufmerksamem Blick ihres Gefährten zog sie sich dann in eine sitzende Haltung, ihr Knie fest von beiden Armen umschlungen. Eine sanfte Berührung ihres Armes, ließ sie ihren Blick dorthin richten. Thorsteins Hand streichelte sie weich. "Geht es, Rúna?", forschte seine leise Stimme.
Die junge Frau schüttelte traurig den Kopf. Schon wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. Wie viel konnte ein Mensch eigentlich weinen, bis dieses Wasser endlich aufgebraucht war? Sie hasste es schwach zu sein. Viel zu oft war sie schon schwach gewesen, hatte nicht die Stärke und die Kraft gehabt, die sie sich eigentlich wünschte…
"Ich … es …" Rúna schniefte und wandte ihren Blick von Thorsteins streichelnder Hand ab. Es war einfacher, die Felle zu betrachten, auf denen sie saß, als sich über die Bedeutung dieser einfachen Zärtlichkeit klarzuwerden. Wenn sie zu sehr an Thorstein dachte, würde sie hier gleich gar nicht mehr reden können. Schon würgte das heruntergeschluckte Schluchzen sie schmerzhaft in der Kehle.
"Dieser Mann …", begann sie leise und Thorstein war klug genug, sie nicht zu stören, als sie endlich anfing, ihm von der letzten Nacht zu erzählen. Die Worte blieben dürr und emotionslos und doch sagten sie dem Steuermann alles, was er wissen musste. Dann, als sie ihm zitternd gestand, dass ihr Körper auf seine fordernden Berührungen reagiert und ihren Verstand und ihre Seele damit verraten hatte, verstand Thorstein auch, was Rúna auf die Klippen getrieben haben musste. Wenn er je herausbekam, wer dieses Tier gewesen war, das seine schöne, schüchterne, liebevolle Gefährtin so gequält und gedemütigt hatte, er würde es ihn doppelt und dreifach spüren lassen.
Jetzt aber musste er Rúna helfen, auch wenn er kaum wusste, wie.
"Das war das Schlimmste, nicht wahr?", vermutete er leise. "Dass er diese Macht über deinen Körper hatte." Rúna nickte still und konnte ihm erneut nicht in die Augen sehen. Ihr Scham war beinahe mit Händen greifbar und Thorstein seufzte. Egal, was er jetzt sagte, kein Wort der Welt konnte sofort wiedergutmachen, was diese Nacht in Rúna zerstört hatte. Falls überhaupt, würde es lange dauern, bis er seine Geliebte auch nur annähernd so wiedersah, wie er sie gestern Abend ausgeschickt hatte.
Der Krieger ließ seine Hand nun auf ihrer ruhen und übte einen leichten Druck darauf aus. Sie sollte sich seiner Nähe bewusst werden, wenn er jetzt eine Antwort versuchte. "Man kann Menschen auf viele verschiedene Arten verletzen", ließ er sie leise wissen. "Dass dieser Kerl dich auf diese Weise unterworfen hat, bedeutet aber nur, dass er deinen Körper zu einer ganz unausweichlichen Reaktion zwingen konnte. Keine Frau hätte darauf anders reagiert … Es bedeutet doch nicht, dass es dir deshalb gefallen hat, dass er dir deshalb weniger weh getan hat. Es bedeutet nicht, dass du deshalb weniger zu mir gehörst."
Thorstein beobachtete aufmerksam die Reaktionen seiner Gefährtin. Dann, als sie so gar nicht auf seine Worte einging und immer noch einsam und wie verloren mit gesenktem Blick an die Wand gelehnt dasaß, schob er seine Rechte vorsichtig unter ihr Kinn und hob ihren Kopf so weit an, dass sie ihn ansehen musste.
"Und du willst doch auch zu mir gehören, Rúna. Das weiß ich!"
Das ungläubige Staunen in ihrem Blick bei seiner unbeirrten Rede ging Thorstein unter die Haut. Noch immer war sich seine Gefährtin unsicher, wenn es um ihn ging. Doch konnte man ihr das verübeln, nach allem, was gewesen war? Der Krieger beschloss, dass er erst einmal genug gesagt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte er sich nun ebenfalls auf, nahm die Hauswand als Stütze und zog Rúna an sich. "Wir werden auch das schaffen", flüsterte er leise in ihr Haar. "Du und ich, Rúna. Wir haben eine gemeinsame Zukunft. Das weiß ich. Und wir werden uns das nicht wegnehmen lassen, nicht von einem herabstürzenden Dachbalken und erst recht nicht von einem läufigen Köter, der seinen Trieb nicht im Griff hat. Ich verspreche dir, dass ich von nun an besser auf dich aufpasse", schwor er ihr eindringlich. "Vertrau mir!"
Der Steuermann schwieg und hielt seine Rúna fest umschlungen, als diese erneut zu schluchzen begann. Doch es war auch Erleichterung, die sie weinen ließ und irgendwann, nachdem sie ein wenig ihrer Last mit den Tränen verloren hatte, schlief die junge Frau erschöpft in den Armen ihres Gefährten ein. Thorstein aber, der erleichtert war, dass sie nun endlich ein wenig zur Ruhe fand, rührte sich nicht. Zufrieden, ihren warmen Körper lebendig an seiner Brust zu spüren und ihren Duft einatmen zu dürfen, genoss er einfach, bei ihr zu sein und sie halten und schützen zu können.
Ein paar Häuser weiter sprach man auch über das Schicksal Rúnas, doch waren die Stimmen hier weitaus weniger leise und beruhigend wie die Thorsteins. "Das alles hättest du ihr gut ersparen können", fauchte Lathgertha ihren Gefährten an, nicht wissend, wie recht sie damit hatte.
Auf der Suche nach Rúna war sie zuerst in deren verwaister Unterkunft gewesen und hatte dort auch einen Sack Rohwolle abstellen lassen, den die junge Frau für sie bearbeiten sollte. Es war besser, sie mit leichten Arbeiten zu beschäftigen, als zu riskieren, dass sie sich schon zu viel zumutete, hatten die Schildmaid und Jorunn zusammen beschlossen. Durch Rúnas Sorge um Thorstein und Solvig waren deren eigene Wunden in Vergessenheit geraten und die Völva hatte vorgestern unzufrieden festgestellt, dass die Narben weitaus mehr gerötet und erwärmt waren, als gedacht. Der jungen Frau selbst war es nicht einmal aufgefallen, dass es mit ihrem Rücken nicht wirklich zum besten stand. Offensichtlich hatte sie ihre Schmerzen gar nicht bewusst wahrgenommen.
Also mussten die beiden älteren Frauen dafür sorgen, dass sie sich schonte. Und mit einer Spindel in der Hand, würde sie sitzen müssen und die erwünschte Ruhe bekommen. Deshalb war die Schildmaid heute gekommen, um Rúna um eben diese Arbeit zu bitten.
Als Lathgertha jedoch weder Thorstein noch dessen Gefährtin zuhause angetroffen hatte, war sie ein wenig unruhig geworden. Wohin sollten die beiden verschwunden sein, zumal Thorstein noch schwer verletzt war und sie das Kind bei sich hatten? Die Schildmaid war zu Jorunns Haus weitergeeilt und als auch dort kein Mensch anzutreffen war, ging sie beunruhigt zurück in die Siedlung. Dann, als sie die Völva vor Rollos Haus mit ihrem Schwager sprechen sah, gesellte sie sich zu den beiden, um nach der verschollenen Rúna und dem Steuermann zu fragen.
Rollo wies mit der Hand zur Tür. "Sie sind bei mir", ließ er Lathgertha wissen. "Doch es wäre bestimmt gut, wenn die beiden noch ein wenig Zeit haben, um miteinander zu sprechen, bevor wir sie stören."
Die Schildmaid runzelte die Stirn und Jorunn entschloss sich, ihr alles zu erzählen. Lathgertha musste sie nichts vormachen. Und diese hatte in ihrem Leben genug gesehen, um Rúna nicht zu verdammen.
"Ich erkläre es ihr!", ließ sie Rollo wissen, der schon Luft für eine Antwort geholt hatte. Dankbar nickte der Krieger ihr zu. "Das ist gut. Ich wollte sowieso nach meinen Tieren sehen." Nach dieser vagen Aussage machte sich der Mann schnell davon und es war an der Völva zu erzählen, was Rúna in der Nacht zugestoßen war.
Dieser Bericht war es dann auch, der Lathgertha später dazu brachte, Ragnar gegenüber ein paar sehr offene Worte zu finden. "Das alles wäre gar nicht erst passiert, wenn du sie auf Thorsteins Bitte hin freigegeben hättest."
Der Jarl seufzte. Heute kam es knüppeldick von allen Seiten. Erst hatte Jorunn ihn wissen lassen, dass sie Rúna ab sofort ganz offiziell als ihre Schülerin ansah und sie unter ihren persönlichen Schutz stellte. Nun also auch noch Lathgertha!
Nicht genug damit, dass sie ihn von ihrem Lager verbannt hatte, nun musste er Lathgertha auch noch Rede und Antwort stehen und dabei höllisch aufpassen, dass er sich nicht verriet. So, wie die Schildmaid gerade in Rage war, konnte er sich gut vorstellen, was sie tun würde, sollte sie je erfahren … Doch das würde sie schon nicht!
"Ich habe es doch erklärt", versuchte der Jarl, seine wütende Gefährtin ein wenig zu beruhigen. "Ich kann nicht mal schnell jemanden freigeben ohne Grund."
"Ohne Grund? Ja?" Lathgertha war wirklich zornig auf die Sturheit ihres Gefährten. "Und die Freundschaft zu Thorstein war also nicht Grund genug für eine Ausnahme?"
Beide Fäuste in die Seiten gestemmt, baute sie sich vor Ragnar auf. "Waren dir dein Ruf und dein Einfluss in Straumfjorður also wichtiger als die Wünsche deines besten Freundes?" Sie fluchte halblaut. "Musste Rúna also von den Klippen springen, nur um dein Gesicht zu wahren?"
Lathgertha wandte sich zu ihrem Lager und ihrer kleinen Frauenecke im Haus um und begann entschlossen, in ihrer Truhe nach etwas zu suchen. Halblaut murmelte sie unzufrieden vor sich hin, bis sie endlich einen armlangen, schmalen Packen aus ihren Besitztümern hervorzog. Mit ihrem in Leder eingewickelten Übungsschwert im Arm kam sie dann an den Tisch und zu Ragnar zurück. "Wenn du also nichts für Rúna tun kannst, weil dir deine Ehre und dein Ansehen wichtiger sind als das Glück deines Freundes und das Befinden einer wirklich außergewöhnlichen Frau, dann werde ich selbst dafür sorgen, dass Rúna so etwas nie wieder passiert."
Ruhiger nun und fest entschlossen, sich gegen ihren Gefährten dieses Mal durchzusetzen, schlug Lathgertha die Lederschichten beiseite und begann, das eingefettete Schwert mit einem Lappen zu reinigen. Nach und nach bekam das matte Metall seinen alten Glanz zurück.
Ragnar, der ahnte, was seine Gefährtin vorhatte, schwieg. Die Dinge nahmen nun ihren Lauf, ohne, dass er sie noch großartig hätte beeinflussen können. Und der Anführerin der Schildmaiden das zu verbieten, was diese ganz offensichtlich vorhatte, kam auch nicht in Frage.
Lathgertha stand auf und wog das Schwert nachdenklich in ihrer Hand. "Selbst wenn sie nicht das Zeug zu einer Schildmaid hat, werde ich ihr so viel beibringen, dass sich kein Mann so schnell mehr traut, sie gegen ihren Willen zu belästigen."
Der Jarl schwieg lange. Zu eindrucksvoll war die Tatsache, dass alle, die mit ihm über Rúna gesprochen hatten, ihr offenbar zu Hilfe kommen wollten. War sein Bild von ihr wirklich so trübe, dass die anderen viel mehr in ihr sahen?
"Ich werde sie ja freigeben", versicherte er Lathgertha leise. Und obwohl sie etwas anderes verstehen musste, als er meinte, fügte er hinzu: "Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen."