Die Zeit vor dem Julfest floss träge dahin wie ein Fluss in einer weiten Ebene. Nach und nach deckte der Schnee auch noch die letzten Reste des großen Brandes zu und anstelle des Teergeruchs hing nun der Duft nach Holzfeuern über der Siedlung. Dick eingepackt gingen die Bewohner des Nordlandes ihren alltäglichen Beschäftigungen nach, unter ihnen auch Rúna und Thorstein. In ihrem Grubenhaus war es angenehm warm und so saßen sie ohne Pelze oder Decken ruhig vor sich hin arbeitend beieinander, während sie abwechselnd die kleine Solvig beobachteten, die auf dem Boden mit einer kleinen Rassel aus Muscheln spielte und dabei zufrieden vor sich hin brabbelte.
"Bald wird sie sprechen lernen", sinnierte Rúna leise. "Ich frage mich, wie du von ihr genannt werden willst." Lächelnd sah sie zu dem Mann an ihrer Seite, der konzentriert an einem riesigen Drachenkopf geschnitzt hatte, bis sie ihn ansprach.
Der überraschte Blick Thorsteins ließ sie leise lachen. "Er wirkt schon richtig lebendig", bemerkte sie mit einem hinweisenden Nicken auf seine Schnitzerei, die im kommenden Frühjahr vermutlich die Ragnarsúð schmücken würde.
"Doch wie ist es nun? Wie möchtest du von Solvig gerufen werden? Soll ich ihr valdr(1) beibringen oder lieber das einfachere herra(2) ?"
Rúnas Frage war freundlich gemeint, das hatte Thorstein schon begriffen. Und doch hatte sie ihn schon wieder auf ein noch ungeklärtes Problem seiner kleinen Familie gestoßen. Wollte er das Waisenmädchen wirklich an Kindesstatt annehmen? Oder sollte die Kleine als sein gut versorgtes Mündel aufwachsen, jedoch ohne die Möglichkeit, jemals mehr von ihm als eine pflichtschuldige Aussteuer zu bekommen, wenn sie denn später einen Mann fand? Der Steuermann grübelte schon eine ganze Weile über dem Thema und war sich noch immer unsicher. Wenn Rúna ihm eigenen Kinder schenkte - und das würde sie ganz bestimmt früher oder später tun - müssten diese dann ihren Stand und ein mögliches späteres Erbe mit dem kleinen Sklavenkind teilen und dabei konnte es schnell zu Streitigkeiten kommen. Und Solvig war nun mal nicht sein eigen Fleisch und Blut. Trotzdem aber liebte er das kleine Wesen jetzt schon mit großer Heftigkeit. Konnte er da wirklich einen Unterschied zu seinen zukünftigen Kindern machen? Thorstein war sich nicht sicher.
"Wie wirst du dich denn von ihr nennen lassen?", fragte er leise nach.
Rúna sah liebevoll zu ihrer kleinen Solvig und dann zurück zu ihrem Gefährten. In manchen Dingen war er doch sehr unsicher. So, wie gerade eben auch. Sie hatte deutlich sehen können, wie er seine Gedanken hin und her gewälzt hatte und doch zu keinem Schluss gekommen war. Nun also sollte sie ihm helfen, eine Antwort zu finden. Wie schön!
"Ich denke", gab sie lächelnd zu, "Dass jedes Kind eine Mutter braucht, ganz egal, ob diese sie nun geboren hat oder nicht. Es wird einfach leichter für Solvig sein, wenn sie wie ein ganz normales kleines Mädchen aufwächst, ohne jeden Tag darauf hingewiesen zu werden, dass sie nicht von Anfang an bei uns war. Also werde ich für sie ihre eiða(3) sein. So, wie es sich gehört."
Thorstein seufzte. Aus ihrer Sicht hatte Rúna natürlich recht. Doch auch seine Gedanken waren nicht aus der Luft gegriffen. Sie mussten in Ruhe darüber sprechen, denn es ging nicht nur um einen Namen, den sie sich gaben oder auch nicht. Es ging darum, Solvig einen Stand innerhalb ihrer zukünftigen Familie zuzuweisen. Und Thorstein war sich nicht sicher, ob Rúna überhaupt eine ungefähre Vorstellung davon hatte, wer er eigentlich war und was seine Position auch für ihre zukünftigen Kinder bedeutete.
Doch er kam nicht mehr dazu, diese Gedanken mit seiner Gefährtin zu teilen. Vor der Tür ließ sich ein lautes Trampeln vernehmen, als jemand seine Stiefel vom Schnee frei trat und dann klopfte eine harte Faust an die Tür. Erstaunt sahen sich Rúna und Thorstein an. Sie erwarteten an diesem schneereichen, windigen Abend niemanden.
Ergeben zog sich die junge Frau ihr Umschlagtuch enger um die Schultern und schob das Schiffchen zurück in die Kettfäden ihres Webstuhls. Thorstein band sich den Gürtel seiner Kyrtel enger und strich ein paar Schnitzspäne von seinem Schoß. Dann erhob er sich und ging zur Tür.
Gespannt wartete Rúna, wer seinem erstaunten "Træder ind !(4)" folgen würde. Doch bevor der unerwartete Gast eintrat, wechselten die Männer einen Schwall halblauter Worte. An der angespannten Stimme ihres Gefährten konnte sie bereits erkennen, dass sie keinen einfachen Freundschaftsbesuch zu erwarten hatte. Dennoch wich sie unwillkürlich zurück, als hinter dem Krieger Rollo, den sie inzwischen recht gut kannte und ein wenig schätzte, auch dessen Bruder eintrat - Ragnar. Was, bei den Fäden der Nornen, hatte gerade dieser Mann in ihrem Haus verloren?
Die Brüder hatten sich vor der Grubenhütte den Schnee und von den Schuhen und aus den Fellen geklopft. Nachdem der jüngere Bruder des Jarl seine Botschaft als Vermittler zwischen dem Paar und Ragnar angebracht hatte, machte er schnell ein paar Schrite in den warmen Raum hinein und überließ es Thorstein zu entscheiden, ob er auch dem Jarl Eintritt gewährte. Immerhin waren die beiden Männer über lange Jahre hinweg Freunde gewesen. Das, was nun zwischen ihnen stand, konnte er keinem von beiden abnehmen.
Als Ragnar gestern zu ihm gekommen war und seine Vermittlung erbeten hatte, wäre Rollo gern ablehnend geblieben. Doch es gab - und das hatte der Jarl ihn dieses Mal ohne große Schnörkel wissen lassen - gewichtige Gründe, Thorstein in seiner verdienten Ruhe zu stören. Und auch er, Rollo, Sigruds Sohn, musste seinem älteren Bruder zustimmen, dass sie den Steuermann brauchen würden, sollte sich die Bedrohung, von der sie Kunde erhalten hatten, als wahr herausstellen.
Was für ein Unglück, dass auch noch Lathgertha, die Anführerin der Schildmaiden, zu einer Zeit abwesend war, in der man ihren klaren Verstand und ihre starke Schwerthand so gut hätte gebrauchen können. Doch diesen Platz musste nun Thorstein einnehmen und Rollo hoffte, dass der Steuermann zugunsten der Siedlung über seine sicher heftige Abneigung gegenüber Ragnar hinwegsehen konnte.
Dieser, so stellte der Krieger mit einem versteckten Grinsen fest, stand noch immer unschlüssig an der inzwischen geschlossenen Tür des Grubenhäuschens, nervös an einem Zipfel des Fells drehend, dass er zusammengelegt über dem Arm trug. Er hielt den Blick gesenkt. Auch ihm war dieser Besuch sicher peinlich.
Im Gegensatz dazu starrte ihm Rúna ganz unverhohlen auf seine Hände und der angewiderte Zug um ihre fest aufeinandergepressten Lippen war nicht zu übersehen.
"Wir sind hier, Rúna, weil wir in einer unheilbringenden Zeit den Rat und die Hilfe Thorsteins brauchen", ließ Rollo sie leise wissen. "Ragnar hat mich gebeten, ihn zu begleiten - als Fürsprecher, aber auch, damit du dir sicher sein kannst, dass dir zu keiner Zeit von ihm Gefahr droht. Er wäre gar nicht gekommen, wenn dieses Gespräch weniger wichtig gewesen wäre. Das Schicksal von ganz Straumfjorður steht vielleicht auf dem Spiel. Bitte lass deshalb alles, was zwischen euch steht, für diesen Abend ruhen."
Ragnar verspürte eine leichte Übelkeit, die schon begonnen hatte, als er sich die Stiefel an die Füße ziehen musste. Dass er heute gerade hierher kommen sollte, war wirklich ein unvergleichlicher Scherz der Götter! Sicher würde Rúna einen Dreck auf die begütigenden Worte Rollos geben. Und wenn sie ihn in ihrem Haus nicht duldete, würde er schneller von Thorstein wieder hinausbefördert sein, als er "Lort!(5)" sagen konnte.
Deshalb war er mehr als nur überrascht, als Rúnas Stimme leise eine ganz andere Antwort auf Rollos Rede gab als erwartet.
"Ihr solltet euch vielleicht erst einmal hinsetzen", ließ sie die Krieger leise wissen. Und obwohl auch Thorstein nicht so recht wusste, was er mit den beiden ungebetenen Gästen anfangen sollte, nahm er diesen Vorschlag auf und wies einladend zum Tisch. "Rúna hat Recht", stimmte er seiner Gefährtin zu. "Setzt euch!"
Sie taten, was gesagt worden war und als die drei Männer rund um den groben Eichentisch Platz genommen hatten, trug Rúna jedem von ihnen einen Becher heißen Tee auf. Der Duft der Melisse legte sich wohltuend über die angespannte Stille und während die Männer vorsichtig tranken, musterte Thorstein Ragnar abschätzend. Der Jarl sollte bloß nicht denken, dass ein warmer Umtrunk seinen Zorn auf ihn bereinigte. Doch dieser war von der höflichen Aufnahme, die er bekam, verwirrt genug, dass er sich keinen Fehler leisten wollte und stumm blieb.
Also erzählte Rollo. "Es ist jetzt vier Tage her, dass uns eine Nachricht von Lathgerthas Bruder erreichte", ließ er Thorstein wissen. "Gunnar erhielt Besuch von einem entlaufenen Knecht aus Moseby(6) , der sich bei ihm über den Winter verdingen wollte. Der Mann berichtete dann auf Gunnars Drängen hin, dass sich Arngrims Siedlung ebenfalls für die Leidang rüstete. Lathgertha aber fiel auf, wie der Knecht bei seiner Rede herumdruckste und ihr nicht in die Augen sehen konnte."
Rollo unterbrach sich selbst und blickte Thorstein drängend an. "Sie war in solchen Sachen schon immer gut, nicht wahr?" Der so Angesprochenen nickte.
"Und auch den Mann aus Moseby muss sie ordentlich in die Zange genommen haben. Jedenfalls hat er ihr irgendwann gestanden, dass Arngrim wohl nicht nur gegen Harald Klack rüstet, sondern außerdem eine Gruppe starker Krieger beiseite genommen hat, die im kommenden Sommer, wenn kaum noch Männer im Land sein werden, den Besitz Arngrims ein wenig vergrößern sollen."
Während Rúna nun entsetzt ebenfalls bei den Männer Platz nahm und Thorstein schützend einen Arm um sie legte, kam Leben in den bisher stillen Jarl. "Lathgertha hat ausrichten lassen, dass dieser Überläufer behauptet, dass sie vor allem bei uns plündern wollen, auch wenn Skov (7) wesentlich näher für sie läge. Wortwörtlich hat Arngrim wohl gesagt, er nähme immer lieber den fetten Eber, bevor er die Frischlinge jagte." Ragnar fluchte. "Und wenn wir wie die Schafe hinter Horik als Schäfer hertrotteten, seien wir selbst schuld, sollten unsere Weidegründe bei unserer Heimkehr abgefressen sein."
Wieder etwas ruhiger legte Ragnar beide Hände mit den Handflächen nach oben auf den Tisch. "Wenn dieser Mann uns nicht anlügt", fuhr er gefasster und leiser fort, "ist Arngrim für Straumfjorður eine ernstzunehmende Bedrohung. Was aber an dem Gerücht dran ist, kann ich heute noch nicht sagen."
Der Jarl sah auf und musterte alle, die mit ihm um den Tisch versammelt waren. Dabei entging Rúna nicht, wie müde und erschöpft der Mann aussah. Die tiefen Augenringe sprachen eine deutliche Sprache und die Falten seiner Stirn schienen tiefer geworden zu sein. Auch, wenn sie dem Krieger zu Recht misstraute, musste sie anerkennen, dass er gerade eine schwere Verantwortung trug und dass er bereit war, für seine Siedlung über seinen eigenen Schatten zu springen. Denn leicht war es ihm nicht gefallen, heute hierher zu kommen. Schweigend folgte sie den weiteren Ausführungen des Jarl.
"Ich kann aber auch nicht mit Horik gen Süden segeln, wenn ich befürchten muss, dass ich hier nur noch verbrannte Ruinen bei meiner Rückkehr vorfinde und Arngrim statt meiner an der Tafel des Jarl sitzt." Ragnar wandte sich nun direkt an Thorstein. "Mir ist klar, dass ich der Letzte bin, dem du momentan einen Gefallen tun würdest. Dennoch, Thorstein! Ich muss dich bitten, an meiner Statt die Verteidigung für Straumfjorður zu übernehmen."
Der Blick des Jarl wanderte über das Gesicht des Steuermanns weiter zu dem seines Bruders. "Rollo wird dir dabei zur Seite stehen", fuhr er fort. "Rollo und die Männer, die ich, ohne Horik zu beleidigen, von der Leidang ebenfalls ausnehmen kann."
Ragnar verstummte. Auch Thorstein schwieg und Rollo seufzte schwer. "Viele werden das nicht sein", stellte er fest. "Aodh, Gylfe, vielleicht noch ein paar Knechte und eine Handvoll Sklaven, denen du für ihre Kampfbereitschaft Freiheit und Felder in Aussicht stellen kannst. Doch ob die gegen Arngrims Männer ausreichen werden, weiß Thor alleine."
"Was ist mit den Schildmaiden?", forschte Rúna leise nach und sah sich bereits selber, wie sie ihr Schwert erhob. Für Solvig würde sie gegen jeden Feind kämpfen!
Ragnar zuckte ratlos mit den Schultern. "Gertha ist nicht da. Ich konnte sie also nicht fragen. Und selbst wenn sie wiederkommt … Sie habe ich genauso wie dich verletzt. Schon möglich, dass sie deshalb auch Straumfjorður den Rücken zukehrt. Ich könnte es ihr nicht einmal verübeln."
Nun sah der Jarl Rúna offen an und diese erkannte mit Staunen den Schmerz in dessen Augen. "Jorunn hat mir befohlen, mich bei dir für mein Vergehen zu entschuldigen, Rúna", gab er zu. "Doch auch, wenn es nicht meine Pflicht wäre … Es tut mir leid, was geschehen ist. Das musst du mir glauben!" Wieder schwieg der Krieger einen Moment lang. "Vielleicht verschafft es dir Genugtuung … ich weiß es auch nicht … Doch die Götter haben mich für meine Tat gründlich gestraft: Meine Frau ist gegangen und sie hat meinen Sohn mitgenommen. Mein Bruder und mein ehemals bester Freund haben sich von mir abgewendet und nun droht mein Nachbar, das Wichtigste in meinem Leben - Straumfjorður - auch noch zu zerstören. Bei Thor. Ich habe das Gefühl, ich sei von allen Nornen verflucht und von den Asen verlassen."
Erschöpft legte der Jarl seinen Kopf auf der Tischplatte ab und über seinen Rücken hinweg sahen sich sein Bruder, Thorstein und Rúna ratlos an.
(1) valdr - altnordisch, Gebieter
(2) herra - altnordisch, Herr
(3) eiða - altnordisch, Mutter
(4) Træder ind! dänisch - Tritt ein!
(5) Lort! dänisch "Scheiße!" Raue Männer benutzen raue Flüche …
(6) mose - dänisch Sumpf, Marsch Moor; by - Dorf
(7) Skov - dänisch Wald