Auch Rúna starrte ins Leere, als sie einen Abend vorher von Jorunn in ihrer Gästehütte gefunden wurde. Gerne wäre die Alte viel eher zu ihrer Schülerin gekommen, doch ihr Gespräch mit Ragnar hatte absoluten Vorrang gehabt. Nun aber, als sie die junge Frau apathisch am Boden hocken sah, in ihren Armen die schlafende Solvig, die sie hilflos hin und her wiegte, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch zuerst hierher hätte gehen sollen.
Tröstend hockte sie sich hinter die verzweifelte Rúna und streichelte ihr vorsichtig über den Rücken, fühlte das erschrockene Zusammenzucken der Frau bei ihrer Berührung und hörte das trockene Schluchzen, das sie nicht unterdrücken konnte.
Nachdenklich runzelte Jorunn die Stirn, nicht ganz sicher wissend, wie sie nun vorgehen sollte.
Doch wie immer, wenn sie an einem Weg zweifelte, zog sie es vor, direkt zu sein.
"Ich habe euch gehört, Rúna", ließ sie die Jüngere wissen. "Dich und Ragnar, heute Mittag auf dem Hafenweg. Du musst dich vor mir nicht mehr verstecken. Ich weiß es!"
Jorunn spürte, wie Rúna unter ihrer Hand erstarrte. Lange schwieg die junge Frau, zitternd und Solvig wiegend.
Dann holte sie mehrfach tief Luft und versuchte zu sprechen. "Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll ", flüsterte sie unter Schluchzern. "Warum quält er mich immer noch weiter? Er hat doch schon bekommen, was er wollte … warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich hätte ihn nicht verraten, niemals!"
Jorunn streichelte einfach immer weiter über Runas gebeugten Rücken, um die junge Frau ein wenig zu beruhigen und ihr zu zeigen, dass sie für sie da war. "Er wird dir nichts mehr tun", versicherte sie Rúna dann. "Wahrscheinlich wird er dir ab heute aus dem Weg gehen, als hättest du die Pest. Doch ich verstehe nicht, warum du uns nicht schon von Anfang an gesagt hast, dass es Ragnar war, der dich geschändet hat."
Rúna richtete sich ein wenig auf und wandte sich dann zu der Völva um. "Wenn ich es gesagt hätte … Was glaubst du, hätte Thorstein getan?" Erschöpft sah sie zu, wie in Jorunns Blick Verstehen aufglomm. "Wenn er sich mit Ragnar geschlagen hätte, als er noch so unter seiner Verletzung litt … der Jarl hätte ihn ohne Probleme umbringen können." Sie schluckte erneut. "Er hat es nicht verdient, seinen besten Freund so bloßgestellt zu sehen …" Müde fuhr sich Rúna über die vom Weinen geröteten Augen. "Wie es jetzt weitergehen soll, weiß ich auch nicht. Nun, da es schon so viele wissen, wird er es vermutlich über kurz oder lang auch erfahren."
Tröstend strich Jorunn der verzweifelten Frau eine Strähne aus dem Gesicht und wischte ein paar Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. "Er muss es erfahren, Rúna", stellte sie dann klar. "Er hat ein Recht darauf es zu wissen, wenn er einem falschen Freund vertraut." Sie machte eine kurze Pause, um das Gewicht ihrer folgenden Worte noch zu erhöhen. "Früher oder später wird er wahrscheinlich wieder mit Ragnar im Kampf stehen. Dann muss er wissen, wer der Mann ist, der seinen Rücken schützt und wie sehr er ihm vertrauen kann - oder eben auch nicht."
Sie nahm der jungen Frau das Mädchen aus den Armen, erhob sich und brachte die Kleine dann zu ihrer Wiege. Liebevoll legte sie Solvig auf den dicken, weichen Fellen ab, die Thorstein dort für den Säugling ausgebreitet hatte. Er und Rúna waren ein so schönes Paar … das würde sie von Ragnar, dem seine Macht offenbar zu Kopf gestiegen war, nicht zerstören lassen. Und er würde auch Rúna nicht länger kaputtmachen, dafür würde sie schon sorgen.
Entschieden winkte sie die junge Frau an den Tisch und bedeutete ihr, sich hinzusetzen. Dann nahm sie das kochende Wasser vom Feuer und goss es in ein großes Tongefäß, das neben der Herdstelle schon bereitstand. Sie fand Melissenblätter und Apfelschalen in Rúnas Vorräten und bereitete still den Tee vor. Dann kam sie mit Krug und Bechern an den Tisch zurück.
Schweigend sahen die beiden Frauen zu, wie das heiße Wasser Dampfschwaden in der Grubenhütte verbreitete und atmeten den aromatischen Duft des Aufgusses ein.
Erst, als das Getränk fertig war und jede von ihnen einen hieß dampfenden Becher vor sich stehen hatte, fuhr Jorunn fort. Und nun ließ sie Rúna alles wissen, angefangen bei der Vision, die sie am Tag von Rúnas erster Begegnung mit dem Jarl gehabt hatte bis hin zu dem Ritus, den die Götter Ragnar nun abverlangten.
Anders als von Jorunn erwartet, tröstete es die junge Frau nicht, dass Ragnar nun zur Verantwortung gezogen werden würde. Zwar verstand sie, dass die Völva nicht direkt sein Vergehen an ihr bestrafte, dennoch sah sie deutlich, welch mächtigen Feind Thorstein und sie durch diesen Ritus bekommen könnten. Doch nun, da die Götter durch Jorunn gesprochen hatten, war es nicht mehr zu ändern. Der Wunsch der Ewigen aus dem Mund einer Völva galt ebenso viel, als sei er in Stein gehauen.
Rúna stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und legte ihren Kopf in die erhobenen Hände. "Was also erwartest du nun von mir?"
"Ich möchte, dass Thorstein die Wahrheit von dir selber erfährt, am besten heute noch. Und ich möchte, dass du ihm genauso wie mir erklärst, warum du es vor ihm verschwiegen hast." Die Völva räusperte sich und trank dann einen letzten Schluck aus ihrem Becher. "Es wird ihm sicher nicht gefallen, doch am Ende wird Thorstein verstehen, dass du gar nicht anders handeln konntest." Vorsichtig strich sie der jungen, schweigenden Frau über die Haare. "Bring Solvig zu mir, wenn sie ausgeschlafen hat. Dann könnt ihr beide ganz ungestört miteinander reden. Bis morgen ist sie bei mir gut aufgehoben."
Und so kam es, dass Thorstein seine Rúna am späten Nachmittag ganz allein in ihrem Häuschen vorfand. Zusammengesunken hockte sie, dicht an die Wand gepresst, auf dem Lager und versteckte sich tief in den Falten einer Decke. Als er eintrat, zuckte sie sichtbar zusammen.
"Rúna!" Der Steuermann trat schnell an das Lager, erschrocken über das Bild, welches sich ihm beim Eintreten bot. "Was ist los? Ist es wieder die Erinnerung …?"
Schon zwei- oder dreimal hatte er Rúna in einer ähnlichen Verfassung gesehen, immer dann, wenn sie die Geschehnisse jener verfluchten Nacht einholten. Er hasste dieses Bild und er hasste ebenso den gesichtslosen Mann, der dafür verantwortlich war. Sicher hatte dieser längst vergessen, was er Rúna angetan hatte. Sie aber quälte sich weiter und weiter. Es war zum Aus-der Haut-fahren!
Mit Erstaunen sah Thorstein, dass Rúna ein wenig den Kopf schüttelte. Langsam ließ er sich neben ihr nieder, zog sie ein wenig an sich und wartete auf eine Erklärung.
"Jorunn war heute hier", begann sie zusammenhanglos. "Sie war hier. Und sie hat es gehört!" Mit einem Mal fing Rúna hilflos an zu weinen. Der Steuermann war vollkommen verwirrt. Was konnte so schrecklich sein, dass die Völva es nicht hätte mithören können?
Es war schlimm, dass sich Rúna so quälte, doch er wollte auch Klarheit. Das hier ging alles schon viel zu lang. Mehr als einmal war es ihm so vorgekommen, als habe sie ihm nicht alles erzählt. Damit war jetzt Schluss, nahm er sich vor. Also schob er sie entschlossen ein Stück von sich und sah seine Frau ernst an.
"Was hat die Völva gehört", fragte er streng. "Uns was ist es, was du mir noch verschweigst?"
Der Blick des Mannes war hart, als er Rúna traf. Thorsteins Geduld war längst erschöpft, das ahnte sie. Doch sie hatte keine Vorstellung, was er sagen oder tun würde, wenn sie ihm nun ihr Geheimnis anvertraute. Vielleicht war es ganz gut, dass Jorunn Solvig mit zu sich genommen hatte. Dann würde sie nicht sehen oder hören, was er ihr antun würde. Denn dass der Steuermann im Zorn zu schrecklichen Dingen fähig war, wusste sie aus eigener Erfahrung.
Rúna hatte Angst. Doch sie wusste auch, dass es keinen Weg mehr gab, die Wahrheit zu verschweigen. Es war ihre Entscheidung gewesen, Thorstein so lange wie möglich zu schützen. Nun musste sie mit den Folgen einfach leben. Wenn er sie nun in seinem Zorn schlagen wollte, würde sie das ertragen. Sie würde stark sein - stark für ihn, aber auch für sich.
Die junge Frau holte tief Luft und sah dann Thorstein in die Augen. "Der Mann, der mich geschändet hat, war heute bei mir", begann sie leise und spürte deutlich, wie Thorstein erstaunt tief einatmete. Doch er unterbrach sie nicht sofort und dafür war sie ihm richtig dankbar. Dass sie sich seinen Fragen später stellen musste, ahnte sie. Doch jetzt war es besser, sie dürfte erst einmal alles erzählen.
"Er hat mir gedroht", gab sie zu. "Ich solle weiter schweigen oder er würde mich nach Haithabu verschleppen …" Bei dem Gedanken an den kalten, herzlosen Sklavenmarkt der großen Stadt wurde es Thorstein schlecht. Nie und nimmer würde irgendwer seine Rúna dort zum Verkauf anbieten! Schon setzte er zu einer wilden Erwiderung an, als er plötzlich etwas verstand. Sie hatte dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Sie hatte ihn gesehen und sie musste nun wissen wer er war. Und er würde das auch bald …
"Wer war der Mann?" donnerte Thorstein lauter, als es nötig gewesen war. Rúna zuckte erneut zusammen, fuhr aber dann doch fort, ohne seine Frage jetzt schon zu beantworten. Bevor Thorstein in blinder Wut losrannte und Ragnar herausforderte, musste sie versuchen, ihm mit ihrem Wissen über den Ritus von einer voreiligen Tat abzuhalten. "Jorunn hat uns belauscht", ließ sie den Steuermann scheinbar unbeeindruckt von seinem Schrei wissen. "Sie kennt den Namen des Mannes jetzt und ich werde ihn auch dir nennen." Rúna sah Thorstein flehend ins Gesicht und ergriff eine seiner Hände. "Doch du musst mir versprechen, mich bis zum Ende anzuhören. Ich will nicht, dass du etwas Unüberlegtes tust."